Grünschnabel - Monica Cantieni

  • Grünschnabel ist die Geschichte einer Adoption und eines Adoptionskinds, ein Mädchen, sechs, sieben Jahre alt. Sie ist die Ich-Erzählerin, sie bleibt namenlos, außer als ‚Grünschnabel’, wie der neue Großvater sie nennt. Aber er, Tat Jon, kommt erst später dazu. Zuerst treffen wir ein kleines Mädchen aus dem Waisenhaus, so unsicher, daß es kaum sprechen kann, kaum Wörter kennt. Ihr neuer Vater schreibt sie ihr auf kleine Zettel und schenkt ihr Schachteln und Schächtelchen dafür, damit sie sie aufbewahren kann. Die Schachteln heißen ‚Jetzt’ und ‚Später’, sie heißen ‚Blumen’ und ‚Holz’ oder ‚Unwahrscheinlichkeit/Hoffnung’. Das Wort ‚Glück’ z.B. gehört in diese Schachtel. Dann gibt es noch die Dosen, draußen auf der Fensterbank, mit den winterharten Wörtern.


    Grünschnabel versucht die Welt mit Wörtern zu beschreiben und damit zu erfassen. Die Wörter sind Schutz, eine Möglichkeit, auf Distanz zu bleiben. Zu unsicher ist das neue Leben.
    Einerseits ist die Frage der Adoption noch nicht entschieden, Grünschnabel und ihre neue Eltern leben auf Bewährung, unter Dauerkontrolle des Pflegschaftsamts. Andererseits ist die neue Welt sehr verwirrend. Grünschnabels Eltern sind zwar Schweizer, aber um sie herum leben Einwanderer, aus Jugoslawien, Italien, Spanien. Mutters Schwester stammt wie Mutter aus Frankreich. Ihre Wörter sind wieder anders. Und Tat Jon stammt aus Graubünden, er flucht am liebsten surselvisch. Lumapmenta! Miarda de giat!
    Die Wörter wirbeln, hin und wieder fliegen die Zettel wild im Zimmer, zuweilen auch Teller oder Fäuste. Es gibt viel Temperament in diesem Roman.


    Die Geschichte spielt in den frühen 1970er Jahren in der Schweiz, eine Zeit, in der Einwanderung, Überfremdung, Schwarzarbeiter, Kontingent und Volksabstimmung die Wörter waren, die das Klima bestimmten. Wir sehen die Geschehnisse aus Grünschnabels Augen, hören mit ihren Ohren, sie sieht, nimmt auf, berichtet, versteht aber nicht immer. Sie sagt auch nicht alles. Verstehen wird die Leserin. Wie sich Fremdheit anfühlt, fühlt sie unvermittelt mit der kindlichen Hauptfigur, dem Adoptivkind.


    Aus Grünschnabels Wörtersammlung entspinnen sich Geschichten, tragisch-komisch meist. Die ihrer Eltern, der Nachbarin, der Freunde, Tonis aus Italien, der in der Schweiz arbeiten darf, Elis aus Spanien, der infolge der neuen politischen Ausrichtung plötzlich ein Illegaler ist. Die Handlung wird von den Wörtern zuerst noch verschleiert, weil Grünschnabel nur die Wörter aufnimmt, ihren Inhalt aber erst langsam versteht. Man erkennt nur Bruchstücke, kann vermuten ahnt. Allmählich kommen Wörter und Inhalt dichter zusammen und damit tritt auch der Gang der Handlung klarer hervor. Die Probleme der einzelnen Figuren, Eheprobleme, Flüchtlingsprobleme, Familienprobleme, die Schwierigkeiten eines Waisenkinds, verweben sich zu einer einzigen großen Geschichte über das ‚Wir’ und ‚die Anderen’, über Fremdheit, Ausgrenzung, Menschlichkeit und Menschenrechte. Cantieni holt weit aus, bis in Tats Vergangenheit als Zollbeamter am Rhein in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.


    Der Roman beginnt und endet mit dem Tod. Der Tod ist wichtig, Grünschnabels Mutter malt sich leidenschaftlich gern Beerdigungen aus, großartige für Leute, die sie mag, graue, trostlose, nasse, bei denen alles vom Regen weggeschwemmt wird, selbst die Grabkreuze, für Leute, die sie nicht mag. Der Lauf der politischen Ereignisse hat jedem der Flüchtlinge Tote im engsten familienkreis beschert. Der Tod droht denen, die nicht einwandern dürfen, aber auch denen, die im Land illegal arbeiten, weil das ohne Arbeitsschutz geschieht. Oder denen, die sich verstecken müssen. Es gibt Naturkatastrophen, eine davon in menschlicher Gestalt. Jede und jeder hat Geheimnisse in diesem Buch, eines davon hat Anklänge an die Geschichte von Anne Frank. Daß es Cantieni gelingt, dieses Motiv in ihre Geschichte einzufügen, ohne den handelsüblichen Kitsch zu reproduzieren, ist ein besonderes Verdienst. Da der Tod untrennbar mit dem Leben zusammenhängt, beginnt und endet der Roman auch mit neuem Leben, Grünschnabels an erster Stelle.


