Beiträge von incomperta

    Zur Autorin:


    Raija Siekkinen, geboren 1953 in Kotka, gehört zu den am meisten geschätzten finnischen Autorinnen. Sie veröffentlichte neun Kurzgeschichtenbände und mehrere Romane. Mit ihrem 1991 erschienenen Band "Wie Liebe entsteht" wurde sie für den Finlandia-Preis nominiert. Raija Siekkinen verstarb 2004 nachts im Schlaf bei einem Brand ihres Hauses. Da Finnland in diesem Jahr Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse ist, erscheint diese moderne Klassikerin erstmals auf Deutsch.


    Zum Buch:


    Frauen stehen im Mittelpunkt dieser zehn Erzählungen. Jede befindet sich in ihrem Leben an einem Scheideweg. Eine Kleinigkeit löst eine Gedankenkette aus, an deren Ende ein Neuanfang steht, eine banale Autofahrt wird zu einer Reise in ein neues Lebenskapitel. In der Titelerzählung »Wie Liebe entsteht« kämpft eine Frau mit den Folgen der Affäre ihres Mannes. In weiteren Geschichten müssen Frauen mit einer versuchten Vergewaltigung oder dem plötzlichen Tod ihres Mannes durch Herzversagen zurecht kommen.


    Meine Rezension:


    "Wie Liebe entsteht" ist das zweite Buch aus meiner Liste, um mir Finnland zu erlesen. Wieder von einer in Finnland sehr erfolgreichen Autorin, wieder ein Buch in erstmals deutscher Übersetzung.


    Wer kennt sie nicht – diese eigenartigen Momente, in denen die Zeit verrinnt und gleichzeitig still steht; in denen der Nebel des Vergangenen sich kurz hebt und man gleichzeitig einen Blick auf das in Zukunft Mögliche hat; dieser Moment, in dem alles um einen herum eine ungewöhnliche Schärfe und bisher unbekannte Bedeutung bekommt.


    Zitat

    ”Unterhalb der Ereignisse verlief noch ein tieferer Strom des Geschehens, dunkel und unberechenbar im Verlauf. Dort reiften Entscheidungen, langsam und ohne dass man es merkte, während oben das Leben weiterging und unbedeutende Kleinigkeiten sich addierten, bis man eines Morgens, ohne zu begreifen warum, aufwachte und etwas wusste.” (S. 131)


    Von diesen Momenten handelt „Wie Liebe entsteht“ und zehn Kurzgeschichten lang lässt Raija Siekkinen uns teilhaben, wie jeweils eine andere Frau diesen Augenblick erlebt.


    Ihre Geschichten beginnen meist unverfänglich – überhaupt reiht Raija Siekkinen federleicht formulierte Sätze aneinander, fädelt sie wie Perle an Perle auf eine Schnur, und doch trägt jede von ihnen einen harten, schweren Kern in sich.


    Zitat

    “Sie lernte, dass alle gesagten Wörter mit der Zeit ausblichen, herabfielen wie erloschene Sterne, manchmal als Echo zu hören waren vom Grund einer Kluft, entfernt und verzerrt, still geworden.” (S. 110)


    Ich habe mich öfter gefragt, wie man diese komplexen, kraftvollen und teilweise so schwermütigen, wahrhaftigen Gedanken in so leichtfüßig daherkommende Sätze packen kann.


    So unvermittelt der Einstieg in die einzelnen Kapitel ist,


    Zitat

    “Das Leben, so voll von kleinen Anfängen und Enden, und größeren Anfängen und Enden. Manchmal war es unmöglich zu sagen, welcher Anfang zu welchem Ende gehörte.” (S. 81)


    … so plötzlich enden sie auch.


    Das hat mich beim ersten Kapitel irritiert, fühlte ich mich doch irgendwie geködert und dann alleine zurückgelassen. Nach dem zweiten Häppchen spürte ich jedoch, dass es wohl so gewollt ist und Methode hat: Raija Siekkinen reißt die Geschichten um den eigentlichen Kern nur an. Und dann fängt es in einem an zu arbeiten, man rekapituliert, fügt eigene Erfahrungen oder von anderen gemachte hinzu und es entsteht ein viel größeres, detaillierteres, komplexeres Bild. Es ist, als würde sie mit leichtem Kohlestrich lediglich die Skizze eines Aquarells zu Papier bringen; man betrachtet es, denkt nach, lässt es auf sich wirken. Schließlich nimmt man selber seinen eigenen Pinsel in die Hand und fängt an, diese erste Fassung zu ergänzen. Ein bisschen violette Enttäuschung da, das klare, deutliche Blau der Erkenntnis hier, graue Desillusion in allen Schattierungen, grüne Flecken der Hoffnung und dann vielleicht doch noch etwas Sonnengelb?


    „Wie Liebe entsteht“ ist trotz des mittagspausenfreundlichen Umfanges kein Buch zum Einfach-Weg-Lesen. Die einzelnen Kapitel brauchen Zeit, sich in einem selbst entfalten zu können. Wer bereit ist, sich diese Zeit zu nehmen, sich auf die Perspektiven der Personen einzulassen, der wird mit einer Reihe von Erzählungen belohnt, die auf eigenartig sanfte Art das beschreiben, was einem im Leben so passieren kann: der Tod eines geliebten Menschen, nicht enden wollende Renovierungen, die späten Folgen eines Seitensprungs. Oder unvorhergesehene Konsequenzen einer versuchten Vergewaltigung, der Gedanke an eine Zukunft, in der vielleicht doch alles besser wird. Und die Erkenntnis, dass auch jenseits der Norm ein stilles Glück wohnen kann.

    In diesem Jahr ist Finnland das Gastland der Frankfurter Buchmesse – Anlass genug, gezielt die finnische Literatur näher ins Auge zu fassen. Den Anfang macht „Eis“ in meiner kleinen Auswahl und dieses Buch ist gleichzeitig auch das erste Werk Ulla-Lena Lundbergs, das ins Deutsche übersetzt und hier veröffentlich wurde.


