Die Illusion des Getrenntseins - Simon van Booy

  • Klappentext:
    Eine kleine Bäckerei in Paris, mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Ein Soldat, dem in einem Akt der Güte das Leben geschenkt wird und der damit das Richtige tut. Eine mutige junge Frau, die offene Arme hat für ein Neugeborenes ohne Name. Und ein Autor, der die Geschichte dieser Menschen in einer wunderbar zarten, eleganten Prosa erzählt – und dabei die unglaubliche Wucht menschlichen Schicksals entfaltet.


    Über den Autor:
    Simon van Booy, geboren und aufgewachsen in Wales, lebt mit Frau und Tochter in Brooklyn. Er veröffentlichte neben mehreren Erzählungsbänden und Roman auch drei Philosophiebucher und schreibt u.a. für die New York Times, den Guardian und die BBC. Sein Werk wurde in vierzehn Sprachen übersetzt.


    Meine Meinung:
    „Die Illusion des Getrenntseins“ ist eine kunstvoll und meisterhaft erzählte Geschichte, die sich nicht nur über Generationen hinzieht. Sie verknüpft die verschiedensten Figuren miteinander, die auf dem ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Van Booy nimmt seinen Leser mit auf diese Entdeckungsreise quer durch die Welt, quer durch die Generationen und quer durch die Zeit. Kleine Gegenstände sind der Auslöser für den Wechsel. Sie verbinden die einzelnen Abschnitte miteinander, die in ihrer Geschichte erst am Ende wie ein Puzzle ineinandergreifen und zu der Lösung des Rätsels um Martins Herkunft beitragen. Doch solange muss der Leser sich noch gedulden. Aber ihn wird keine Ungeduld plagen. Die Geschichten der einzelnen Figuren sind mit wenigen Worten voller Inhalt. Sie spiegeln den Charakter der Figuren wieder und lassen den Leser in ihre Welt eintauchen. Dieses erreicht van Booy durch seine gut ausgewählten Worte und Vergleiche. „Sie kam aus Nigeria und sprach ein sanftes Englisch, reichte einem die Worte, statt sie zu werfen.“ Mit solchen Bildern zieht der Autor den Leser in die einzelnen Szenen und Geschichten und webt sie kunstvoll und gekonnt ineinander.
    Zusätzlich zu dieser Ebene, die die Geschichte der Figuren behandelt, gibt es noch eine weitere Ebene. Diese ist philosophisch angehaucht und wird im Titel des Romans erkennbar. „Die Illusion des Getrenntseins“ geht auf das Gefühl der Menschen ein, dass sie alleine auf der Welt sind. Ein Gefühl, dass sich vor allem bei Singles in Großstädten schnell einstellen kann, aber auch bei jedem anderen. Jedoch ist niemand vollständig getrennt von den Menschen, die einen umgeben, so van Booy. Es gibt überall Berührungspunkte, man muss sie nur sehen. Der Blick ist einfach nicht dafür geschärft, aber diese Überlegung ist es wert, dass über sie nachgedacht wird.
    Die letzte Ebene ist die geschichtliche. Der Roman nimmt für sich nicht in Anspruch ein historischer Roman zu sein und doch gibt es einen wahren Kern. Eine Geschichte, die auf wahren Geschehnissen beruht. Aber um den Wahrheitsgehalt geht es hier auch nicht. Alleine die Reise des Lesers mit einem Soldaten im zweiten Weltkrieg und den Leiden eines Kriegsveterans, ebenso wie den Hinterbliebenen und zu einem kleinen Teil auch denen, die mitten drin sind und nur um ihr Überleben in Kriegszeiten kämpfen, ist authentisch dargestellt. Diese Darstellungen wirken sensibilisierend auf den Leser, in Bezug auf Einzelschicksale im Krieg und dessen Auswirkungen. Manchmal reicht schon das Lächeln eines Jungen, diese Schrecken weniger schlimm erscheinen zu lassen. Denn das Menschliche im Menschen stirbt zuletzt. Es muss nur Gelegenheit haben, sich zu äußern.


    Fazit:
    Ein faszinierender Roman, reich an Sprache, Geschichte und Gefühl. Kunstvoll erzählt van Booy von dem Rätsel um Martins Herkunft und webt ein Gefüge von Einzelschicksalen, die am Ende erst ein Ganzes ergeben. Dazu nimmt van Booy seinen Leser auf eine Reise mit, die gespickt ist mit Einzelschicksalen und eigenen Wahrheiten, die ihn zum nachdenken anregen. Eine eindeutige Leseempfehlung!