    Ein ganz besonderes Buch.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Eine wirklich tolle Rezi. Danke dafür. :wave
    Nur wann soll eigentlich alles gelesen werden - was gelesen werden muss/will? Da bin ich schon ein wenig ratlos. :-)

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das fragst Du mich?
    :cry


    Jedesmal, wenn ich ein Buch zuklappe, sehe ich meinen SUB. Und noch einen SUB. Und noch einen ...
    :cry :cry :cry


    'Grünschnabel' war mal wieder so eine Zufallsentdeckung. Für den Roman kann man eigentlich nur dankbar sein. Dafür lasse ich eine Menge anderer Bücher liegen. Ich hab's gelesen und bin seither einfach glücklich, obwohl es ein ziemlich trauriges Buch ist. Auch wenn es eher gut ausgeht.


    Falls ich mal eine Tüte Zeit finde, darfst Du Dir auch eine Handvoll nehmen. :-)




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe das Buch ebenfalls vor einigen Wochen gelesen und mich hat es nicht ganz so begeistert wie magali. Den Umständen entsprechend wird in dem Buch eine sehr einfache, kindliche Sprache verwendet - und auf die Dauer macht mich so etwas (leider) immer ungeduldig.


    Nichtsdestotrotz fand ich es lesenswert, denn wie magali schon geschrieben hat, kann man sehr schön sehen, wie Grünschnabel mit der Zeit immer besser die Sprache lernt, mehr Probleme erkennt und versteht - denn Probleme gibt es für ein Waisenkind in einer Familie mit gespaltenen familiären Verhältnissen wirklich genug.


    8 Punkte.

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • saz


    ja, verstehe ich. Ich dachte zunächst auch: Oioioi, ob das gut geht?
    Dann aber ging mir auf, daß Cantieni nicht nur Grünschnabel sprechen läßt, sondern auch die Wörter, vorzugsweise die, die im Text kursiv gedruckt sind. Die Wörter entwickeln die Bedeutung, die erwachsene Leserinnen und Leser kennengelernt haben, kennen und mit den Erfahrungen verbinden, die man im Erwachsenenleben damit macht. Man liest sozusagen auf zwei Ebenen.
    Da dachte ich dann wieder: Oioioi, ob das gut geht?


    Grünschnabel versteht z.B. nicht, was Schwarzarbeit heißt oder Überfremdung, Deportation oder Nazi. Sie fragt, die Figuren im Buch erklären es ihr jedoch nucht oder nur halb. Aber die Leserinnen und Leser wissen es. Aus diesem Wissen entwickelt sich im Roman eine Geschichte der Schweiz als Land, das seine Probleme mit Einwanderern hat. Das ist das Thema der Autorin.
    Die Adoptionsgeschichte ist nur eines der Bilder, mit dem sie ihren Standpunkt und die Verhaltensweise der Schweizer Behörden oder auch der Schweizerinnen und Schweizer illustriert.


    Das Buch ist sehr kompliziert gebaut, es geht erzählerisch einen höchst gewagten Weg.
    Meine Begeisterung rührt auch daher, daß diese Kosntruktion gelungen ist. Das Gerüst wachsen zu sehen, immer in der Erwartung, daß es im nächsten Moment zusammenbrechen kann, war mindestens so spannend, wie den Handlunggsträngen an sich zu folgen.


    Ich finde es jedenfalls ganz toll, daß noch jemand hier den Roman gelesen hat. Er ist unter den Neuerscheinungen in diesem Jahr doch eher untergegangen.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Monica Cantieni - Grünschnabel


    • Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
    • Verlag: Schöffling; Auflage: 3. (15. Februar 2011)
    • ISBN-13: 978-3895613456
    • Preis: 19,95 Euro (print), 15,99 Euro (ebook)


    Kurzbeschreibung:


    »Mein Vater hat mich für 365.- Franken von der Stadt gekauft.« So beginnt die Geschichte eines Kindes, das, zur Adoption freigegeben, bei neuen Eltern im Immigrantenmilieu der 1970er Jahre landet. Inmitten dieser bunt gemischten Umgebung versucht das Kind Fuß zu fassen und sich, mit Hilfe einer Wörtersammlung in vielen Streichholzschachteln, zurechtzufinden. Was nicht so einfach ist; und richtig groß werden die Probleme, als es beim italienischen Gastarbeiter im Kleiderschrank eine Entdeckung macht, die eine Lawine auslöst.
    GRÜNSCHNABEL besticht durch ungewöhnlichen Bilderreichtum, eine eigenwillige Erzählweise und lakonische Dialoge.