    Alle Zeichen stehen auf Neuanfang an einem sehr kalten, sehr frühen Morgen im Mai, im Schärengürtel zwischen Schweden und Finnland. Der neue Pastor Petter Kummel, seine Frau Mona und die gemeinsame Tochter Sanna werden von einem Empfangskomitee herzlich begrüßt, als sie am Steg der Pfarrinsel mit dem Boot anlegen.


    Was folgt, ist die Geschichte eines Pfarrers, der hochmotiviert seiner Berufung nachgeht und für den das Arbeiten auf dieser abgelegenen Schäreninsel nicht Strafe, sondern Geschenk ist. Er ist den Inselbewohnern absolut unvoreingenommen, trägt sein Herz auf der Zunge und erobert die ihm zugeteilte Schärengemeinde mit seiner offenen, manchmal schon fast etwas naiven Art, im Sturm. Auch, als sich abzeichnet, dass auf den Inselgruppen doch nicht alles so idyllisch ist, wie es anfangs schien, hält er unbeirrt an seiner Haltung fest und verlässt sich darauf, dass alles schon gut werden wird, wenn man es nur entsprechend gut anfängt. Seine pragmatische, rührige und sehr bodenständige Frau hält ihm derweil den Rücken frei, kümmert sich um Haus, Hof und Kind und sorgt zwischendurch dafür, dass der Herr Pfarrer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird, wenn er sich vor lauter Enthusiasmus zu viel aufbürdet oder sich in seinen hohen Erwartungen verstrickt. Ganz irdische Probleme also auch für einen Mann mit himmlischem Auftrag…


    Das Erzählen hat in Skandinavien eine lange Tradition. Dieser Gewohnheit folgend, werden die Personen entsprechend ausführlich mit ihren Sorgen, Nöten und Hintergründlichkeiten beschrieben. Wir erfahren von Verstrickungen und alten, gepflegten Feindschaften; bekommen einen Eindruck, welche seelischen Schmerzen manche Menschen ihr Leben lang aushalten müssen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren oder vor langer Zeit eine Entscheidung treffen mussten, die für sie zu diesem Zeitpunkt die einzig richtige zu sein schien. Wir sehen, wie groß das Glück im Kleinen sein kann, wie greifbar und gleichzeitig so unglaublich fragil. In „Eis“ wird gelebt und geliebt, gehadert und gezweifelt, bereut, gelitten und gehofft. Wir erleben mit, wie stark die Wechsel der Jahreszeiten das Leben dort auf den Schären beeinflussen, wie sehr der Rhythmus des Jahres den Alltag prägt. Und dass es Dinge und Wesen gibt, die die Menschen begleiten und leiten, manchmal auch warnen, obwohl man sie nicht sehen kann. Wohl aber erkennen, wenn man bereit dazu ist.


    Dieses sehr ausführliche Erzählen, diese Betulichkeit und das weite Ausholen war es, das mich zwischendurch etwas mürbe gemacht hat. Mir waren die Schilderungen des allwissenden Erzählers oft zu lang, zu detailverliebt und zu sehr hielt er sich an und in Gedankenverkettungen und Erklärungen auf. Die Sprache, die Ulla-Lena Lundberg in ihrem Roman verwendet, ist an sich flüssig, manchmal hätte sie sich gerne kürzer fassen können und zwischendurch erinnerten mich ihre kleinen Pointen ein wenig an den Erzählstil Astrid Lindgrens.


    Und trotz dieser Eigenarten kann ich sagen, dass ich das Buch gerne gelesen habe. Die Bilder, die die Autorin heraufbeschwor, setzten sich in meinem Kopf fest und begleiten mich teilweise immer noch. Obwohl ich das Buch bei sommerlichen dreißig Grad gelesen habe, sah ich die Schären sich durch das Eis verbinden, hörte ich das Eis knacken und knirschen, fühlte die Kälte und teilte die Freude der Bewohner, endlich ohne Boot von Insel zu Insel laufen oder fahren zu können, um Besuche zu machen. Genauso erleichtert begrüßte ich den Frühling und begleitete die Menschen durch den kurzen, arbeitsreichen, luftigen Sommer. Und ein bisschen mitgeschnieft habe ich am Ende auch.


    Was bleibt, ist das Gefühl, von einem netten Menschen eine schöne Geschichte erzählt bekommen zu haben.

    Zitat

    „Wenn es Sie einmal nach Brooklyn verschlägt, einen Ort, der prachtvolle Sonnenuntergänge und den erhebenden Anblick von Kinderwagen bietet, die von Ehemännern geschoben werden, hoffe ich um Ihretwillen, dass der Zufall Sie auch in jene ruhige Nebenstraße führt, in der sich eine höchst bemerkenswerte Buchhandlung befindet“. (S. 7)


    Diese bemerkenswerte Buchhandlung gehört Roger Mifflin, einem kleinen, glatzköpfigen Mann, der das Lesen und seine Leidenschaft für Bücher zum Beruf gemacht hat. Er hat die besondere Gabe, den Menschen anzusehen, welche Bücher sie gerade benötigen:


    Zitat

    “Ich brauche sie nur anzusehen, um zu erkennen, dass ihre Seele krank ist, weil sie der Lektüre entbehrt…” (S. 12) “Die Menschen brauchen Bücher, wissen es aber nicht. Meist wissen sie gar nicht, dass es die Bücher, die sie brauchen, überhaupt gibt.” (S. 13)


    … und die Zufriedenheit seiner Kunden sei die beste Werbung für ihn. Genau das ist auch der Grund, warum er den jungen, dynamischen Angestellten einer Werbefirma abblitzen lässt, der ihn besucht, um ihm Werbemaßnahmen zu verkaufen. Trotzdem freunden sich Roger Mifflin und Aubrey Gilbert an. Der Buchhändler vermittelt ihm eine andere Sichtweise auf die Literatur und als die überaus hübsche Titania Chapman als Auszubildende eingestellt wird, gibt es für den jungen Gilbert noch einen Grund mehr, der Buchhandlung samt seinen Bewohnern regelmäßig einen Besuch abzustatten.


