Ich möchte zu dem Dialog zwischen Emma und Léon gerne ein paar Sätze aus Manuel Vargas Llosas Buch über "Madame Bovary" zitieren, die vielleicht dazu beitragen, den Dialog ins Romangeschehen einzuordnen:
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Im Roman tauchen die Komponenten der romantischen Liebe auf: das Schwelgen in Gefühlen, die tragische Note, die übertriebene Rhetorik. Löst man den Liebesdialog zwischen Emma und Léon (erstes Kapitel des dritten Teils) aus dem Kontext, erscheint er prototypisch für einen romantische Roman. Der Kontext aber zeigt die enorme Dosis Irrealität, die die schönsten Sätze der Liebenden enthalten, die bewussten oder unbewussten Lügen, die sie aussprechen, die Täuschungen und den Selbstbetrug, deren Opfer sie sind, den Unterschied zwischen ihren Worten und Taten. Der Abstand, den der Erzähler zwischen Realität und Illusion schafft, bedeutet nicht, dass die eine die andere auf ewig verdammte: die Szene ist keine Posse. Die Unwahrheiten, die sie aussprechen sind immer bewegend, weil sie ihren Durst nach etwas Ablolutem, nach Genuss und Schönheit, ihr Bemühen verraten, mit Worten über den Abgrund zwischen ihren Idealen und ihrer wahren Lage zu springen.
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Ich finde das sehr treffend. Klar zeigen beide in diesem Gespräch, dass sie Bücher und Lesen lieben, dass sie sich gern von Büchern in eine andere Welt entführen lassen - und auch, dass sie ihre Liebe zur Illusion unbedingt gegen die Umwelt verteidigen werden. Aber gleichzeitig ist dieser Dialog auch ein - wie soll ich sagen - Einander-Umkreisen, Beschnuppern, Einander-Versichern. Es schwingt so vieles zwischen den Zeilen, die Sehnsucht nach romantischer Liebe, die Schwärmerei, der Hang nach Höherem, wie man das in bürgerlichen Kreisen leicht verächtlich nennt. Im Grunde erkennen Emma und Léon in diesem Gespräch einander sofort als einzige "Sehende" zwischen einem Haufen Spießbürgern.
Ich habe dieses Gespräch immer bewundert. In den siebziger Jahren, als ich Schülerin bzw. Studentin war, war es sehr in Mode, Gedichte und philosophische Schriften zu lesen. Es gibt z.B. einen Roman mit dem Titel "Beim nächsten Mann wird alles anders", in dem die Erzählerin ständig ein Buch von Hegel in der Manteltasche herumträgt, und zwar so, dass der Name Hegel oben aus der Tasche herausschaut. Damals haben Paare in der Annäherungsphase, um es mal so zu nennen, ganz ähnliche Gespräche geführt wie Emma und Léon.
Nachtgruß von Zefira