Am Rand - Hans Platzgumer

  • Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
    Verlag: Paul Zsolnay Verlag
    2016


    Kurzbeschreibung:
    Ein Mensch steigt früh am Morgen auf einen Berg. Sobald es dunkel ist, will er einen letzten Schritt tun. Schon immer lagen der Tod und das Glück für Gerold Ebner nah beieinander. Als Kind hat er seinen ersten Toten gesehen. Später hat er zwei Menschen eigenhändig den Tod gebracht: Er erlöste seine Mutter vom terrorisierenden Großvater und seinen besten Freund von dessen Leiden. Doch ist er damit zum Mörder geworden? Noch einmal entscheidet sich Gerold gegen das Gesetz und findet so sein eigenes Glück, das ihm der Tod wieder nimmt ... Fesselnd bis zum Schluss schildert der Ich-Erzähler die Ereignisse, die ihn an den Rand eines Felsens geführt haben.


    Über den Autor:
    Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte an der Musikhochschule in Wien, absolvierte ein Filmmusik-Studium in Los Angeles und veröffentlicht in unterschiedlichen Formationen elektronische Musik. Er schreibt Romane, Hörspiele, Opern, Theatermusik und Essays.


    Mein Eindruck:
    Ein Mann steigt auf einen Berg in Österreich und steht am Rand. Nur einen Schritt muss er noch tun, in den Abgrund.
    Was Gerold dazu brachte, schreibt er auf. Es ist ein intensiver Bericht mit vielen bildhaft starken Szenen, die Heraufbeschworen werden. Er zeigt die vaterlose Kindheit, die Jugend in der sozialen Unterschicht, und ein Leben als erfolgloser Schriftsteller, der von Arbeiten auf dem Bau oder als Getränkelieferant lebt.
    Oft im Leben begegnet Gerold dem Tod, einst fand er als Kind einen alten, verstorbenen Nachbarn, zwei Mal gab er selbst den Tod. Er tötete seinen tyrannischen Großvater und später leistete er Sterbehilfe bei einem schwer kranken Freund.
    Doch es gibt auch eine Zeit des Glücks, er hat die Beziehung mit Elena, einer unabhängigen Frau und eines Tages finden sie gemeinsam ein kleines Kind.


    Das Buch ist in einer kühlen, präzisen und ökonomischen Sprache verfasst. Als Leser fühlt man sich durch diese Sprache selbst auf den Berg, in kalter, reiner Luft, versetzt. Und der Ton dieser Sprache ist nicht distanziert und gleichgültig. Als Leser fühlt man intensiv mit.


    Ich habe lange am Stück gelesen, soghaft gerät man in die Geschichte und nah an den Icherzähler, der schließlich einen entscheidenden Verlust erfährt.


    Eigenwillig geschrieben, ist “Am Rand” ein außergewöhnliches Buch, ein echtes Stück Literatur.

  • Angekommen im Dazwischen


    „Irgendwann …[hat jeder] den Punkt erreicht, wo jedes Leben dem anderen zu gleichen beginnt, jedes ein ähnlich mickriges wird, aber keines mickrig genug, und jedes sowohl zu lang als auch zu kurz.“ S. 7 So erzählt es der Ich-Erzähler dem Leser, spricht ihn häufig direkt an „Eigentlich wollte ich, bevor ich die Wohnung verließ, Sarahs Nachtlicht löschen,
    wie ich es tagsüber immer tat, aber das habe ich in der Aufregung vergessen. Ich bitte Sie, schalten Sie das Lichtchen für mich ab. Ein kleiner Schiebeschalter an der rechten Seite, Sie werden ihn finden.“ S. 9f Der Mann, der hier mit mir spricht, heißt Gerold Ebner – das erfahren wir erst auf Seite 20, der Name wird selten wiederholt, er scheint nicht wichtig zu sein. Wir beobachten ihn bei einer Bergtour samt ihrer Vorbereitungen, zielgerichtet, geordnet, ohne Hast – fokussiert. Er besteigt den Bocksberg in Österreich, im Vinschgau – und dort, am Rand zum Abgrund, beginnt er, sein Manuskript zu schreiben. Das, was da stattfindet, ist eine Art schriftgewordener Meditation, ein Geständnis, eine Beichte.


    Die Sprache ist bildhaft „Ab einer gewissen Höhe frisst das Weiß des Himmels das Grün von den Berghängen, enden Wiesen und Bäume, nur karge Schotterflächen ziehen sich noch weiter hinauf zu den der Sonne entgegengestreckten Gesteinsglatzen.“ S. 20 Die Geschichte zieht mich in ihren Sog, lässt mich hinterher atemlos zurück – begeistert von der Erzählweise, aber herausgefordert von der Geschichte Gerold Ebners.


    Gerold – der Herrscher mit dem Speer, geboren 1969, Sohn einer ehemaligen Prostituierten, die sich für dieses Kind entschieden hatte, danach fromm im Kloster arbeitet. Sie ist Südtirolerin. Wir lesen über die ausgrenzende Siedlung der Landsleute, die es seit dem Pakt zwischen Hitler und Mussolini vielfach in Österreich gibt. Es gibt Bandenkriege unter den Jungs, wilde Mutproben, Freundschaften. Die Jobs, die es für die Jungs von dort gibt, sind selten gesund für sie. Wir lesen von Gerolds Tätigkeit als Schriftsteller, seinem Versagen dabei, den Aushilfsjobs. Wir lesen über den Tod.


    Autor Hans Platzgumer platziert so einige Besonderheiten in diesem Roman, wie ein hineingemogeltes alter ego „Hansi Platzgummer“ (laut Wikipedia ist „Johann Platzgummer“ der Geburtsname des Autors), Musiker, in New York als Musiker tätig gewesen (beides wie der Autor). Ein bisschen „meta“, aber noch originell. Wir lesen von Schrödingers Katze und weitere Erörterungen über Physik, alle Kapitel beginnen mit „Hitotsu“, erstens, wie die Grundsätze des häufig bemühten Karate, bei denen alles gleich wichtig ist – aber da sind wir noch nicht im Ansatz am Kern der Geschichte.


    Gerold Ebner sitzt auf dem Berg und legt eine Beichte ab. Er stellt zur Diskussion, wann es gerechtfertigt ist, einen anderen Menschen zu töten. Dabei ist Sterbehilfe, eingefordert vom Jugendfreund, nur eines – Ebners Darstellungen des Erstickens eines Menschen erinnern mich irgendwie an den Hitchcock-Film „Torn Curtain“ in ihrer Dauer und Vehemenz (auch wenn dort erwürgt wird). Der Leser bekommt Fragen aufgeworfen zu (unterstütztem) Selbstmord, zu Liebe, Ausbrechen aus Gewohnheiten, Familie. Ein Roman, den man erst einmal sacken lassen muss, wenn klar wird, welche verschiedenen Kulminationspunkte die Andeutungen im Verlauf der Geschichte finden.