    Eines Tages geschehen mysteriöse Dinge in dieser Buchhandlung: Roger Mifflin vermisst ein Buch: ein ganz besonders aussergewöhnliches Buch für ihn und er war sicher, es am Abend vorher noch gesehen und auch in den Händen gehalten zu haben. Wie durch Zauberhand taucht es genau so unvermittelt am nächsten Tag wieder auf. Dieser Vorfall, eine mysteriöse Anzeige und diverse Zusammentreffen mit undurchsichtigen Schurken bringen Audrey Gilbert dazu, sich als Detektiv zu versuchen – viel mehr kann an dieser Stelle nicht verraten werden.


    Nur so viel: “Das Haus der vergessenen Bücher” ist aufgemacht wie einer der alten, amerikanischen, schwarz-weißen Hollywood-Filme. Es beginnt sehr betulich; Christopher Morley nimmt sich Zeit, viel Zeit, um die rauchgeschwängerte, nur durch kleine, grünschirmige Lampen erhellte Buchhandlung zu beschreiben. Dann gibt es den etwas kauzigen Protagonisten, seine patente, bodenständige und humorvolle Ehefrau, die in vorbildlicher Weise das Haus blitzblank hält und leidenschaftlich gerne kocht, bäckt und handarbeitet. Selbstverständlich gehört auch ein kleiner, frecher, sehr cleverer Haushund dazu und nicht zuletzt das mit viel Liebreiz ausgestattete Lehrmädchen aus gutem Hause, das mit überschäumendem Enthusiasmus in seine Ausbildung startet und mit seinem Aussehen, seinem Fleiß und seinem Augenaufschlag alle für sich einnimmt. Dann noch der smarte junge Mann, der mehr als nur ein Auge auf die neue Mitarbeiterin geworfen hat und deswegen bereit ist, unter Einsatz seines Lebens um ihr Wohlergehen zu kämpfen.


    Alles zusammengenommen ist mir die Geschichte allerdings viel zu eindimensional gestrickt, um mich ernsthaft begeistern zu können. Die Handlung ist einfach zu vorhersehbar und die überaus reichlich verwendeten Klischees fanden dann ihren Höhepunkt beim Bösewicht, der nicht nur hässlicher deutscher Pharmazeut war, nein, er musste auch noch “Weintraub” heißen (vielleicht sollte man hier erwähnen, dass das Buch im Original bereits im Jahr 1919 erschienen ist)…


    Was für mich “Das Haus der vergessenen Bücher” aber trotzdem zu etwas Besonderen gemacht hat, sind die vielen leidenschaftlichen Textpassagen Roger Mifflins, bei denen jedes bibliophile Herz ein paar Takte schneller schlagen dürfte.


    Zitat

    “Bücher enthalten die Gedanken und Träume der Menschen, ihre Hoffnungen, ihr Streben, alles, was an ihnen unsterblich ist. Aus Büchern lernen die meisten von uns, wie lebenswert das Leben doch ist.” (S. 116)


    Amüsant auch seine Einschätzungen aus der Welt der Buchhändler:


    Zitat

    …einer ist ein fanatischer Gegner von Bibliotheken, er findet, dass alle öffentlichen Bibliotheken in die Luft gesprengt gehörten. Ein anderer glaubt, dass Lichtspiele den Buchhandel ruinieren werden.” (S. 26)


    Oder über die unterschiedlichen Ansprüche der Leser:


    Zitat

    “Die Leute zahlen verdammt viel mehr, um sich zu unterhalten, als sich beanspruchen zu lassen. Da blecht einer, ohne mit der Wimper zu zucken, fünf Dollar für zwei Theaterkarten oder zwei pro Woche für Zigarren. Aber zwei Dollar oder fünf Dollar für ein Buch verursachen ihm Seelenqualen.” (S. 42)


    Gewisse Tendenzen überdauern also auch Jahrhunderte… ;-)


    Ein Buch für einen entspannten Lesenachmittag.



    Über den Autor:


    Christopher Morley (1890–1957), Amerikaner mit englischem Humor und englischen Wurzeln, war Mitbegründer der Saturday Review of Literature, die er von 1924 bis 1940 leitete, und schrieb für die New York Evening Post. Er ist Autor von mehr als 50 teils belletristischen, teils Sachbüchern und zahlreichen Essays über Literatur.

    Nun, dann werde ich mal eine Lanze für das Buch brechen ;-)


    Mir hat es ausnehmend gut gefallen; vielleicht gerade weil die Personen recht neutral beschrieben wurden. Aber lest selbst:



    „Wir waren bei den Wochenendeinkäufen im Supermarkt. Irgendwann sagt sie, stell dich schon mal in die Käseschlange, ich kümmer mich um die anderen Lebensmittel.“


    Das ist der erste Satz und er macht schon deutlich, wie zielstrebig Yasmina Reza auch in diesem Werk vorgeht. Es wird keine Zeit mit Nebensächlichkeiten verschwendet; es gibt keine Vorbereitung, man ist sofort mittendrin.


    Mittendrin im Wochenendeinkauf eines modernen Paares, das sich den Einkauf teilt. Vielleicht trinken sie nachher noch gemütlich einen Latte Macchiato, vielleicht haben sie liebgewonnene Rituale, wer weiß.


    Ich lehne mich entspannt zurück und lese weiter.


    „Als ich wiederkam, war der Einkaufswagen halb voll mit Müsli, Keksen, Pulvernahrung in Tüten und lauter Dessertcremes, und ich sag, wozu das alles? – Wie, wozu das alles? Ich sag, wozu soll das alles gut sein? – Du hast Kinder, Robert, die mögen Crunchy-Müsli, die mögen Schokotäfelchen, auf Kinder-Bueno stehen sie total, hielt mir die Packungen hin, und ich sag, das ist doch absurd, sie mit Zucker und Fett vollzustopfen, dieser Einkaufswagen ist absurd, und sie darauf, was für Käse hast du gekauft?“


    Spätestens jetzt ist es vorbei mit dem entspannten Zurücklegen, ganz im Gegenteil. Ich sitze senkrecht, halte buchstäblich die Luft an und lasse mich vom Text mitreißen, und das bei jedem einzelnen der insgesamt 21 Kapitel. Jedes dieser Kapitel wird aus einer anderen Perspektive erzählt und schildert jeweils aus subjektiver Sicht bestimmte Stationen der einzelnen Leben. Dabei nehmen sie teilweise Bezug zu bereits bekannten Personen und man bekommt mit der Zeit eine Ahnung, wie alle und alles zusammenpassen könnte.