    "Schweigen bedeutet für einen großen Teil der Menschheit Gewinn."Borondria, Großmeisterin der Golgariten


    Mein Blog: Büchervogel

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  • Das Buch ist eine Hommage auf den Holismus. Über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren sind ein paar Schicksale miteinander verwoben, die ihren Ausgangspunkt in Frankreich während des 2. WK haben. Der Leser rätselt, wie alles zusammengehört, was die nötige Spannung aufrechterhält, und am Ende wird ein Puzzle deutlich, das man sich zwar nicht genau so, doch irgendwie so ähnlich vorgestellt hat. Obwohl in der Kürze meist Würze steckt, ist der Stil manchmal doch zu knapp, die Sätze geraten zuweilen ein wenig abgehackt - auf der anderen Seite sind Wahnsinnssätze dabei:


    Verlangen wird besänftigt durch die Erinnerung an die Befriedigung" (S. 21 unten). Oder: „Unsere Leben sind verschieden, … aber am Ende fühlen wir alle das Gleiche und bereuen die Angst, von der wir dachten, dass sie uns stützt" (Seite 24 oben).


    Meine Erkenntnis: Wir sind viel stärker mit anderen Menschen verbunden als wir glauben und jedes Einzelschicksal, so unbedeutend es auch erscheinen mag, hat eine wesentliche Auswirkung auf andere Schicksale. Das Buch lässt sich gut in einem Rutsch lesen und ich empfehle es ganz besonders den an Philosophie Interessierten, denn die Liebe zu Weisheit steckt in jedem 2. Satz und lässt sich kaum überlesen.

  • Was der Klappentext verrät:


    Als Martin schon fast alt genug für die Schule ist, erzählen ihm seine Eltern, dass ihnen vor einigen Jahren, mitten in den Kriegswirren, ein Fremder ein Baby auf den Arm gedrückt hat: ihn selbst. Er braucht Jahre, um seine Herkunft zu begreifen – und er braucht sein ganzes Leben, um dem Mann zu begegnen, der ihn einst gerettet hat. Und auch dann weiß er nicht, wer da vor ihm steht.


    Was ich verrate:


    Getragen wird die Geschichte von dem Gedanken, dass all unsere Leben auf irgendeine Weise miteinander verwoben sind.


    „Wo wir auch hingehen, wir hinterlassen immer etwas von uns, ob wir es merken oder nicht.“


    Oft wissen wir nichts davon, können es gar nicht wissen – und doch gibt es Fäden, die uns über Generationen und Kontinente hinweg verbinden und beeinflussen.


    “… und er hat auch schon früh erkannt, dass das, was die Menschen für ihr Leben halten, in Wirklichkeit nur dessen Umstände sind. Die Wahrheit ist näher als das Denken und liegt in dem verborgen, was wir bereits wissen.“


    Wer jetzt denkt, er würde einen Roman lesen können, in dem die Suche eines Mannes zu seinen Wurzeln geschildert wird, in Rückblenden erzählt und mit einem sich wunderbar einfügenden Ende – der hat sich wirklich vorbildlich vom Klappentext blenden lassen, so wie ich zugegebenermaßen auch.


    Ja, es wird in Rückblenden erzählt. Aber Simon van Booy nimmt den Leser nicht an die Hand, um ihm die Chronologie eines Lebens in verschiedenen Stationen mit seinen möglichen Verstrickungen vorzuführen.


    Nein, er verknüpft Fragmente verschiedener Leben in verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Perspektiven; man wird förmlich durch diese Leben und Zeiten und Perspektiven gewirbelt, dass einem Hören und Sehen vergehen kann – und das nicht zuletzt wegen der unglaublich ausdruckstarken Sprache. Simon van Booy beschwört in kurzen Sätzen (die ein paar Mal etwas zu kurz ausgefallen sind) und unter Verzicht auf schmückendes Wortbeiwerk so intensive Szenen herauf, dass ich mehr als einmal die Luft beim Lesen angehalten habe.


    “Ich versuchte dem Jungen zu vermitteln, dass sich das Leben der Menschen oft durch geschwungene Linien verändert, die langsam von Papier, Sand oder Stein gelesen werden.”


    Wer sich durch solche geschwungenen Linien eine Geschichte voll beißender Intensität in Herz gravieren lassen möchte; wer sich in schmerzlich schönen Bildern absolute Grausamkeit, die pure Liebe und das grenzenlose Vertrauen in die Menschlichkeit zeigen lassen will – der sollte und darf sich dieses Buch nicht entgehen lassen.


    “Unsere Liebe zu dir”, sagte sie, “wird immer größer sein als irgendeine Wahrheit.”

    :lesend Die Sonnenposition - Marion Poschmann


    "Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen; Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden." (Goethe)