Schneewalzer. Ein Weihnachtskrimi - Birgit Ebbert

  • Birgit Ebbert: Schneewalzer. Ein Weihnachtskrimi, Meßkirch 2015, Gmeiner Verlag, ISBN 978-3839217382, Softcover, 308 Seiten, Format: 11,8 x 2,5 x 19,8 cm, Buch: EUR 11,99 (D) EUR 12,40 (A), Kindle Edition: EUR 9,99.


    „Wenn ich das richtig verstanden habe, ist eure Freundin Hanna seit einigen Tagen verschwunden, und ihr glaubt, dass ihr Geigenlehrer ihr etwas getan hat? (…) Dann müsst ihr das der Polizei melden.“ Was sollte Anja den Mädchen auch sagen? „Ich bin Buchhändlerin und keine Polizistin oder Detektivin.“ (Seite 9/10)


    Seit kurzem betreibt die Online-Buchhändlerin und gelernte Fotografin Anja Henke einen Krimi-Buchladen auf dem Adolf-Nassau-Platz in Hagen. Dass auf dem Weihnachtsmarkt eine Schülerin verschwunden ist, weiß sie aus den Medien und nimmt daran so viel Anteil wie andere Zeitungsleser auch - bis zwei zehnjährige Mädchen in ihrem Laden ein Suchplakat aufhängen wollen. Emily und Giulia sind Schulfreundinnen der vermissten Hanna und gehen davon aus, dass eine Krimibuchhändlerin Detektivarbeit leisten kann. Sie erwarten von Anja, dass sie Hanna suchen geht. Einen Verdächtigen präsentieren sie ihr auch gleich: Hieronymus Doll, Hannas Geigenlehrer. Der habe immer so komisch geguckt, wenn sie spielte. Er hat ihr bestimmt etwas angetan.


    Eine Krimi-Expertin ist kein Privatdetektiv
    Anjas Mann Oliver und Tobias, ihr erwachsener Sohn aus erster Ehe, finden die Idee von „Mama Marple“ ausgesprochen komisch. Tochter Ida, 6, hat dazu noch keine Meinung.


    Weil die Emily und Giulia jeden Tag wieder in den Laden kommen, neue Details aus Hannas Leben erzählen und Ergebnisse sehen wollen, bleibt Anja gar nichts anderes übrig, als Nachforschungen anzustellen. Das tut auch ihre Stammkundin, die ziemlich anstrengende pensionierte Grundschullehrerin Qualmann. Die hat ihre eigene Theorie: Bestimmt hat der bulgarische Geiger die kleine Hanna aus dem Verkehr gezogen, weil sie den „Schneewalzer“ besser spielt als er.


    Unter verschiedenen Vorwänden spricht Anja mit dem Geigenlehrer und den Eltern der Vermissten. An den bulgarischen Straßenmusikanten, die an jeder Ecke herumstehen, beißt sie sich allerdings die Zähne aus. Die müssen doch etwas mitgekriegt haben, zumal Hanna ebenfalls auf dem Weihnachtsmarkt musiziert hat. Sie hat Geige gespielt, um Geld für ein besonderes Weihnachtsgeschenk zu verdienen. Das kann den Bulgaren nicht entgangen sein. Aber die Burschen lassen sich nicht ausfragen. Sie haben einen rabiaten Boss, der Kontakte zu Behörden und neugierigen Privatpersonen zu verhindern weiß. Am kooperativsten ist noch der Akkordeonspieler. Aber der ist plötzlich weg.


    Insider-Informationen aus dem Freundeskreis
    Eigentlich ist es ja verrückt, wenn sich eine Buchhändlerin aufmacht, um einen Vermisstenfall aufzuklären. Dafür gibt’s die Polizei. Aber für Anja Henke fühlt das irgendwie völlig normal an, schließlich befasst sie sich Tag für Tag mit Kriminalfällen. Dazu kommt, dass sie eine Freundin beim LKA Düsseldorf hat. Auch Kriminalhauptkommissar Gerd Neubert von der Kripo in Hagen geht bei ihr im Laden ein und aus. Er ist für den Vermisstenfall zuständig. Da bleibt es natürlich nicht aus, dass die Buchhändlerin die eine oder andere Insider-Information aufschnappt.