    Es macht unglaublichen Spaß, sich zu erlesen, wie glasklar Yasmina Reza die unterschiedlichsten Charaktere zeichnet: sofort entstehen im Kopf Personen mit all ihren Eigenarten und Beziehungen; gleichzeitig wettet man schon insgeheim mit sich, wie viele Sätze Yasmina Reza dieses Mal wohl brauchen wird, um das ganze schöne Bild zunichte zu machen, um die sorgfältig aufgebaute und gepflegte Fassade bröckeln und das ganze Gebäude von Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten und Wahrheiten erbarmungslos einstürzen zu lassen.


    Leise Zweifel kommen auf und ich frage mich, ob man das eigentlich darf – mit Spaß und Freude und Lust zuschauen, wie die Protagonisten Schicht um Schicht freigelegt werden, bis sie förmlich nackt vor einem stehen. Nackt und allein mit ihrer Angst und ihrer Wut, ihrem Trotz, ihrer Liebe und dem Wissen von Verrat, ihrer Lust und ihrer Neugier. Zerbrechlich in ihrem verzweifelten Ringen um das Aufrechterhalten von Status, Moral und Haltung.


    Und ich komme zu dem Entschluss, dass man darf. Man sollte sogar, wenn man es von jemandem wie Yasmina Reza vorgeführt bekommt. Auf ihre ganz spezielle Weise versteht sie es, die Menschen zu entblättern, ohne sie dabei bloßzustellen oder lächerlich zu machen. Sie wertet nicht und moralisiert nicht. Was sie übrig lässt, ist die Quintessenz dieser Menschen. Das, was sie ausmacht, weil sie ihre Art und ihre Art zu leben sie zu dem gemacht hat, was und wie sie sind.

    Der Grund - ein Debüt, das sich jetzt schon einen Platz auf der Liste meiner Lesehighlights gesichert hat und dem ich viele Leser wünsche.


    Untergang der Estonia am 29. September 1994:


    „In der Schwärze der Nacht, in tosendem Sturm, reckte das weiß-blaue Schiff um 01.48 Uhr ein letztes Mal den Bug in die Luft und versank nach weniger als einer Stunde mit einem lauten Seufzer. Mit ihm verschwanden die Wünsche und Träume, die Sehnsüchte, Sorgen, Ängste und Pläne all jener, die an Bord geblieben waren.“ (Seite 11)


    Ein Pianist, der in Venedig auf ein Kreuzfahrtschiff geht. Der lieber auf der Flucht ist und sich doch nichts sehnlicher wünscht als einen Hafen, in dem er zur Ruhe kommen kann. Er kann nicht schlafen, betäubt sich mit Whisky, sucht Trost bei fremden Frauen und führt Tagebuch, um sich selbst nicht vollends zu verlieren. Er ist präziser Beobachter am Klavier, sieht und versteht mehr als viel – aber verharrt in ständiger Distanz.


    Laurits, ein klassischer Oberklassefuzzi, sitzt vor dem Prüfungskomitee eines Konservatoriums, spielt um die dortige Aufnahme – und um sein Leben, denn für ihn gibt es nur diese eine Chance: schafft er die Aufnahme nicht, muss er Medizin studieren. Nur unter dieser Bedingung stimmte sein Vater überhaupt einer Teilnahme zu.


    Und während er spielt, lässt er in rückblickenden Sequenzen sein ganzes bisheriges Leben an sich vorbeiziehen:


    Geboren und aufgewachsen als Sohn eines angesehenen, einflussreichen Augenarztes, der zu Hause den Patriarchen gibt, und einer ständig angespannten, musikalischen Mutter, die ihren Fokus im Laufe der Jahre eher weg vom Klavier und hin zum Klang gefüllter Gläser richtete. Sie war es, die ihn einführte in die geheimnisvolle Welt der Musik: sie zeigte ihm, „dass er mit den Ohren sehen, riechen und schmecken konnte“. Gegen den Willen des Vaters, für den es eigentlich nur um sinnloses Geklimper ging, setzte sie durch, dass Laurits von einer strengen, aber gerechten Klavierlehrerin unterrichtet wurde. Obwohl er die Zeit vor der ersten Unterrichtsstunde als furchtbar, fast schon traumatisch empfindet, werden die regelmäßigen Stunden bei ihr zu einem wichtigen Fixpunkt in seinem Leben.


    Während seine Finger sich sicher über die Tasten arbeiten, erinnert er sich an seinen Jugendfreund Pelle, mit dem er seine gesamte freie Zeit verbrachte und der, obwohl nicht standesgemäß, in seinem Elternhaus ein- und ausging und der selbst von seinem nahezu „göttlichen“ Vater eine besondere Art des Respekts genoss, obwohl oder gerade weil er absolut unbekümmert und selbstbewusst allen anderen Menschen entgegentrat. Der unbestechliche Pelle durschaute selbst als Kind bereits die Strukturen und Verflechtungen, in denen Laurits gefangen war und deckt sogar eine Lüge seines Vaters auf – und lachte ihn aus wegen seiner Angst.


    Und nun sitzt er hier, spielt um seine Zukunft, für sein Ziel, seine Freiheit. Das erste Mal geht es nur um ihn, er spielt gut, und er weiß, dass er gut spielt.


