Eine Anzeige in der Zeitung – Günter Görlich

  • Erstmals erschienen 1978


    Besagte Anzeige ist eine Todesanzeige. Der Ich-Erzähler der Romans stößt zufällig auf sie, gegen Ende seines Urlaubs am Schwarzen Meer, als er ein paar deutsche Zeitungen kauft, um sich nach drei seligen freien Wochen wieder auf den heimischen Alltag vorzubreiten. Die Anzeige ist kurz gefaßt, ein Oberlehrer, fünfunddreißig Jahre alt, ist gestorben. Die Beisetzung hat bereits stattgefunden.
    Der Tote war ein Kollege des Erzählers, knapp zwei Jahre unterrichteten sie an derselben Schule. Die Nachricht ist ein Schock. Was liegt näher, als an einen Unfall zu denken.
    Der Schock wird noch größer, weil sich zuhause herausstellt, daß der Kollege sich das Leben genommen hat. Die Sache wird nicht einfacher, als der Schulleiter beschließt, das Ganze abgesehen von einer kurzen Verlautbarung zu Beginn des neuen Schuljahrs unerwähnt zu lassen.
    Der Ich-Erzähler, stellvertretender Direktor und Freund des Schulleiters, will das nicht auf sich beruhen lassen. Das umso weniger, als er den toten Lehrer gut gekannt hat. Die Suche nach ‚der Wahrheit’ wird immer mehr zu einer Suche nach der Schuld und damit den Schuldigen an dem Geschehenen.


    Gegliedert ist der Roman in drei Teile. Im ersten berichtet der Ich-Erzähler, Herbert Kähne, rückblickend, was sich seit der Ankunft des neuen Lehrers ereignet hat. Der Neue war jung, er trat anders auf, angefangen von der Kleidung bis hin zu seiner Art zu unterrichten. Der Konflikt zwischen den Generationen trat sehr rasch zutage. Görlich liefert hier eine sehr genaue und detaillierte Beschreibung der ersten Generation der DDR, derjenigen, die den Staat aufbauten, die Ziele definierten und sich bemühten, ihr Ideal umzusetzen. Beharrlichkeit und Blindheit, Idealismus und äußerst komplizierte praktische Bewältigung der Aufgabe, etwas Neues zu schaffen, improvisieren, ohne das Ziel aus den Augen zu lassen, sich selbst zurückstellen bis an den Rand der Selbstaufgabe prägte sie und machte viele, dafür steht der Schulleiter, unflexibel und immer ängstlicher, das Erreichte wieder zu verlieren. Die Kosten waren hoch für diese Generation, was sie erreicht hatte zu wertvoll, jede Änderung, jeder auch nur leichte frische Wind eine zu große Gefahr.


    Die nächste Generation war deutlich sicherer aufgewachsen, ohne die Anfangsschwierigkeiten durchgemacht zu haben. Sie teilten die Überzeugung de Älteren, sahen aber auch die Nowtwendigkeit zu Ergänzung, Erweiterung bis hin zum völlig Neufassen. Die stete Angst der Älteren zu verstehen war schwer, sie als Hinderungsgrund zu akzeptieren unerträglich. Dazwischen steht jemand wie Kähne, Vertreter der ersten Generation, der neugierig ist auf Neues, sogar die Notwendigkeit einsieht, es sich aber im Bestehenden gut eingerichtet hat und wenig Lust verspürt, es sich unbequem zu machen.


    Görlichs Roman ist ein stilles Buch, die Dramatik ergibt sich aus der inneren Spannung, die aus den Begegnungen der drei Charaktere erwächst. Sie kreisen umeinander, belauern sich, weisen zurück, locken, schließen sich ab. Persönliche Eitelkeiten, echte Freundlichkeit, Leistungsbereitschaft, Mut und Feigheit zeigen sich bei jedem von ihnen. Die besten Absichten und die größten Fehler liegen dicht beieinander, oft kommt es nur auf den Blickwinkel an, unter denen man sie betrachtet.


