Ann Patchett: Die Taufe

  • Ann Patchett: Die Taufe
    Berlin Verlag 2017. 400 Seiten
    ISBN-10: 3827013445 ISBN-13: 978-3827013446. 22€
    Originaltitel: Commonwealth
    Übersetzerin: Ulrike Thiesmeyer


    Verlagstext
    Wäre Bert Cousins nicht uneingeladen auf der Taufe von Franny Keating erschienen, all das wäre nicht passiert. Aber noch bevor der Abend hereinbricht, haben er und Frannys Mutter sich geküsst und damit das Ende ihrer jeweiligen Ehe eingeläutet - und beide Familien für immer miteinander verbunden. Die Keating- und Cousinskinder werden zukünftig die Sommer gemeinsam in Virginia verbringen. Sie schmieden über die Jahre ein dauerhaftes Bündnis, sowohl aus Enttäuschung über die eigenen Eltern, als auch aus echter, stetig wachsender Zuneigung. Bis es zwanzig Jahre danach ein neues Familiendrama gibt: "Täufling" Franny hat eine Affäre mit einem berühmten Schriftsteller. Sie erzählt ihm die Keating-Cousins-Story, und plötzlich wird ihrer aller Kindheit die Grundlage für einen unglaublich erfolgreichen Roman. Die unerwünschte Öffentlichkeit zwingt die Geschwister, sich ganz neu mit ihren Verlusten, ihren Schuldgefühlen und ihrer Loyalität auseinanderzusetzen.


    Die Autorin
    Ann Patchett hat bisher fünf Romane veröffentlicht, darunter „Bel Canto“, ein internationaler Bestseller, für den sie den Orange Prize for Fiction erhielt. Sie lebt in Nashville, Tennessee, wo sie die Parnassus-Buchhandlung führt. Zuletzt erschien im Berlin Verlag „Fluss der Wunder“.


    Inhalt
    Francis (Fix) Keating arbeitet als Polizist in Los Angeles und gehört zur eingeschworenen Gemeinschaft irischer Cops. Seine Töchter erzieht er voller Stolz als Polizistentöchter. Wenn der Vater davon träumt, als Erwachsener doch noch ein Jurastudium abzuschließen, weiß eine Polizistentochter vermutlich nicht so genau, ob Jura schon immer ihr Traum war oder ob sie die ungelebten Träume ihres Vaters verwirklichen muss. Als Anfang der 1960er Jahre zur Taufe von Keatings jüngster Tochter Frances als Gast der Bezirksstaatsanwalt Albert Cousins auftaucht (ein rein dienstlicher Termin, wie Cousins betont), besiegelt er damit das Ende seiner Ehe und der der Keatings. Zurück bleiben zwei geschiedene Ehen und 6 Kinder, die in einer eigenwilligen Patchwork-Konstellation wie Geschwister aufwachsen werden. Teresa Cousins fühlt sich von Beruf und vier Kindern von Anfang an überfordert und verschiebt Probleme gern in die langen Sommerferien, die die vier Cousins-Kinder bei ihrem Vater und Beverley Keating verbringen. Dort wachsen die zwei Jungen und vier Mädchen in großer Freiheit auf, die man auch als Vernachlässigung bezeichnen könnte. Dass ältere Geschwister auf die Jüngeren schon aufpassen werden, erweist sich als Selbsttäuschung, die den Kindern zwar große Freiheiten lässt, leider auf Kosten des jüngsten Sohnes Albert. Zu Beginn der 1990er entdeckt Albert zufällig, dass seine Familiengeschichte in einem bekannten Roman „Die Taufe“ verarbeitet worden ist und Franny eine Affäre mit dem Autor des Romans hat.


    In Rückblicken und größeren Zeitsprüngen faltet Ann Pratchett Erlebnisse der Cousins-Keating-Bande auf. Erzählt wird warmherzig und mit leiser Ironie. Die längeren Kapitel spielen Mitte der 1970er, als Albert 15 Jahre alt ist, zwischen 1980 und 1990, als Franny als Barmädchen arbeitet und Albert nach Jahren wiederbegegnet, und zu Beginn der 2000er, als der circa 70-jährige Francis während seiner Krebsbehandlung Tochter Franny seine Erinnerungen erzählt. Fixpunkte sind Francis Geburtsjahr 1931 und die Information, dass seine Tochter Caroline nach 1957 geboren sein muss. An welchen Punkten sich die Lebensläufe der Kinder kreuzen, wird nur sehr nebelhaft angedeutet, so dass die Handlungsfäden schwer miteinander zu verbinden sind.


