Philippe Djian: Oh ...

  • Oh je


    Die 46 Jahre alte Filmproduzentin Michèle wurde vergewaltigt. Sie erzählt niemandem davon, führt nicht einmal diesbezügliche Selbstgespräche, sondern lebt ihr seltsames Leben weiter: Zwischen Paris und dem Vorort pendelnd, wo sie mit Richard, von dem sie inzwischen geschieden ist, gewohnt hat, die lahme Affäre mit Robert weiterführend, dem Mann der besten Freundin und Geschäftspartnerin Anna. Michèles Sohn Vincent ist Mitte zwanzig und hat sich soeben dafür entschieden, das Kind der Freundin Josie anzunehmen, obwohl es von einem anderen ist. Vincent ist chronisch in Geldnot und arbeitet derzeit bei McDonald's. Michèles Vater sitzt seit dreißig Jahren im Knast, seit er ein Massaker in einem Kindergarten veranstaltet hat, worunter Tochter und Ehefrau noch Jahrzehnte zu leiden hatten; das Trauma ist längst nicht bewältigt. Einziger Lichtblick ist der - aber auch etwas merkwürdige - Nachbar Patrick, dessen noch seltsamere Ehefrau sich ständig auf Pilgerreisen befindet.


    Philippe Djian erzählt die Geschichte im Präsens und aus der Ich-Perspektive; es sind also Michéles Gedanken und Worte, die wir lesen. Sie zeichnen das Bild einer attraktiven, aber auch gleichsam dumpfen, vielleicht abgestumpften Frau, die einzig noch im Job energisch und kompromisslos ist, während ihr Privatleben aus Katastrophen besteht oder auf solche zusteuert. Dramaturgisch ist das, was in "Oh ..." geboten wird, ein vorhersehbares Spektakel, bei dem es in um Freundschaft, Treue, vergangene Liebe, Lebensplanung, sexuelle Präferenzen, Unterwerfung und Manipulation geht. Dabei ist der Roman alles andere als erotisch, nicht einmal besonders anzüglich, sondern emotionsarm und gleichsam tonlos, also würde man Michèle durch eine halbtransparente Wand beobachten und auch nur undeutlich hören. Stilistisch und sprachlich bewegt sich Djian ebenfalls auf diesem Niveau, und der gedrängte Textfluss, in dem das Buch gesetzt wurde (übrigens auch das Original), so ganz ohne äußere Hilfsmerkmale, ohne optische Taktung oder gar voneinander getrennte Kapitel, trägt das seine dazu bei, wodurch die Erzählung wie die unschöne Fassade eines lieblosen Betonblocks wirkt - was in Ordnung wäre, ergäbe das eine nachvollziehbare, spannende, interessante Geschichte.


    Unterm Strich ist da diese Frau, der es, wie sie widerwillig erkennen muss, ganz gut gefällt, beim Sex hart angepackt zu werden, die den wichtigsten Menschen in ihrem Leben hintergeht, nämlich die Freundin Anna, der ziemlich egal zu sein scheint, welche Wirkung ihre Entscheidungen haben, die sehr eloquent ist und ein guter Beobachter, aber aus ihren Beobachtungen keine Schlüsse zieht und auf erschütternde Weise passiv bleibt. Kurz gesagt: Michèle ist äußerst uninteressant, "Oh ..." ist, euphemistisch gesagt, spröde erzählt - und ziemlich langweilig. Nach der gewalttätigen Schlusspointe bleibt die Frage, was das alles sollte, weit offen. Keine Ahnung, was Djian durch diesen Roman mitteilen wollte, aber zwischen fraglos feinen Dialogen, völlig absurden Entscheidungen und einem ... originellen Umgang mit sexueller Gewalt habe ich nichts gefunden, das mich hätte erreichen können. Um die Steilvorlage des Titels also aufzugreifen: Oh je.