    Jahre später: Laurits feiert mit seiner Frau Silja, seiner Tochter Lijs, Familie und Freunden seinen zehnten, glücklichen Hochzeitstag. Es ist ein großes, harmonisches Fest – bis ihm sein Lieblingsonkel, einem Impuls nachgebend, eine Eröffnung macht, die Laurits ganzes bisheriges Leben mit einem Schlag zusammenfallen lässt und ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzieht. Er zweifelt und verzweifelt an allem: an sich, seinem Leben, an der Liebe und dem Vertrauen, empfindet verbittert nur noch Verrat. Laurits sieht keine Möglichkeit mehr, sein altes Leben weiterzuführen und fühlt sich gezwungen, sich völlig neu zu erfinden und beginnt noch einmal von vorn…


    “Die Erinnerung ist tückisch, sie kommt und geht, wie es ihr passt. Ich habe gelernt, sie zu ignorieren. Sie lähmt nur. Faktisch ist sie absolut irrelevant.” (Seite 87)


    Wie das alles zusammenpasst? Es passt, und wie. Aber vorher führt Anne von Canal uns durch die Höhen und Tiefen eines möglichen Lebens. Wir müssen uns die Frage stellen, wie viel ein Mensch in einem Leben zu verkraften vermag. Wir erleben Situationen, die absolute Grenzpunkte in einem Leben darstellen; Grenzpunkte, in denen die alten Kategorien, mit denen wir unser Leben bisher zu ordnen versuchten, nicht mehr greifen. Es gibt kein gut oder schlecht mehr, kein richtig oder falsch; es geht nur noch darum, wie man weitermachen kann, wenn alles das, woran man glaubte, nicht mehr vorhanden ist. Wenn man selbst nicht mehr der ist, für den man sich hielt.


    „Aber in Wahrheit pflügt das Schiff durch die Zeit, der Bug ist schon Zukunft, das Heck längst Vergangenheit. Es gibt nur eine Richtung und kein Zurück. Voraus ist immer noch Hoffnung. Achtern nie. Wer sich umdreht, erstarrt zur Salzsäule. Vor Schreck. Vor Schmerz. Das war schon zu Lots Zeiten so. Warum sollte man also zurückschauen?“ (Seite 19)


    Es geht um die Verantwortung sich selbst und den anderen gegenüber, um das, was wir anderen zumuten, um uns selbst zu retten. Wir sehen Menschen, die sich aufrichtig lieben – und genau diese Liebe, die als die größte Kraft empfunden wird, noch nicht reicht, um einen eingeschlagenen Weg zusammen weiter gehen zu können. Wir erkennen, dass wir unter bestimmten Voraussetzungen bereit sind, die Fehler unserer Eltern zu wiederholen, obwohl sie uns tiefe Wunden zugefügt haben – und wir es eigentlich besser wissen müssten.


    All das verknüpft Anne von Canal in ihrem Debüt sehr gelungen miteinander; in verschiedenen Zeiten, auf verschiedenen Ebenen und in einer wunderbar klaren Sprache, die durch ihren Verzicht auf allzu ausführliche Beschreibungen die durchgängige Melancholie, Traurigkeit und Tragik umso deutlicher hervortreten lässt – ohne dabei melodramatisch zu werden.


    Aus diesen Gründen hat mich das literarische Debüt Anne von Canals in mehr als einer Hinsicht sehr beeindruckt.

    Dieses Buch fiel mir neulich eher zufällig in die Hände (schließlich geht man ja nicht einfach so an einer Buchhandlung vorbei, oder?) – aber alleine der Klappentext ließ mich grinsen und so mogelte sich dieses Buch in meinen Lesenachmittag.


    Um es kurz zu machen:


    Man findet keine sachdienlichen Hinweise.


    Man bekommt ein paar vergnügliche Lesestunden, untermalt von leisem Grinsen, lautem Lachen und zustimmendem Nicken.


    Was bleibt, ist das breit-wohlige Gefühl der Genugtuung, dass es auch bei Weiler’s nicht anders zugeht…


    :grin

    Was der Klappentext verrät:


    Als Martin schon fast alt genug für die Schule ist, erzählen ihm seine Eltern, dass ihnen vor einigen Jahren, mitten in den Kriegswirren, ein Fremder ein Baby auf den Arm gedrückt hat: ihn selbst. Er braucht Jahre, um seine Herkunft zu begreifen – und er braucht sein ganzes Leben, um dem Mann zu begegnen, der ihn einst gerettet hat. Und auch dann weiß er nicht, wer da vor ihm steht.


    Was ich verrate:


    Getragen wird die Geschichte von dem Gedanken, dass all unsere Leben auf irgendeine Weise miteinander verwoben sind.


    „Wo wir auch hingehen, wir hinterlassen immer etwas von uns, ob wir es merken oder nicht.“


    Oft wissen wir nichts davon, können es gar nicht wissen – und doch gibt es Fäden, die uns über Generationen und Kontinente hinweg verbinden und beeinflussen.


    “… und er hat auch schon früh erkannt, dass das, was die Menschen für ihr Leben halten, in Wirklichkeit nur dessen Umstände sind. Die Wahrheit ist näher als das Denken und liegt in dem verborgen, was wir bereits wissen.“


    Wer jetzt denkt, er würde einen Roman lesen können, in dem die Suche eines Mannes zu seinen Wurzeln geschildert wird, in Rückblenden erzählt und mit einem sich wunderbar einfügenden Ende – der hat sich wirklich vorbildlich vom Klappentext blenden lassen, so wie ich zugegebenermaßen auch.


    Ja, es wird in Rückblenden erzählt. Aber Simon van Booy nimmt den Leser nicht an die Hand, um ihm die Chronologie eines Lebens in verschiedenen Stationen mit seinen möglichen Verstrickungen vorzuführen.


    Nein, er verknüpft Fragmente verschiedener Leben in verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Perspektiven; man wird förmlich durch diese Leben und Zeiten und Perspektiven gewirbelt, dass einem Hören und Sehen vergehen kann – und das nicht zuletzt wegen der unglaublich ausdruckstarken Sprache. Simon van Booy beschwört in kurzen Sätzen (die ein paar Mal etwas zu kurz ausgefallen sind) und unter Verzicht auf schmückendes Wortbeiwerk so intensive Szenen herauf, dass ich mehr als einmal die Luft beim Lesen angehalten habe.