    Im zweiten Teil geht es um die Ereignisse an der Schule nach dem Tod des Lehrers. Die Schuldfrage tritt in den Vordergrund. Auch hier ist die Generationenfrage nicht ausgeklammert, neben der ersten und zweiten tritt eine dritte in den Vordergrund, in Gestalt einer jungen Lehrerin, Mitte zwanzig, in die der tote Kollege verliebt war. Überraschend ist, wie fremd nun wiederum eine Vertreterin dieser Generation erscheint. Seltsam ahnungslos, was die Probleme der Aufbaujahre angeht, bemüht sie sich, alles intellektuell zu erfassen. Klarheit als Allheilmittel, als ob man Widersprüche lösen könnte, wenn man sie von allen Seiten nur ausführlich betrachtet hat. Das ist interessant geschildert, trotzdem scheitert der Autor an dieser Figur am ehesten, vielleicht, weil sie zu jung ist, vielleicht, weil sie eine Frau ist. Männerfiguren gelingen ihm deutlich besser.


    Ein wenig mehr erschließt sich die Figur der jungen Lehrerin im dritten Teil, in denen der Tote selbst berichtet. Kähne liest Briefe, die er der jungen Lehrerin in den Sommerwochen vor seinem Tod geschrieben hat. Dieser neue Blick auf die Geschehnisse der letzten zwei Jahre komplettiert das Bild. Für die Leserin sind sie wichtig zum Abwägen. Es geht Görlich nicht um die ‚richtige‘ Lösung, es gibt keine. Der Tote war schwerkrank, er stand vor einer Operartion, es war klar, daß er sein Leben danach nicht in seinem geliebten Beruf würde weiterführen können. Welches der vielen Probleme zu seiner Entscheidung führte, was es für ihn und für seine Stellung als Pädagoge wie als Mensch bedeutet, muß die Leserin entscheiden.
    Das alles ist sehr dicht geschrieben, die moralischen Fragen werden scharf gestellt und mit oft unangenehmer Offenheit diskutiert. Die Schlußworte sind ein wenig pathetisch geraten, aber wir nehmen Kähne zumindest seinen guten Willen ab.


    Diesen Roman kann man unter mehreren Blickwinkeln mit hohem Gewinn lesen. Da ist einmal ein Einblick in die DDR der späten 1970er Jahre noch dazu in das heikle Feld der Pädagogik, in den herrschenden Generationenkonflikt und den Alltag, reguliert und zugleich stets im Fluß, und zwar ein Einblick von innen, wie er heute nicht mehr möglich ist.
    Zum anderen werden viele Grundfragen der Pädagogik diskutiert, die Zusammenhänge zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, Verantwortung, Freizügigkeit, Regulierung, aber auch Themen wie das eigene Selbstverständnis und die Bequemlichkeit, die mit den Jahren kommt, und wann sie zu Verantwortungslosigkeit wird.
    Zum dritten kann man hier gut die Frage studieren, die heutzutage gerade von Laien gern gestellt wird, nämlich, inwieweit das, was ein Autor schreibt, autobiografisch ist. Görlich hatte eine beispielhafte politische Karriere, fiel zudem unangenehm durch Mitarbeit beim Staatssicherheitsdienst auf und äußert doch in diesem Buch geradezu revolutionäre Ansichten (nicht nur für die DDR, nota bene.). Er war auch Erzieher, schrieb außer Romanen Kinder – und Jugendbücher. Der Schriftsteller ist auf dem Papier immer der bessere Mensch, wäre die Antwort, und trägt damit dazu bei, daß andere das, was er selbst nicht recht schafft, bewirken können.


    Das wiederum gehört als Erkenntnis zu diesem beeindruckenden Roman. Falsch und richtig liegen nah beieinander, sind zuweilen kaum von einander zu unterscheiden. Es gibt kein Rezept gegen alle Übel, die Wahrheit hat niemand gepachtet und der Weg in die Zukunft ist und bleibt ein Stolperpfad im Dämmerlicht.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Danke magali für diese schöne Rezi. Ich habe das Buch mit 15/16 Jahren gelesen und weiß noch, wie sehr mich diese differenzierte Darstellung des Staates, in dem ich aufwuchs, beeindruckt hat.
    Heute sehe ich das Buch natürlich noch kritischer, auch , was Günter Görlichs Rolle in der DDR angeht. Trotzdem würde auch ich das Buch nach wie vor als lesenswert einstufen.

  • Ich fand es toll. Man bekommt Einblicke, wie man sie aus Büchern, die nach 1990 geschrieben werden, einfach nicht bekommt.


    Ich lese mich so langsam durch die Stapel.
    :lache




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus