Ja, Friederike setzt auf die Karrieregeilheit der SS- Mitgliedern. Aber sie macht sich dadurch auch abhängig von Ingrids Schwiegervater. Das ist in der Zukunft sicher noch ein Thema.
Soviel kann ich ja schon mal verraten - in Band 4 - Mehr als die Gerechtigkeit - begegnen wir Ingrid und ihrer Familie im Jahr 1957 wieder.
Ich kann Gustavs Beweggründe nicht verstehen. Es gibt so viele, die eine schwere, oft traumatische Kindheit hatten und deswegen nicht gleich anderen ihr Hab und Gut weg schwindeln oder gar Menschenversuche als völlig normal ansehen.
Ich denke, man muss immer unterscheiden, ob man Beweggründe versteht oder ob man sie gutheißt. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Gustav war durch seine Kindheit mit der schizophrenen Mutter traumatisiert. Sein Vater und Großvater haben ihn damit im Grunde allein gelassen. Er musste das mit sich selbst abmachen. Und dann hatte er da diese Ambivalenz in sich. Er hat seine Mutter gefürchtet und verabscheut wegen des Traumas. Aber sie war auch seine Mutter und natürlich hat er sie deshalb geliebt. Also hat er es innerlich getrennt. Seine Mutter war gut, aber die Krankheit war schlimm, die hat das mit ihr gemacht. Nur so konnte er den Zwiespalt ertragen, beides in einer Person vereinen. Und dann unternahm er den ersten Versuch, sein Grundproblem zu lösen. Er studierte Medizin und wollte als Psychiater alles besser machen. Da sind auch Parallelen zu Richard Hellmer aus "Im Lautlosen", der ja auch Medizin studierte und Psychiater werden wollte, um alles besser zu machen als die Ärzte zuvor. Richard war aber ein gefestigter Mensch, der ja eine stabile Familienbindung zu seinen Eltern hatte und die Person, die er verloren hatte, war sein geliebter großer Bruder. Gustav war jedoch viel tiefer verunsichert. Und als er dann im 1. Weltkrieg von einem Mann, der vor Angst den Verstand verloren hatte, dem er nur helfen wollte, attackiert wurde, brach das alte Kindheitstrauma vollends hervor. Nun erinnerte er sich an seine Erleichterung über den Suizid seiner Mutter, was er sich zuvor niemals hatte eingestehen dürfen. Er hatte sich geschämt, denn ein gutes Kind darf nicht erleichtert sein, wenn die Mutter tot ist. Dieses Schuldgefühl trug er ja auch noch mit sich herum. Nun aber wandelte sich seine Vorstellung. Der Wunsch, zu helfen und damit im Nachhinein auch das Schuldgefühl gegenüber der Mutter zu bekämpfen, wandelte sich. Diese Menschen waren gefährlich, sie griffen ihn an, obwohl er ihnen helfen wollte. Wer von dieser Krankheit befallen war, war für sich und seine Familie nur eine Last. Und damit kein Kind mehr ein Schuldgefühl wie er und ein Leiden wie er erfahren musste - so redete er es sich ein - musste man jene, die unheilbar waren, eben erlösen. Dadurch, dass er sich der Euthanasie als Lösung zuwandte, hatte er seine Grundkonflikte gelöst. Er musste keine Angst mehr vor der Unberechenbarkeit haben und seine Erleichterung beim Tod seiner Mutter war nun kein verachtenswertes Gefühl mehr, weil der Tod für solche Menschen und ihre Umwelt gut ist. Und nachdem er diese moralische Hemmung abgelegt hatte und sich voll und ganz dafür einsetzte, konnte er auch egoistische Wünsche unter diesem Deckmantel befriedigen. So konnte er sich selbst einreden, warum er ein Recht hatte, Gut Mohlenberg zu übernehmen und das Gestüt zu bekommen. Die würden ja gegen den Staat und das Wohl der Menschheit arbeiten, indem sie solche gefährlichen Kreaturen unterstützten. Da Gustav vor sich selbst eine eigene Moral behielt, konnte er wieder alles abspalten. Vom Herzen her konnte er auch ein charmanter, netter Mann sein. Das, was Friederike zunächst gefühlt hatte, war echt, weil er alles andere abspalten konnte. Deshalb ist sie auf ihn reingefallen. Wie Friederike sich auch denkt - hätte man Gustavs Mutter damals nach Mohlenberg gebracht und hätte er sie als Kind dort besucht und mit der kleinen gleichaltrigen Friederike gespielt, dann wäre er vielleicht auch Psychiater geworden, aber einer von der Sorte wie Friederike. Nicht jemand, der sich in eine abstrakte Ideenwelt flüchten musste, die mit Gewalt den Konflikt zu lösen versucht, der nur schwer lösbar ist. Es ist seine Konfliktbewältigung und in unserer Gesellschaft ist sie moralisch falsch. Sein "Pech" war, dass er dann in eine Zeit geriet, die nach Männern mit so pathologischer Konfliktbewältigung gierte und das ausnutzte. So konnte er Karriere machen. Vor dem Hintergrund habe ich durchaus Mitleid mit dem Kind und dem jungen Mann und ich kann verstehen, wie er so wurde, aber ich verachte und verabscheue seine Taten als erwachsener Mann und es gibt dafür keine Entschuldigung, sondern nur Erklärungen. Erklärungen zu suchen ist übrigens nicht dazu da, um Täter zu entschuldigen, sondern um zu analysieren, warum Menschen zu Tätern werden und durch gezieltes frühes Eingreifen zu verhindern, dass aus verstörten Kindern überhaupt Täter werden können. Es geht dann nicht mehr um den Täter, sondern um andere Menschen am Scheideweg, denen man helfen muss.
Ich habe jahrelang Kinder mit Trisomie 21 als Mandanten betreut, wenn die Krankenkasse den neuen Rollstuhl oder andere Hilfsmittel oder Behandlungen nicht bezahlen wollten. Bildet ihr euch wirklich ein der Gedanke über die Vernichtung lebensunwerten Lebens sei aus unserer Gesellschaft verschwunden?
Viele der damaligen Ärzte haben bis weit in die 1970er Jahre praktiziert. Wie durchsetzt alles vom NS-Gedankengut noch war, ist dann in Mohlenberg 4 Thema.