  • Dieses Buch wurde ja sehr intensiv beworben. Und ich war bereit einen allerletzten Djian-Versuch zu wagen. Aufgrund deiner Rezension - herzlichen Dank dafür - lasse ich aber die Finger von diesem Buch. Gerade auch mit seinen letzten Büchern ist Djian zu einem echten Ärgernis für mich geworden.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Hallo, Voltaire.


    Zitat

    Gerade auch mit seinen letzten Büchern ist Djian zu einem echten Ärgernis für mich geworden.


    So ähnlich ging es mir auch. Dann habe ich hier und da etwas über "Oh ..." gelesen und dachte, Djian hätte vielleicht die Kurve gekriegt. Nun, er fährt nicht mehr geradeaus weiter, aber eine Kurve ist das auch nicht. (An dieser Stelle kann man sich den Satz über die unbekannten Autoren, von denen solche Bücher nie veröffentlicht würden, denken. :grin)

  • Auch ich danke für die aufschlußreiche Rezi. Djian hab ich mir schon vor Jahren irgendwie abgewöhnt, für mich hatte der Schriftsteller, der mich anfangs so begeisterte, nichts Neues mehr anzubieten. Irgendwie konnte ich keine Weiterentwicklung oder neue Facetten entdecken... "Ärgernis" trifft es da auch für mich ziemlich gut.
    Ich ahnte schon seit längerem, irgendwie verpasse ich nichts, wenn ich kein weiteres Werk mehr von ihm lese...

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Oh … - Philippe Djian


    Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
    Verlag: Diogenes


    Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz


    Kurzbeschreibung:
    »Oh …«, sagt Michèle nur, nachdem sie in ihrem Haus bei Paris überfallen wurde. Ausgerechnet sie, die knallharte Filmproduzentin, die immer genau weiß, was zu tun ist, verliert jeden Halt. Ein Buch über die beklemmende Hinwendung einer Frau zu einem gefährlichen Mann.


    Über den Autor:
    Philippe Djian, geboren 1949 in Paris, wechselte oft den Wohnsitz. Bisherige Stationen: New York, Florenz, Bordeaux, Biarritz, Lausanne und Paris. Auf einer Autobahnmautstelle, bei einem seiner Gelegenheitsjobs, tippte Philippe Djian seinen ersten Roman. Sein dritter Roman, ›Betty Blue‹, wurde zum Kultbuch. Für seinen jüngsten Roman ›Oh …‹ erhielt er 2012 den Prix Interallié. Der Autor lebt heute in Biarritz und Paris.


    Über den Übersetzer:
    Oliver Ilan Schulz, geboren 1970, lebt in München und Berlin. Er arbeitet in Teilzeit als Lektor und zudem als Literaturübersetzer und freier Autor. Er ist Diplompolitologe und staatlich geprüfter Übersetzer.


    Mein Eindruck:
    Oh… ist ein Roman, der mich überwiegend ratlos zurücklässt.


    Das Buch ist meiner Meinung nach ziemlich überfrachtet. Djians neuer Ansatz ist es, diesmal eine weibliche Perspektive zu wählen, Die Hauptfigur Michele ist geschieden, jedoch nicht wirklich mit ihrem Ex-Mann innerlich fertig, der Sohn will eine Frau heiraten, die von einem anderen schwanger ist, dabei ist er trotz seiner 24 Jahre kaum selbst erwachsen. Dann hat Michele noch eine lauwarme Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin, auch nicht sehr originell.
    Schließlich noch der Vater, der seit 30 Jahren wegen Kindesmord im Gefängnis sitzt und jetzt im sterben liegt.


    All diese Aspekte werden aber meist lapidar behandelt und kaum zueinander geführt.
    Man kann aber wohl daraus schließen, dass die Summer all ihrer negativen Erlebnisse sie zu einer emotional kalten, harten Frau gemacht hat.
    Ich bin aber nicht sicher, ob es in diesem Zusammenhang klug war, die Geschichte aus der ersten Person heraus zu erzählen. Aber das ist nun einmal die gewohnte Vorgehensweise von Philippe Djian.


