Lize Spit: Und es schmilzt

  • Lize Spit: Und es schmilzt
    S. FISCHER 24.8.2017. 512 Seiten
    ISBN-10: 3103972822
    ISBN-13: 978-3103972825. 22€
    Originaltitel: Het smelt
    Übersetzerin: Helga van Beuningen


    Verlagstext
    Ein Buch, das alles gibt und alles verlangt.
    Mit geschlossenen Augen hätte Eva damals den Weg zu Pims Bauernhof radeln können. Sie könnte es heute noch, obwohl sie viele Jahre nicht in Bovenmeer gewesen ist. Hier wurde sie zwischen Rapsfeldern und Pferdekoppeln erwachsen. Hier liegt auch die Wurzel all ihrer aufgestauten Traurigkeit.
    Dreizehn Jahre nach dem Sommer, an den sie nie wieder zu denken wagte, kehrt Eva zurück in ihr Dorf – mit einem großen Eisblock im Kofferraum. Die junge Bestsellerautorin Lize Spit wagt sich mit ihrem ersten Roman »Und es schmilzt« an die Grenzen des Sagbaren.


    Die Autorin
    Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman „Und es schmilzt“ stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste und gewann zahlreiche Literaturpreise, darunter den Bronzen Uil Preis für den besten Debütroman und den Dutch National Bookseller Award.


    Interview


    Inhalt
    Die Icherzählerin Eva ist auf den Hof ihres Jugendfreundes Pit zur Einweihung seines neuen Melkcomputers und zugleich zum Gedenken an seinen verstorbenen Bruder Jan eingeladen. Eva stammt aus Bovenmoor, einem kleinen flämischen Polderdorf und ist wie die Autorin Lize Spit 1988 geboren. Ihr Bruder Jolan ist drei Jahre älter, Schwester Tesje drei Jahre jünger. Auf den Weg nach Bovenmoor nimmt Eva eine Eisplatte mit, die sie für diesen Zweck in der Kühltruhe der Nachbarn gefrieren ließ. In Rückblenden erinnert sie sich an die Ereignisse im Sommer 2002, als sie 13 war und mit Laurens, dem Schlachtersohn, und Pim, dem Bauernsohn, als die „Drei Musketiere“ unterwegs war. Weil in ihrem Jahrgang zu wenige Kinder geboren wurden, unterrichtete die Lehrerin die Dreierbande als Beiklasse zusammen mit eine älteren Klasse. Eva wächst in einer dysfunktionalen, desinteressierten Familie auf; die Eltern trinken und sind vermutlich psychisch krank. Die jüngere Schwester Tesje zeigt eine Reihe von beunruhigenden Zwängen, so dass Eva für ihre Eltern und ihre Schwester stets mit dem Schlimmsten rechnet, wenn sie ins Haus der Familie zurückkehrt. Nur in Häusern, in denen keine Katastrophen lauern, fühlt sie sich sicher. Monströse Ereignisse zogen Eva schon immer an; denn wer im Dorf etwas darstellen wollte, musste etwas zu erzählen haben. Pim und Laurens nehmen bei den Drei Musketieren die Rollen obsessiver Forscher ein, sie befassen sich zunächst theoretisch mit den Körpern der Mädchen aus ihrer Schule. Eva dient bei sonderbaren Spielen ihrer Freunde als Scriptgirl und Komplizin, sie agiert wie ein Junge, der irritierender Weise eine Menstruationsblutung bekommt. Mit den Veränderungen ihres Körpers bleibt sie alleingelassen und vertraut sie nur den Lesern des Romans an.


    Nach nostalgischen Exkursen in die 90er Jahre mit gelungenen Bildern und Dialogen eskalieren die pubertären Streiche von Laurens, Pim und ihrer willigen Assistentin in einem Gewaltexzess, der mich in seinem Ausmaß ratlos zurückließ. Ob im Dorf fern von Hilfsangeboten niemand den psychischen Abstieg der Familie de Wolf und das Abgleiten der Drei Musketiere wahrgenommen haben will, habe ich mich gefragt. Bei drastischen Gewalt- und Vernachlässigungs-Szenen wie hier kann weniger oft mehr sein.