    Sie nimmt ihre privaten Ermittlungen sehr ernst und gibt ihre Erkenntnisse zuverlässig an die Polizei weiter. Ob es sich um mafiose Strukturen bei den Straßenmusikanten handelt, um den möglichen Verbleib von Hannas wertvoller Geige oder um das, was Verwandte und Bekannte von Hanna ihr im Vertrauen erzählt haben: Das Mädchen hat sich anscheinend verfolgt und bedroht gefühlt. Doch bei der Polizei nimmt man Anja nicht so ganz für voll. Dateien und Nachrichten, die sie schickt, versickern gern mal im Nirgendwo. Selbst dann noch, als der Fall eine dramatische Wendung nimmt und man nicht mehr davon ausgehen kann, dass hier ein gedrilltes und misshandeltes Kind vor seinem Peiniger davongelaufen ist. Erst eines von Anjas zahlreichen Weihnachtsmarkt-Fotos löst bei den Beamten hektische Aktivität aus …


    Eine sympathisch-bodenständige Heldin
    Eine sympathische und bodenständige Krimi-Expertin, die zufällig in die Rolle einer Privatermittlerin rutscht – das hat was. Und ein Krimi, der ohne Liebesgeplänkel der Hauptfiguren auskommt, ist überaus erholsam. Anja hat in Oliver Henke, ihrem Ehemann Nr. 2, den Traumprinzen längst gefunden und lebt mit ihm und den Kindern in einer erfreulich unperfekten Patchworkfamilie. Nicht immer schafft Anja den Spagat zwischen Beruf, Familie und ihrer Detektivarbeit. Man kann eben nicht gleichzeitig Bücher verkaufen, Verdächtige observieren und die Schulaufführung der Tochter besuchen.


    Anjas Buchladen wirkt so real. Kaum zu glauben, dass er nur in der Phantasie der Autorin existiert! Es würde mich nicht wundern, wenn jemand auf die Idee käme, ihr Geschäftskonzept zu kopieren, samt der praktischen Organisationstipps, die Anja von ihren zahlreiche Netzwerkkolleginnen bekommen hat. Und stimmt es wirklich, dass keine Krimis gibt, die in der DDR spielen, wie eine von Anjas Kundinnen behauptet? Krimis, die während der Nazizeit angesiedelt sind, existieren sehr wohl, da irrt sich die Kundin. Da wäre z.B. die Bronstein-Reihe von Andreas Pittler. Und Krimis im Musikermilieu gibt’s auch: Batya Gur und Donna Leon haben welche geschrieben. An dieser Stelle hätte ich mich am liebsten in das Verkaufsgespräch eingemischt! ;-)


    Figuren mit Serien-Potenzial
    Aus den geheimnisvollen Andeutungen, die Birgit Ebbert über die Vorgeschichte des Kommissars macht, schließe ich, dass da noch was kommt. Das Gefühl habe ich auch bei Anjas schusseliger Mitarbeiterin Britta. Über die wissen wir auch noch längst nicht alles, was es zu wissen gibt. Vermutlich geht die fotografierende Krimi-Buchhändlerin in Serie. Ich würde das sehr begrüßen.


    Wer sich in Hagen auskennt, wird bei Anjas Kamera-Streifzügen durch die Stadt spontan Bilder vor Augen haben. Wer zu Hagen überhaupt keine Beziehung hat, bei dem passiert natürlich nichts. Der muss googeln, wenn von der alten Stadthalle mit der Kuppel oder dem Närrischen Reichstag die Rede ist. Bei einem Regionalkrimi haben eben die Leser aus der jeweiligen Region einen Heimvorteil. Das ist das Konzept. Der Krimi-Handlung kann man aber auch ohne Ortskenntnis problemlos folgen.