    Dass Michele sich dann auch noch mit dem Mann einlässt, der sie vergewaltigt hat, kann man zunächst nur als obskure Idee des Autors werten.
    Auch wenn Michele in dem Machtspiel die Oberhand gewinnt, das immerhin wird ebenso deutlich wie die Schwäche aller Männer in diesem Roman.


    Er ist stilistisch wieder einmal sehr verknappt, dadurch wirken die Szenen zum Teil sehr chaotisch, manche Szenen auch nahezu hektisch. Das war auch schon beim letzten Buch “Wie die wilden Tiere” ein großes Manko.


    Was bleibt ist immerhin noch ein gewisser Drive in den einzelnen Szenen und einige sprachlich in ihrer Kargheit dann doch ansprechende Momente.
    Ein Grund warum ich, wie viele andere Djian-Leser trotz Enttäuschungen immer wieder auf seine Romane zurückgreifen, liegt darin, dass viele neuere Autoren selten etwas wagen und im Vergleich behäbiger und langweilig wirken. Das Warten auf den Kultautor der neuen Generation hält an.

  • Also, mir hat es ganz gut gefallen. Natürlich kommt es nicht ran an Betty Blue oder Erogene Zone. Bei weitem nicht. Dennoch für mich immer noch um Längen besser als das, was so auf den Bestsellerlisten steht.
    Gerade durch das Chaotische und Hektische hat mich das Buch berührt. Und uninteressant fand ich Michèle nun auch nicht. Nicht ne Frau, die ich unbedingt kennenlernen will. Aber uninteressant sicher nicht.
    Für eingefleischte Djian-Liebhaber sicher eine Enttäuschung. Aber wie soll sich so einer auch selbst noch überbieten? Geht mit mir Irving auch so, dass ich die letzten Romane jetzt nicht soooo fand. Aber immer noch besser als alles, was mir meine Buchhandlung in der Auslage aufs Auge drücken will.
    Daher geb ich mal 7 Punkte. Die hat er im Vergleich mit Shades of Grey und Vampir-Zeug etc. meiner Meinung nach verdient.


    Ich kenne übrigens jemanden, der noch nie was von Djian gelesen hat bisher. Und der fand dieses Buch genial und will unbedingt noch mehr von dem Autor lesen. Vielleicht findet man das Buch nur dann so wirklich schlecht, wenn man seine Meisterwerke kennt und auch immer ein solche von ihm erwartet. Gemessen an dem, was man sonst so im Buchhandel geboten bekommt, ist das für mich immer noch im oberen Sektor anzusiedeln.

    Man möchte manchmal Kannibale sein, nicht um den oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.


    Johann Nepomuk Nestroy
    (1801 - 1862), österreichischer Dramatiker, Schauspieler und Bühnenautor

  • Dieser Roman von Djian ist unter dem Titel Elle verfilmt worden, immerhin von Paul Verhoeven und mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle.


    Der Film lief auf dem Festival in Cannes.
    Deutscher Kinostart bleibt abzuwarten.


    Edit: Die DVD ist für Juli angekündigt.

  • Vorweg: Ich habe zuerst die Verfilmung „Elle“ mit einer famosen Isabelle Huppert gesehen, die mir insgesamt gut gefallen hat, allerdings in den entscheidenden Szenen zu stark auf Action getrimmt war.


    Zum Glück werden im Buch diese Stellen wirklichkeitsnäher dargestellt. Die Sprache ist knapp und die Sätze kommen schnell zum Punkt. 241 Seiten reichen auch vollkommen aus, um diese Geschichte zu erzählen. Ich weiß nicht, ob mir Michèle so glaubwürdig gespalten vorgekommen wäre, wenn ich beim Lesen nicht ständig Isabelle Huppert im Kopf gehabt hätte. Egal, sie war nun mal drin.


    Das Buch habe ich im Original gelesen und danach in der deutschsprachigen Diogenes-Ausgabe gestöbert. Dem Übersetzer Oliver Ilan Schulz ist die Übertragung der redundanzfreien Sprache gut gelungen.


    Fazit: Geniale Idee, gute Umsetzung! Macht Lust auf weitere Werke des Autors.