    Fazit
    Als Shooting Star der Flämischen Literatur legt Lize Spit einen Roman über Pubertierende in der flämischen Provinz vor, dessen Gewaltszenen mich in ihrem Umfang abstießen. Die gleichmütige Reihung von Gewalt und Vernachlässigung wirkte als schier unglaublicher Sumpf aus Beschränktheit und Gewalttätigkeit in der belgischen Provinz. Die erwachsene Protagonistin protokolliert, ohne im Rückblick zu reflektieren, wie sie sich in die gewalttätigen Machenschaften ihrer Freunde verstricken konnte. Kaum zu glauben, dass so etwas zu Beginn unseres Jahrhunderts stattfinden konnte, aber die Schilderung wirkte auf mich wie ein Wettbewerb um die krasseste Pubertät und die hinterwäldlerischste Provinz. Wer bisher meinte, in einem engstirnigen Kaff eine schreckliche Kindheit verbracht zu haben, wird sich eines Besseres besinnen … Das Rätseln um Jans Tod, um den Zweck der Eisplatte und die über allem drohende Eskalation bauten zwar von Anfang an Spannung auf, aus der Feder einer inzwischen erwachsenen Erzählerfigur ist mir diese Reihung ohne Reifung der Figur jedoch zu schlicht gestrickt. Mir fehlt ein tieferer Einblick in Sein und Bewusstsein von Spits Figuren aus Evas Sicht. Um in den Hype um einen 500-Seiten-Erstlingsroman einzustimmen, genügen mir nüchtern wiedergegebene Gewaltszenen nicht. Spits Erstling wirkt leider nur wie ein Wallpaper zum Foto-Shooting für die Marke Lize Spit.


    6 von 10

  • Das Buch wird in der Ich-Form von der Protagonistin Eva in zwei Handlungssträngen erzählt, einmal in der Gegenwart, in der sie mit einem Eisblock im Kofferraum von ihrer jetzigen Wohnung in der Großstadt zurück in ihr kleines belgisches Heimatdorf fährt, und einmal im ereignisreichen Sommer 2002.
    Es war ein ziemlich düsteres Leseerlebnis, Evas familiäres Umfeld deprimierend. Wenn es mir auch manchmal etwas zu brutal wurde, fand ich es trotzdem recht gut erzählt. Auch das Ende erscheint irgendwie folgerichtig, wenn auch traurig.
    Ich bedanke mich, dass ich dieses Buch als Wanderbuch lesen durfte, und vergebe 7 von 10 möglichen Eulenpunkten.
    :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Ich durfte das Buch als Wanderbuch lesen und tue mich irgendwie schwer mit einer Bewertung, ich empfand das Buch allgemein als sehr widersprüchlich. Man liest in zwei Zeitebenen von Eva, einmal als Erwachsene, die sich mit einem Eisblock auf den Weg in ihr Heimatdorf macht und einmal als Heranwachsende in eben diesem Dorf. Zusammen entfalten sich die Ereignisse, die sich Jahre vorher abgespielt haben, bis man im letzten Moment den Zusammenhang und den Bezug zu heute erkennt. Alles im Dorf ist geprägt von einer sehr deprimierenden Grundstimmung, die Eltern, Geschwister, Bewohner, jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber nichts davon schafft es groß mich zu berühren. Ja es ist schlimm, auch die pubertären und später richtig schlimmen Dinge, die passieren, aber so ganz nimmt mich das Buch nicht mit. Auch das mit dem Eisblock hab ich erst spät kapiert. Irgendwie lässt einen das Buch sprachlos zurück, irgendwie aber auch seltsam unberührt, ich kann es nicht besser in Worte fassen. Gefallen hat es mir nicht sehr, ich fand es einfach zu langatmig, schade! 5/10 Punkten!