    “Ich versuchte dem Jungen zu vermitteln, dass sich das Leben der Menschen oft durch geschwungene Linien verändert, die langsam von Papier, Sand oder Stein gelesen werden.”


    Wer sich durch solche geschwungenen Linien eine Geschichte voll beißender Intensität in Herz gravieren lassen möchte; wer sich in schmerzlich schönen Bildern absolute Grausamkeit, die pure Liebe und das grenzenlose Vertrauen in die Menschlichkeit zeigen lassen will – der sollte und darf sich dieses Buch nicht entgehen lassen.


    “Unsere Liebe zu dir”, sagte sie, “wird immer größer sein als irgendeine Wahrheit.”

    Dann will ich mich auch noch kurz mit einem noch kürzeren Statement zurückmelden:
    Vielen Dank an all die netten Eulen, die mich freundlich aufgenommen, mit dem nötigen Eulenwissen versorgt und ansonsten gut unterhalten haben. Und das trotz des Auftauchens zu später Stunde in zumindest für den ein oder anderen zweifelhafter Begleitung.


    Und gelernt habe ich:


    Auch Headbanger der ersten Stunde verfügen trotz des ruhigen ersten Eindrucks über erstaunlich viel Energie zur spätesten Stunde.


    Es gibt Eulen, die sind nicht nur sprachlich groß, sondern leibhaftig noch größer.


    Es scheint doch etwas dran zu sein, dass Autoren nicht ausschließlich Autobiographisches verwursten. Der Kapitän des unschweren Bootpersonals trägt keine Polyesterpullunder, hatte gewaschene Haare und über prägnante Körperausdünstungen habe ich auch nichts vernommen.


    Und ich werde mich an des Moderators Maxime halten, hier zu kommentieren und nicht im amerikanischen Eulenexil.


    In diesem Sinne: Man liest sich! :wave

    Wie wurden wir zu dem, was wir heute sind?


    Wie wahr ist unsere Vergangenheit, unsere Erinnerung daran oder das, was wir dafür halten?


    Tony Barnes, der sein Arbeitsleben bereits hinter sich gelassen hat und in seinen wohlverdienten Ruhestand starten will, wird durch eine unerwartete Erbschaft plötzlich gezwungen, sich mit seiner Vergangenheit oder vielmehr mit dem, was er bisher dafür hielt, auseinanderzusetzen. Ihm, der wie er im Laufe der Geschichte selber feststellen muss, dem das Leben und seine Besonderheiten immer irgendwie passiert sind, der sich mit den Entwicklungen immer nur arrangiert hat und sich den Gegebenheiten nur zu gerne fügte. Dabei stellt er sich die Frage, “ob und in welchem Maße die eigene Geschichte und vor allem die Erinnerung daran wahrhaftig sind und ob denn Erinnerungen sich mit der Zeit zu Gewissheiten verdichten können?”


    Langsam reift in ihm die unangenehme Erkenntnis, dass seine Art, sich an seine Vergangenheit zu erinnern, möglicherweise weit entfernt von dem sein könne, was tatsächlich passiert ist. Er kommt ins Grübeln und muss sich, teilweise beschämt, eingestehen, dass er sich aus Angst, Bequemlichkeit und Egoismus sein Leben an bestimmten Punkten einfach schöner „verwahrheitet“ hat, als es im Grunde gewesen ist.


    Das Buch wirft Fragen auf, die sich jeder von uns in ähnlicher Weise schon irgendwann einmal gestellt hat. In leisen Tönen und auf unspektakuläre Weise dringen die Fragen in unser Innerstes vor, lassen einen etwas unbehaglich auf dem Stuhl herumrutschen und mehr als einmal habe ich mich dabei ertappt, nach eventuell vorhandenen eigenen Leichen im Keller zu suchen… Das Gefühl dabei ist – nun, ungemütlich.


    Man begleitet Tony bei seinem Erkennen, dass es nicht angenehm ist, feststellen zu müssen, in der Vergangenheit Fehler gemacht zu haben – ohne auch nur ansatzweise den Versuch unternommen zu haben, diese aus der Welt zu räumen, Konsequenzen zu ziehen oder die Verantwortung dafür zu übernehmen.


    Im gesamten Buch kam es mir vor, als habe der Autor jede Zeile, jeden Satz gezielt darauf ausgelegt, uns mit seiner ruhigen Sprache einzulullen, die tiefen Wahrheiten hinter den schön erzählten Sätzen freundlich zu verpacken, nur damit deren Bedeutung uns umso unvermittelter von hinten anfallen und sich in unserem Hinterkopf festsetzen kann. Manchmal schien es mir, als lauerte hinter jedem Satz eine zweite Bedeutung, eine Tür, hinter der eine neue Frage oder Erkenntnis nur darauf wartet, entdeckt zu werden.


    „Vom Ende einer Geschichte“ gehört vermutlich zu den Büchern, die mehrmals gelesen werden müssen, weil sich jedes Mal eine neue Perspektive öffnet, jedes Mal eine neue Dimension erlesen werden kann.

    Besser - Doris Knecht


    „Die Kaufmanns haben sich getrennt. Ich konnte es gar nicht glauben. Sie haben erst im August geheiratet, mit einem großen Fest. Es war schön, schöner als meine eigene Hochzeit, leichter, lockerer, rührender. Wahrscheinlich, weil ich nur Gast war und Publikum, ganz unangespannt. Ich denke nicht sehr gern an meine Hochzeit, vielleicht, weil ich damals die ganze Zeit das Gefühl hatte, dass Adam hereingelegt wird. Von mir.“ (Umschlagtext)


    Zack! Beim Lesen der ersten Zeilen ahnt man’s, spätestens nach der zweiten Seite weiß man’s: „Besser“ ist nichts für Romantiker. Doris Knecht nennt die Dinge beim Namen – glasklar, schonungslos und unmissverständlich. Und gerade diese Sprache ist es, die es mir so angetan hat; die eine unglaubliche Präsenz der Charaktere und ihrer Verflechtungen miteinander schuf; die mich gebannt die Geschichte bis zum Ende verfolgen ließ. Es ist kein gemütliches Buch: es ist aufwühlend, nachdenklich machend, Fragen aufwerfend; im einen Moment möchte man laut lachen, während einem beim unmittelbar nächsten Satz eben dieses Lachen im Halse stecken bleibt.