    Fazit
    Die Patchwork-Situation der sechs Kinder, wie auch der Kontrast zwischen irisch-katholischen Werten und dem gelebten Familienleben liefern genug Stoff für einen Familienroman, die aufgesetzte Konstruktion des Plots finde ich jedoch komplizierter als nötig.


    7 von 10 Punkten

  • Wo sich zwei Wege kreuzen, entstehen zwei Abzweigungen


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    Als der Stapel bislang ungelesener Bücher allmählich abgetragen war, fiel mir dieser Roman in die Hände, den ich vor plusminus zwei Jahren aufgrund des Klappentextes als Urlaubslektüre gekauft, dann aber immer wieder vor mir hergeschoben habe, weil ich Cover und Titel doch eher unspannend fand. Der Roman heißt im Original allerdings „Commonwealth“, also sinngemäß „Gemeinwesen“ – der deutsche Titel „Die Taufe“ fokussiert lediglich auf das Ereignis, mit dem die Geschichte beginnt. Hier werden zwar sämtliche Voraussetzungen für die folgenden Ereignisse geschaffen, aber die Taufe selbst ist für den Rest der Story belanglos. Anders gesagt: Es geht nicht um eine Taufe in „Die Taufe“.


    Im Jahr 1964 feiern die Keatings – der Polizeidetective Fix und seine hinreißend schöne Frau Beverly – besagte Taufe ihrer zweiten Tochter Frances, genannt Franny. Das Haus ist voll, viele Nachbarn, Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen sind gekommen. Und irgendwann am frühen Nachmittag klingelt Albert Cousins an der Tür, bewaffnet mit einer großen Flasche Gin als für eine solche Gelegenheit eher ungewöhnliches Mitbringsel. Der gutaussehende stellvertretende Bezirksstaatsanwalt, der selbst Familienvater ist, ist zwar nicht eingeladen, aber der Tag ist heiß und man ist gesellig. Aus der Feier wird ab diesem Punkt eine Party, die Nachbarn schaufeln frisch gepflückte Orangen herbei (dieser Anfang spielt in Los Angeles), dazu Tequila und Wodka - und was sonst noch so in den Hausbars herumsteht. Aber daran liegt es nicht, dass sich der ungebetene Besucher und die Mutter des Täuflings irgendwann heimlich sehr intensiv küssen. In der Folge zerbrechen zwei Ehen, aber es entstehen neue Verbindungen und Verstrickungen. Die Taufe ist der Ausgangspunkt einer Vielzahl von Geschehnissen, Wendungen und Begegnungen, die es allesamt nicht gegeben hätte, wenn Albert „Bert“ Cousins nicht einer Laune nachgegeben und diese Feier aufgesucht hätte.


    Der Roman endet viele Jahre später fast in der Jetztzeit, aber dazwischen hat er es wahrhaftig in sich. Ann Patchetts Erzählstil und ihre Sprache sind zum Niederknien – von wuchtiger Präzision, zugleich aber auch hinreißend schön, sehr bildhaft, und über die Maßen zwingend. Wenn man sich an ihre Eigenart gewöhnt hat, Rückblenden und (jeweilige) Gegenwartshandlung sehr abrupt zu mischen, entfaltet sich eine starke, beeindruckende, spannende und vielschichtig aufgebaute Erzählung, die ohne Zweifel als „Great American Novel“ bezeichnet werden kann, als einer jener (wenigen) Romane also, die es schaffen, das Wesen der amerikanischen Gesellschaft anhand einiger Schicksale nachzuzeichnen und exemplarisch für alles Mögliche zu stehen. Und sozusagen den Stand der Dinge, was die literarische Qualität anbetrifft, abzubilden.


    Vor allem aber macht es großen Spaß, die oft tragische, jedoch sehr optimistisch erzählte Geschichte von Franny und ihren Geschwistern, Ehegatten, Kindern, Eltern, Verwandten und Freunden zu lesen, von Begegnungen, die große Wirkung in der Zukunft haben, und anderen, die es nie gegeben hätte, wenn nicht vor langer Zeit irgendwas Bestimmtes geschehen wäre. Ann Patchett zeichnet das Leben ihrer Figuren als ein Geflecht von Pfaden, die sich gekreuzt haben, und jede der sich daraus ergebenden Abzweigungen hätte in ein anderes Leben geführt als dasjenige, von dem wir hier zu lesen das Vergnügen haben (oder umgekehrt). Es ist, einfacher gesagt, eine Geschichte darüber, wie sehr ein Leben das andere beeinflussen kann.


    Ich freue mich über die späte Zufallsentdeckung und habe sofort „Bel Canto“ – für den die Autorin den PEN/Faulkner Award erhalten hat – auf die Leseliste genommen. Ann Patchett gehört für mich in eine Reihe etwa mit Annie Proulx und John Updike.