  • Der letzte Sommer – oft wird er in Romanen bemüht, wenn es um den Ende eines Lebensabschnitts geht. Meist wird ein wehmütiger Blick auf diesen letzten Sommer geworfen, sei es, weil die Kindheit endet oder ein gemeinsamer Lebensabschnitt oder gar ein ganzes Leben.
    Wehmütig ist der Blick von Eva nicht, den sie auf einen ganz bestimmten Sommer in ihrer Vergangenheit wirft. Lange kann man nicht ausmachen, wie ihre Stimmung ist, während sie emotionslos von der Kindheit in ihrem kleinen Dörfchen erzählt, allerdings merkt man von Anfang an, dass es damals etwas gegeben hat, das sie immer noch beschäftigt – so sehr, dass sie mit einem Eisblock im Kofferraum unterwegs ist zu ihrem ehemaligen Schulfreund Pim. Anlass ist der Todestag von Pims Bruder Jan und die Einweihung einer neuen Maschine auf Pims Hof.


    Während der Fahrt in ihre alte Heimat blickt Eva zurück und Stück für Stück setzt ihre Erinnerung ein düsteres Puzzle zusammen, bis man ganz am Ende ein Bild erhält, das man, genau wie sie, so schnell nicht wieder vergessen kann. Und erst sehr spät beginnt man alles zu verstehen.


    Es geht vordergründig um die Freundschaft zwischen Eva, Pim und Laurens, die sich „Die drei Musketiere“ nennen und die schon einige Sommer ihrer Kindheit zusammen verbracht haben. Oberflächlich betrachtet, ist es eine ganz normale Kindheit, doch in den Rückblicken Evas schwingt immer etwas mit, das ahnen lässt, wie zerbrechlich Beziehungen sein können. Und neben den Freunden lernt man dann auch noch unfreiwillig Evas Familie kennen, die eigentlich keine ist.


    So ergibt sich das Bild eines Sommers, in dem es letztlich um Verstörung, Zerstörung, um Freundschaft und bitteren Verrat geht; sachlich und spröde durch Eva seziert - und man begreift, dass die Sachlichkeit, eigentlich ein einziger Schrei nach Hilfe ist.
    Die Sprachgewalt ist mitreißend, sie fasziniert, lässt einen nicht los. Man möchte wegsehen, weghören und kann es doch nicht lassen, obwohl man immer mehr ahnt, worauf alles hinauslaufen wird. Ein unglaublich fesselndes Leseerlebnis.
    10 Eulenpünktchen dafür.

  • Wird ein Buch hochgelobt, bin ich besonders kritisch. Fangen wir mit dem Cover an, das doch eher zum Genre „Contemporary Romance“ passt. Ärgerlich waren die ersten 395 Seiten, die ein guter Lektor auf 150 Seiten gekürzt hätte. Die Autorin versucht langsam Spannung aufzubauen, was leider misslingt, denn der Spannungsbogen versinkt häufig im Nichts und ich habe mich mehrfach gefragt, ob ich das Buch wirklich weiterlesen sollte.


    Die letzten 110 Seiten lohnen wirklich und entschädigen den Leser für seine Geduld. Die Autorin kann nicht nur erstklassig erzählen, sondern sie schafft auch eine Atmosphäre, die der Leser als glaubwürdig empfindet, obgleich die Geschichte recht außergewöhnlich endet. An diesem Punkt habe ich mich gefragt, ob die Protagonistin wirklich so handelt, wie sie handelt, vor allem, wenn man die Zeit zwischen Handlung und ihrer Ursache berücksichtigt sowie die Tatsache, dass sie die Einladung zum Event zunächst in die Tonne geworfen hat. Okay, in dubio pro reo!


