"Die rechte Wende" - sehenswerte und ernüchternde Doku auf 3Sat

  • Die Zeit, als man Nazis an ihren klotzigen Outfits und am tumben Auftreten erkannte, sind vorbei. Die neuen rechtsrechten Kämpfer und Vordenker sind Autoren und Verleger, nutzen die Kampagnenpolitik der 68er, treten selbstbewusst und sogar lässig auf, geben sich als Opfer und unterwandern die Medienwelt sehr geschickt mit gekidnappten Termini. Einer der wesentlichen Protagonisten ist der Verleger Götz Kubitschek, dessen "Antaios-Verlag" (bei dem ja auch einige prominente Büchereulen gelegentlich eingekauft haben) nicht nur die neue Publikationsheimat des inzwischen komplett durchgeknallten Akif Pirinçci ist, der u.a. öffentlich die Deportation von mindestens 8 Millionen Ausländern fordert*, sondern auch und vor allem das intellektuelle Unterfutter für Identitäre und AfDler liefert. Diese sehenswerte, erschütternde und ernüchternde Doku zeigt, wo der Weg hingeht, wenn wir nicht aufpassen:


    http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=70183


    Gerade (aber nicht nur) das, was auf der letzten Frankfurter Buchmesse geschehen ist, wo die rechten Verlage großen Raum und große Aufmerksamkeit bekamen, sollte uns alle sehr aufmerksam werden lassen.


    (* zu sehen in der Dokumentation)

  • Zunächst einmal: Vielen Dank für den Tipp, Tom. Ich habe es mir gerade angeschaut.


    Sieht man davon ab, dass die Macher und Interviewpartner auch eine ganz besondere politische Sicht auf die Dinge haben, wie z. B. der ehemalige SDS- Aktivist, Maas-Unterstützer und Sarrazin-Gegner Hajo Funke und lässt man unter den Tisch fallen, dass die Geschehnisse auf der Buchmesse gefärbt wiedergegeben wurden, ist es doch eine interessante und im Großen und Ganzen gelungene Doku (Absolute Neutralität und Subjektivität in der Berichtserstattung gibt es nicht und das ist vielleicht auch gut so).


    Auffallend ist die Tatsache, dass die Neurechten viele Kampftaktiken ihrer linken Gegner kopiert haben und heute sogar cleverer, souveräner und intelligenter, ja fast schon sympathischer auftreten als die tumben Antifa-Originale. Das ist beängstigend, da stimme ich dir zu.



    Im Übrigen macht der Zeitgeist es ihnen sehr leicht, weitere Anhänger zu finden. Zum einen scheinen die Linken bis zu den Linksliberalen keine Antworten auf die Herausforderungen im Hier & Jetzt zu haben, soll heißen Globalisierung, Wirtschafts- und Währungskrisen, Flucht & Migration, Energieversorgung, Klimawandel …, was die Polarisierung unserer Gesellschaft weiter verstärken wird und zum anderen scheinen die schwierige Regierungsbildung, die Reputation der alternativlosen Kanzlerin … weitere Verstärker des Verlustes der Mitte zu werden.



    Was man den Rechten vorwirft, gilt sicherlich gleichfalls für die Linken bis zu den Linksliberalen: Sie haben alle keine Antworten, die praxistauglich und mehrheitsfähig sind.



    Wir können nur hoffen, dass die nächste Regierung richtige Antworten auf die wichtigsten politischen Herausforderungen finden wird. Falls nicht, könnte es bald durchaus knallen in diesem unserem Lande. Und ich weiß nicht, ob wir dann noch Europameister - nicht nur im Export, sondern auch in punkto Beschäftigung (44 Millionen Arbeitnehmer), geringer (Jugend)arbeitslosigkeit …– bleiben werden.


    In einem sind wir uns wohl alle, ob links, liberal oder konservativ, einig: Die derzeitige Entwicklung gefällt uns allen nicht.

  • Ich habe mir die Doku noch nicht angesehen, werde es aber sicher tun. Ich sehe die Lage in unserem Land derzeit genauso. Das haben wir einer unfähigen Politik zu danken, die nur eins verteidigt, ihre Pfründe. Feigheit wird als kluge Taktik verkauft. Ich habe irgendwo in einem Artikel gelesen: Wenn Europa mehr Mut hätte, bräuchte es nicht so viel Angst haben. Aber wir haben ja nur einen wirtschaftlichen Zusammenschluss von Nationalstaaten und keine gemeinsamen Werte, wenn die Kanzlerin das auch noch so oft verkündet. Und da wird sich nie etwas ändern.

  • Die Doku habe ich mir angesehen. Das ist schon besorgniserregend.

    Aber so negativ wie Leselampe würde ich unsere Situation doch nicht bewerten. Noch haben wir ein größtenteils auf vernünftigen Werten aufgebautes Grundgesetz und die meisten Staaten in Europe haben eine Verfassung, auf die man sich berufen kann, wenn es um Menschenrechte geht. Sicher ist nicht alles ideal, aber die Probleme sind zu komplex für einfache Lösungen.

    Dass die Jamaika-Verhandlungen geplatzt sind, ist schon eine herbe Enttäuschung und GroKo wird auch nichts Gescheites mehr. Bin gespannt, ob unsere Kanzlerin sich an eine Minderheitsregierung traut. Das wäre mal ein spannendes Experiment . . . :gruebel

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Diana Wynne Jones: Howl's Moving Castle

  • Ich stimme dir zu, Li, und ich finde, wir brauchen direkt einmal eine Minderheitsregierung, damit allen bewusst wird, was Demokratie bedeutet. Aber Merkel will notwendige sachliche Diskussionen um jeden Preis verhindern. Eine bequeme Mehrheit erledigt das müheloser. Und sie kann sich im Schein der Weltpolitikerin sonnen.