    Antonia Pollak lebt das auf Hochglanz polierte Vorzeigeleben eines „BoBo’s“ – glückliche Ehe, fürsorglicher Ehemann, keine Geldsorgen, eigenes Atelier, zwei gut geratene Kinder. Man trifft sich mit guten Freunden zum Essen, Trinken und Diskutieren. Alles geordnet, alles schön, alles passt.


    Aber als Leser weiß man mehr. Von Anfang an schaut man ihr sozusagen als Mitwisser beim Leben über die Schulter. Man erfährt Dinge, die so gar nicht in dieses Arrangement zu passen scheinen, die einem selbst nicht so ganz passen. Man erfährt, dass sie ihren Mann, den sie doch aufrichtig liebt, immer wieder betrügt – nicht nur mit einem Liebhaber, auch mit Lügen über ihre angeblich verstorbene Mutter und ihre gesamte Vergangenheit. Sie macht es mit vollem Kalkül, schließlich ist es der Mann, den sie wollte und den sie immer noch will, koste es, was es wolle. Sie spielt ihre Rolle perfekt. Und sie weiß, dass sie spielt. Aber sie spielt nicht um des Spielens willen, sondern weiß ganz genau, dass sie um ihr Leben spielt. Oder für ihr Leben. Genau das ist es, was sie manchmal einbrechen lässt. Momente, in denen sie sich mit ihrer nackten Angst konfrontiert sieht und ihr einfach nicht ausweichen kann: der Angst, aufzufliegen, wie ihre Mutter zu sein, ihren Kindern nicht die Mutter sein zu können, die sie verdient haben.


    „…Verlust und Versagensängsten, von der Gewissheit, dass nichts sicher ist und dass ich meine Familie, meine Kinder nicht beschützen kann, dass ich sie jeden Tag im Stich lasse, dass ich sie nicht genug liebe und ihnen keine gute Mutter bin. Gar nicht sein kann“.(S. 51)


    Gleichzeitig gibt es Augenblicke, in denen sie aus ihrem eigenen Gefängnis ausbrechen und sich, ihren Mann und ihre Freunde so sehen kann, wie sie sind, ohne diese Voreingenommenheit, die einen relativ objektiven Blick auf andere Menschen nicht zulässt. Diese spontanen Eindrücke haben mich immer sehr berührt, gerade durch die klare, schnörkellose Sprache werden die Empfindungen doppelt greifbar:


    „Wir kommen alle von irgendwo her. Wir sind alle beschädigt. Und die meisten von uns wissen, warum sie jetzt da sind, wo sie sind. Und warum wir leben, wie wir leben, und warum wir sind, wie wir sind. Und warum wir so leben wollen, wie wir leben, warum wir genau so lieben, nicht anders.“ (S. 282)


    Gleichzeitig besticht der Roman durch Seitenhiebe auf gesellschaftliche Phänomene. Wie nebenbei bekommt die Oberflächlichkeit und Arroganz bestimmter Gruppen (oder das, was wir dafür halten) ihr Fett weg, ob es nun um die Art und Notwendigkeit bestimmter Sportarten, die Wichtigkeit der Essenszubereitung oder die richtige politische Ausrichtung geht. Bemerkenswert sind dabei Antonias Gedankengänge, die deutlich machen, dass es sich bei ihr nicht einfach nur um ein alles berechnendes Biest handelt, sondern um eine zutiefst verletzte Seele, die auf ihre eigene Art darum kämpft, es „Besser“ zu machen. Sie zeugen von dem unglaublichen Kraftakt einer Auseinandersetzung, der sich aus dem Versuch, die Vergangenheit zu bewältigen einerseits und einem hohen moralischen Anspruch an sich selbst andererseits ergibt.


    „Es geht nicht um Herkunft. Es geht darum, was die Herkunft, die Umstände und die Stigmata ihrer Herkunft aus ihnen gemacht haben, und dass sie deshalb nicht in der Position sind, daran etwas zu ändern. Oder nur mit unheimlich viel Kraft, so viel Kraft, dass es einen einzelnen Menschen meist überfordert. Ich kenne mich aus mit Herkunft, ich weiß, was sie mit dir macht. … Ich kann diese Kinder nicht ändern, und sie können nichts für das, wozu sie gemacht wurden, aber ich werde Elena vor ihnen beschützen“. (S. 87)


    Um es kurz zu machen: dieses Buch sollte, nein, muss man einfach gelesen haben,


    meint incomperta

    Mal abgesehen von der Quelle, aus der diese Meldung sprudelt: wo ist das Problem? Amazon darf sich aussuchen, wem er was wann unter welchen Umständen liefert. Und wie Voltaire schon schrieb: wem das nicht gefällt, hat die freie Auswahl unter vielen Alternativen...


    :wave

    Ich gehöre zwar nicht dieser Leserunde an, habe die Diskussionen in den letzten Tagen hier aber aus Neugier und Interesse am Thema des Buches mitverfolgt. Das Buch selber liegt hier schon seit zwei Wochen und eigentlich wollte ich es parallel zur LR lesen. Allerdings ist mir die Lust dazu während dieser etwas eigenwilligen LR vorläufig abhanden gekommen.


    Es ist schon eigenartig, welche Diskussionen hier entstanden und vor allem, wie sie geführt wurden. Auch hatte ich ständig das Gefühl, dass Autoren und Leser irgendwie aneinander vorbei diskutierten und sich die Autoren öfter absolut mißverstanden fühlten... Das zeigte sich unter Anderem im Grundtenor der Erklärungen (z. B. der Austausch mit pinky).