    Durchwachsene 7 Eulenpunkte

  • Mit einem Eisblock im Kofferraum fährt Eva zurück in das Dorf ihrer Kindheit und damit zurück in die Vergangenheit – ihre eigene, die ihrer Familie, die ihrer Freunde und die der anderen Dorfbewohner. Was ist passiert, damals in jenem verhängnisvollen Sommer und wer trägt die Schuld daran?


    „Die Einladung traf vor drei Wochen ein und war übertrieben frankiert.“ (S. 7)


    Schon das Cover dieses Buches hat mir wahnsinnig gut gefallen, auch wenn ich mich immer wieder arg wundere, was die Gestaltungsmenschen deutscher Romanausgaben sich bei ihrer Arbeit so denken – man vergleiche dazu einfach einmal die niederländische oder englische Ausgabe mit der deutschen um festzustellen, dass die Unterschiede größer sind als die Parallelen. Mir fehlt auch der Zusammenhang der deutschen Gestaltung zum Inhalt des Buches, wieder einmal, und trotzdem gehört dieses Buch für mich zu den schönsten dieses Jahres. Allein das kräftige Grün in Kombination mit dem dunklen Violett gefallen mir sehr gut.


    Wenn es zum Inhaltlichen kommt, ist es gar nicht so einfach, etwas über dieses Buch zu sagen. Während ich es gelesen habe, wurde ich mehrfach von Freunden gefragt, worum es ginge, und in den seltensten Fällen konnte ich darauf eine zufriedenstellende Antwort geben.


    Viel eher löst das Buch ein diffuses Gefühl der Unbehaglichkeit aus. Es erinnert daran, wie wir selbst vielleicht sogar einmal waren, und an all die Dinge, die wir lieber vergessen wollten und so sicherlich auch vergessen haben. Lize Spit legt ihren Finger dorthin, wo es wehtut, und manchmal tut es sogar weh, ihre Worte zu lesen, so ehrlich und erschütternd, so gnadenlos offen sind sie; sie stellt mehr Fragen als sie beantwortet. Das ist zugleich gut und beunruhigend.


    Nicht ganz glücklich bin ich mit der Übersetzung, auch wenn ich nicht zu packen vermag, woran das liegt. Häufig klingt die Wortwahl für meine Ohren hölzern, mir ist noch immer nicht klar, ob Eva von ihrer Kommunion oder ihrer Firmung spricht, und auch diverse andere Kleinigkeiten sind mir sauer aufgestoßen. In meinen Augen ist eine Übersetzung, über die ich als Leser stolpere, keine gute.


    In den Figuren findet man wieder, was auch schon den Inhalt so atemberaubend gut gemacht hat. Sie sind schmerzhaft realistisch. Es tut weh, ihnen zuzuschauen, weil sie so sind, wie man selbst auch sein könnte, gewesen sein könnte, oder sogar so, wie man war und ist. Lize Spit beschönigt auch hier nichts und man möchte eigentlich wegschauen von dem Unheil, das sich zusammenbraut, während man zugleich wissen möchte, wie es ausgehen mag. Alles in allem sind auch die Charaktere, wie schon die Handlung, beängstigend gut.



    „Auch wenn wir auf dasselbe schauen, Elisa und ich, werden wir doch immer verschiedene Dinge sehen.“ (S. 261)
    „Ich passte nicht mehr so hinein, wie ich immer hineingepasst hatte. Ich war das Duplomännchen in einem Legohaus.“ (S. 287)
    „Vielleicht kann man sie daran erkennen, die Familien, in denen die grundlegendsten Dinge schieflaufen – zum Ausgleich haben sie eine Unmenge lächerlicher Regeln und Prinzipien.“ (S. 387)


    Es hatte mich skeptisch gemacht, wie über diesen Roman geredet wurde. Nicht, weil ich glaubte, die Brutalität zu grausam zu finden, sondern weil ich befürchtete, dass das Buch den Erwartungen nicht gerecht werden könnte. Mein Fazit ist jedoch recht einfach: Es kann.