    Monica Cantieni wurde für diesen Roman vom Aargauer Kuratorium gefördert. Felicitas Hoppe urteilte als Mitglied der Jury: »Der tragisch-komische Ton bricht mit vertrauten realistischen Erzählmustern und öffnet, Traditionen osteuropäischer Literatur folgend, bei aller Zeitgenossenschaft imaginäre Räume jenseits von Ort und Zeit.«


    Zur Autorin:


    Monica Cantieni, geboren 1965 in Thalwil, Schweiz, lebt in Wettingen und Wien. Sie arbeitet beim SRF Schweizer Radio und Fernsehen. Bereits erschienen sind die Erzählung HIERONYMUS' KINDER sowie Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien. Für ihre Texte erhielt sie zahlreiche Förderpreise und Auszeichnungen.

    Meine Meinung:


    Es fällt mir schwer, dieses Buch zu beschreiben. Vordergründig geht es um ein Waisenkind, das adoptiert wird, doch der raffinierte Stil der Autorin bietet mehrere Erzählebenen, die in ihrer Gleichzeitigkeit dem Buch, obgleich in schlichter Kindersprache verfasst, eine Tiefe und Komplexität verleihen, die mich staunen machen.


    Ein kleines Waisenmädchen erzählt uns in der Ich-Perspektive von ihren Erlebnissen. Ich war mehrfach beschämt, über zum Teil tieftraurige Dinge zu lachen, weil sie in lakonisch vorgetragenem Ton äußerst pragmatisch und kein bisschen larmoyant wirken. Es ist ein bittersüßes Buch, mit Äußerungen, die mich beim Lesen die Luft anhalten haben lassen. So sagt das Mädchen folgendes, als die Leute von der Fürsorge wieder einmal nach dem Rechten sehen und sich Notizen machen:


    Leute wie ich brauchen Akten, damit man uns sehen kann.


    Oder die Beschreibung, wie sie in ihre neue Familie kam:


    Sie fuhren mich mit meinem neuen Koffer in ihre Wohnung. Sie hatten mich schon zur Probe gehabt wie später die Couchgarnitur mit dem gelben Plüschbezug, an der sie fast so lange abzahlten wie an mir. Ich war froh darüber, dass sei sich gleich für mich entschlossen, nachdem sie es mit mir versucht hatten, und dass sie erst mit den Couchgarnituren wählerisch wurden. Zweimal ließen sie eine zurückgehen. Einmal wegen der Farbe und einmal wegen des Komforts.


    Das Mädchen scheint etwas zurückgeblieben, vermutlich aufgrund fehlender Förderung. Jedenfalls fehlt es ihr an einem vernünftigen Wortschatz. Viele Dinge weiß sie nicht zu benennen. Der Adoptivvater beginnt ihr Wörter zu schenken. Er schreibt sie auf Zettel, gibt dem Kind Schachteln und Kisten, damit sie sie verwahren kann. Wörter, die uns Erwachsenen geläufig sind, bekommen aufgrund mangelhafter Erklärung in den Gedanken des Kindes plötzlich andere Bedeutungen.


    So nimmt zum Beispiel die Mutter regelmäßig Pillen gegen das „Himmelelend“. Der räudige Graupapagei im Zoo heißt „Fast-ohne-Federn“, illegal im Land befindliche Menschen heißen für das Mädchen „Überfremdung“. Hier noch eine Stelle, die sehr bezeichnend dafür ist, wie mühsam sich das Mädchen die Welt erschließt:


    - Eli, was ist Prozente? Schreibst du’s mir auf?
    Er schrieb: Prozente, und mein Vater öffnete noch eine Flasche Bier, auch die mit Prozenten drin, wie er sagte. Eli lud meinen Vater zu so viel Prozenten ein, dass er wieder auf dem Sofa schlafen musste und meine Mutter sich lange nicht beruhigen konnte. Bestimmt war der Haussegen wieder bis auf die Straße zu hören. Ich legte PROZENTE auf den Tisch. Ob in Abstimmungen oder in Bier: Sie machten Probleme.


    Geschickt flicht die Autorin mit dieser Art der Darstellung gesellschaftliche Brennpunkte in den Text mit ein. Es geht um Ausländerfeindlichkeit und die Kontroversen, die sich ergeben, wenn hypothetische Thesen mit der Wirklichkeit kollidieren, sprich mit den Migranten, die im Haus wohnen, die als Menschen wahrgenommen werden und nicht als „Überfremdung“.


    „Grünschnabel“ ist ein Buch, das auf emotionaler Ebene genauso funktioniert wie auf der rationalen. Ein großer Wurf, wie ich finde.


    Ich gebe 10 von 10 Punkten.