    Die Autorin
    Birgit Ebbert, geb. 1962 in Borken/Westfalen, studierte in Bonn und Münster Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie. 1993 promovierte sie über Erich Kästner. Nach Stationen in Stuttgart und Bochum lebt sie heute in Hagen und ist als selbstständige Unternehmerin und als freie Autorin tätig. Sie kann auf eine Vielzahl an Veröffentlichungen im Bereich Jugendbuch, Ratgeber und Lernhilfen zurückblicken.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

    Dieser Beitrag wurde bereits 2 Mal editiert, zuletzt von Vandam ()

  • Aus der Onleihe unserer Stadtbibliothek habe ich mir das Buch auf meinen E-Reader geladen (epub ). Ich freue mich auf diesen Krimi. Deine Rezi hat mich wirklich neugierig auf das Buch gemacht, Vandam.

    Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne. (Jean Paul)



  • Passend zu den letzten Tagen vor Weihnachten habe ich Schneewalzer gelesen. Ich habe die Buchhändlerin Anja und ihre Familie und Bekannten gern bei ihren Ermittlungen begleitet und immer mitgerätselt, was denn nun mit der kleinen Geigenspielerin passiert ist.


    Aber fast noch lieber war ich einfach mit in Anjas gemütlicher Krimibuchhandlung - die hätte ich gern "in echt" hier um die Ecke, da wäre ich sofort Stammkunde. :lache


    Hagen kenne ich bisher nicht, aber ich fand die Beschreibungen der Stadt schön zu lesen und habe jetzt mein eigenes Hagen vor Augen. :grin


    Von mir bekommt das Buch 9 Punkte und ich muss gleich mal nach weiteren Büchern der Autorin schauen... :-)

  • Ich hatte das Buch "Wer mordet schon im Ruhrgebiet" der gleichen Autorin gelesen. Aus dieser Kurzgeschichten-Sammlung ragten für mich die Geschichten mit der Hagener Krimibuchhändlerin Anja Henke heraus. Auch in "Schneewalzer" gefällt mir die Art und Weise, in der Birgit Ebbert die Geschichte erzählt. Ihre Heldin zeichnet sich aus durch eine Hartnäckigkeit, die aus Empathie geboren ist. Den im Klappentext verwendeten Begriff "Hobbyermittlerin" empfinde ich insofern als unzutreffend, denn die eigene Erbauung oder ein besseres Selbstwertgefühl sind das Letzte, was die Protagonistin dazu bringt, eigene Ermittlungen anzustellen. Hinter sich hat sie ein sympathisches "Team", nämlich in erster Linie die Familie mit einem Ehemann, der sie immer wieder bestärkt und auffängt, einem gerade erwachsenen Sohn, der im Internet alles möglich macht und ein Händchen dafür hat, dafür zu sorgen, dass seine kleine Schwester nicht zu viel von den kriminellen Machenschaften mitbekommt, und einer gerade eingeschulten Tochter, die mit kindlicher Neugier und Unbefangenheit manchmal genau die richtigen Fragen stellt. Die etwas verrückte LKA-Mitarbeiterin Dorothee vervollständigt den Kreis der Helfer.

    Birgit Ebbert bettet die Handlung gekonnt ins Leben ihrer Heldin ein, die in erster Linie Buchhändlerin, Fotografin und Mutter ist. Sie schafft eine Heldin, die nicht frei ist von Zweifeln und manchmal überfordert. Mir gefällt, dass Anja Henke derart normal rüberkommt, sie ist weder eine Superheldin, die jeden Fall mit links löst, auf jede Frage sofort eine Antwort hat und durch nichts und niemanden aufzuhalten ist, noch die meiner Meinung nach viel zu verbreitete Spezies von abgehalftertem Privatdetektiv, die man nur noch bemitleiden kann.

    Erzählt wird die Geschichte in einem gut lesbaren Stil. Der Ton wechselt abhängig von der Szene, kann humorvoll, aber auch ernst und nachdenklich sein. Ein paar Figuren sind etwas überzeichnet, aber selbst das ist so in die Geschichte verpackt, dass man es nicht als störend wahrnimmt.