Mikael Niemi: Die Flutwelle

  • Mikael Niemi: Die Flutwelle
    btb Verlag 2014. 320 Seiten
    ISBN-13: 978-3442754014. 19,99€
    Originaltitel: Fallvatten
    Übersetzerin: Christel Hildebrandt


    Verlagstext
    Wie würdest du dich verhalten im Angesicht einer Katastrophe?
    Hoch oben im Norden Schwedens regnet es schon fast den ganzen Herbst. Und dann zeigen sich im obersten Staudamm des Lule älv tatsächlich Risse. Keiner kann sich vorstellen, dass er brechen könnte. Doch dann geschieht genau das - die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Das Wasser kommt in gigantischen Massen. Ein Tsunami im eigenen Land. Inmitten des Infernos eine Gruppe von Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die nun aufeinander angewiesen sind, wollen sie überleben: Der Hubschrauberpilot, der kurz vor einem Selbstmord stand. Die Künstlerin, die mit ihrer Malgruppe in den Wäldern umherstreift. Die Schwangere, die an einen Schornstein geklammert um ihr Überleben kämpft und von einem anderen Schiffbrüchigen ins Boot gezerrt wird. Zwei Ingenieurinnen, die schon lange vor der Gefahr gewarnt haben. Sie alle stehen vor einer gewaltigen Herausforderung: Sie kämpfen nicht nur ums Überleben, sondern auch um ihre eigene Menschlichkeit


    Der Autor
    Mikael Niemi, Jahrgang 1959, wuchs im hohen Norden Schwedens in Pajala auf, wo er heute noch lebt. Im Jahr 2000 erschien sein erster Roman "Populärmusik aus Vittula", für den er den renommiertesten Literaturpreis seines Landes, den Augustpreis, bekam. Es war das spektakulärste Debüt, das Schweden je erlebt hatte. Das Buch stand monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste, verkaufte sich über eine Million mal, wurde in 24 Sprachen übersetzt und ebenso erfolgreich verfilmt.


    Inhalt
    Es wird schwarz werden um die Betroffenen als würde eine Lampe gelöscht. Für sie wird es keine Bedeutung mehr haben, ob der Dammbruch auf technisches oder menschliches Versagen zurückzuführen ist. In Nordschweden ist ein Staudamm des Lule älv gebrochen (Stichwort: Stora harsprånget); weitere Dämme werden wie Dominosteine fallen. In seinem Katastrophenszenario formuliert Mikael Niemi gegen die Zeit an. Solange die Vorgänge akribisch in allen Einzelheiten beschrieben werden und solange noch Seiten im Buch zu lesen sind, wird doch hoffentlich die eine oder andere Person noch eine Überlebenschance haben, so hoffte ich. Als würde der nahende Tod die Sinne schärfen, beobachtet der Autor jede Regung, jede Geste seiner Figuren. Da ist Vincent, der Hubschrauberpilot aus der Nähe des Polarkreises, der sich kurz zuvor in einen gnadenlosen Rosenkrieg gegen seine Frau gesteigert hatte. Die erwachsene Tochter Lovisa des Paares erwartet ein Kind; sie kämpft gegen die nahenden Fluten um zwei Leben. Barney arbeitet für den Vattenfall-Konzern, den Betreiber des Wasserkraftwerks. Niemi folgt jedoch nicht den Gedanken eines Kraftwerksexperten, sondern einer Person, die im Moment des nahenden Todes völlig die Kontrolle verliert. Lena war im strömenden Regen mit einer Malgruppe am Fluss. Sie wandelt sich in der Ausnahmesituation zur Karikatur einer ausgebrannten Städterin auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung. Evelina wird vom Gedanken an ihre Tochter vorangetrieben, die an einem nicht näher beschriebenen Ort auf sie wartet. Adolf stammt aus einer Lappenfamilie, deren Lebensweise er schon lange hinter sich gelassen hat. Adolfs gepanzertes Luxus-Auto kann ihm im Moment der Katastrophe kaum Rückhalt bieten, so wie die Häuser, Autos und Handys der anderen nun nutzlos geworden sind. Selbst eine Ausgabe von Niemis eigenem Bestseller-Roman wird von den Wassermassen mitgerissen. Die Hütte von Hjalmar, dem Sturkopf, selbst mit Hammer und Nägeln gebaut, nimmt in der Handlung eine eigene Rolle ein. Wie schade, dass Hjalmar nicht mehr erleben kann, wie stabil sein Häuschen geworden ist.


    Fazit
    Niemis detailverliebte Schilderungen wirken schmerzhaft exakt. Er seziert teils absurde Gedanken seiner Protagonisten an die Werkzeuge von Steinzeitmenschen oder daran, wer von einer Lebensversicherungssumme profitieren wird. Die Absurdität und Obszönität der Geschehnisse hält einem selbst den Spiegel vor. Würde ich aus einem im Wasser versinkenden Auto flüchten können – und wohin? Würde mein Leben deshalb zu Ende sein, weil ich nichts über die Benzinleitung eines Bootsmotors weiß? Es sind allgemeingültige Fragen, die Niemi aufwirft, ob das Miterleben eines fremden Todes schlimmer sein kann als der eigene Tod, oder welche Grenzen wir zu überschreiten bereit sind, um uns selbst zu retten.


    Das Denken und Handeln grundverschiedener Menschen hat das Buch für mich zu einer spannenden Lektüre gemacht.


    9 von 10 Punkten