    Mich interessiert jetzt wirklich, mit welchen Erwartungen die Autoren in diese LR gestartet sind. Auf welche Fragen waren sie vorbereitet, welche dachten sie, würden gestellt werden? Fühlten sie sich hier vorgeführt, angegriffen oder einfach wohl? Fühlten sie sich verstanden?


    Wenn ich mir den letzten Beitrag von andersenbach, genauer von Philip heute hier durchlese, habe ich den Eindruck, dass er sich schon eine andere Entwicklung von Gesprächen hier erhofft hat:


    Zitat

    So, genug gequasselt. Ich hoffe, diese paar Erläuterungen, was wir uns beim Schreiben gedacht haben, helfen Euch ein bisschen, den Roman vielleicht auch mal in einem anderen Licht zu sehen, als er hier in manchen Kommentaren erscheint. Damit möchte ich keine Kritik wegbügeln, nur eine Lesart vorschlagen, um die es uns als Autoren ging. Vielleicht, so zeigen manche Eurer Beiträge, hätten wir das im Roman etwas deutlicher machen sollen. Wenn wir uns dagegen entschieden haben, dann aus einem einfachen Grund: Wir wollten unseren Lesern nicht die Brille unserer eigenen Interpretation auf die Nase setzen. Denn eines der schönsten Erlebnisse beim Lesen ist es immer, wenn durch die Lektüre eine Geschichte im Kopf des Lesers neu und anders entsteht. Das müssen und wollen wir als Autoren respektieren, selbst wenn uns dadurch unsere eigene Geschichte hin und wieder geradezu fremd wird.


    Dieser Einwand erschließt sich mir auch nicht so ganz... Verstehe ich das richtig, dass du Erläuterungen gibst, damit die Leser hier den Roman endlich so verstehen können, wie er gemeint war?
    Ich frage deshalb, weil genau diese Erklärung eine gewisse Grundeinstellung des Autorenduos den Lesern gegenüber widerspiegelt, zumindest las sich das für mich immer so (wie auch verschiedene Einwände von Miriam, z. B.


    Zitat

    Und noch zum Thema "Auffliegen": Ihr scheint ja davon auszugehen, dass jede Frau in regelmäßigen Abständen das Handy oder die Mails ihres Partners checkt. Das ist wiederum eine Vorstellung, die ICH komplett grauenhaft finde! Philipp und seine Frau sind seit über 30 Jahren zusammen, sie ist sein Lebensmensch. Und das bleibt sie eben auch, egal, wie sehr er sich verliebt hat. Mich wundert es, dass viele von Euch die Zerrissenheit dieser Figur nicht nachvollziehen können.)


    Nachdenklich grüßt incomperta


    [SIZE=7]Editiert, weil incomperta die Zitatfunktion falsch genutzt hat...[/SIZE]

    Ich habe mich durch die herausragenden Rezensionen hier im Forum zu diesem Buch förmlich verführen lassen. Wenn auch gestandene Männer in die Lobeshymnen mit einfallen, muss es schon etwas Besonderes sein, dachte ich, keine 08/15 Geschichte, kein klassischer Herz-Schmerz.


    Die Idee ist wirklich wunderbar: Jean Perdu (da ist der Name tatsächlich Programm) verlor sich im Schmerz über den Verlust seiner großen Liebe Manon. Das Einzige, was ihm in den mittlerweile 21 Jahren eine Spur des Trostes geben konnte und sein Weiterleben ermöglichte, waren seine Bücher. Überzeugt davon, dass jedes Buch für eine einzige bestimmte Person geschrieben wurde und das jeweils passende Buch geeignet ist, eine besondere Krankheit zu heilen, verwendet er seine ganze Energie auf „Lulu“, sein Bücherschiff, seine „pharmacie littéraire“. Auf ihr verkauft er passende Bücher an besondere Menschen, die es in diesem Moment brauchen. Nur für sich selbst findet er keinen Trost und keine Heilung.
    Nachdem er irgendwann feststellen musste, dass er sich die ganzen Jahre über von falschen Rückschlüssen leiten ließ, macht er sich irgendwann auf, fährt mit seiner „Lulu“ seiner Zukunft entgegen, um sich seiner Vergangenheit stellen, mit ihr abschließen, um sich endlich befreien zu können.


    Die ganze Geschichte ist wie französische Patisserie – ein Eclair, sehr liebevoll gestaltet, ein luftiger Teig mit gehaltvoller Buttercreme im Innern und schön gefärbtem Zuckerguss obenauf.


    Aber wie das mit feinen Desserts so ist – sie sind nicht dazu geeignet, in größeren Mengen genossen zu werden, weil man sich den Magen daran verstimmt. Genau so ging es mir mit diesem Buch. So sehr mir die Geschichte gefiel, so treffend, präzise und wahrhaftig die Charaktere gezeichnet waren – man merkte jedem Kapitel, manchmal jedem Satz an, wie sehr die Autorin bemüht war, möglichst viel Gefühl , Stimmung und Melancholie hereinzupacken. So viel, dass ich manchmal dachte, „lass gut sein, es reicht“. Und dann mein besonderes Problem mit den Stilbrüchen. Waren sie gewollt? Wie kann man über zwei Seiten die erste zögerliche körperliche Annäherung schildern, jedes Detail der Stimmung und der Veränderung bis ins Kleinste auszuleuchten versuchen – und dem armen Jean fällt beim Anblick der Rundung einer nackten Damenschulter nichts Besseres ein als der „Deltamuskel“?


    Abschließend muss ich sagen, dass das Buch für mich viel durch die Überfrachtung mit Sprache verloren hat. Und auch die vielgepriesene Tiefgründigkeit erschloss sich mir nicht in dem Maße wie meinen Vorrezensenten. Selbstverständlich ist es bitter, nach zwanzig Jahren feststellen zu müssen, dass man einem sich selbst auferlegten Irrtum aufgesessen ist. Aber das ist jetzt nicht so neu. Dass nichts so ist, wie es zu sein scheint? Nun ja.


    Was bleibt, sind schöne Bilder in meinem Kopf. Und das ist ja auch schon was.