Diese Geschichte war eigentlich als Beitrag für den Adventskalender gedacht, ist aber aufgrund technischer Probleme nicht rechtzeitig angekommen. Daher gibt es sie als Nachschlag hier zu lesen.
In der Woche nach
dem ersten Advent hatte Frau Eltzsche ihre 5b gefragt, ob sie Lust
hatte, vor Weihnachten zu wichteln. Das bedeutete, dass jeder einem
anderen Kind in der Klasse ein kleines Geschenk machen sollte, wobei
der Beschenkte nicht erfahren sollte, von wem das Geschenk kam.
Ella war begeistert
gewesen, doch als sie erfuhr, wen sie beschenken sollte, verfinsterte
sich ihr Gesicht. „Was ist los?“, fragte ihre Banknachbarin und
beste Freundin Anne sofort. „Wen hast du?“ „Anton!“,
antwortete Ella flüsternd. „Scheiße, was soll ich dem denn
schenken? Der macht doch nichts, wo man was mit anfangen könnte!“
So ganz unrecht
hatte sie nicht, Anton passte irgendwie in kein Schema. Anne wusste
auch kaum etwas über ihn, überhaupt hatten die Mädchen in der
Klasse wenig mit den Jungen am Hut. Wenn man sie gezwungen hätte,
eine Einschätzung abzugeben, dann hätte sie gesagt, dass er wohl
ganz in Ordnung war. Aber ihr war auch aufgefallen, dass er kaum je
mitmachte, wenn die Jungen in den Pausen Fußball spielten oder
zusammenstanden und irgendwas auf ihren Handys guckten. Ella hatte
also bestimmt nicht den leichtesten Job gezogen, aber so aufregen
musste sie sich deswegen doch auch nicht, oder?
Doch Ella wollte
sich nicht beruhigen, selbst nach Schulschluss, auf dem Weg zum Bus,
fing sie wieder damit an. Anne verdrehte die Augen. „Okay“, sagte
sie entschlossen, „ehe ich mir das noch länger anhören muss,
tauschen wir eben. Hat die Eltzsche zwar verboten, aber bevor du mich
noch völlig wahnsinnig machst... Mach du Erik, dann kümmere ich
mich um Anton.“
Ellas Augen
leuchteten auf. „Würdest du echt...?“ Anne zuckte mit den
Schultern. „Du bist schließlich meine beste Freundin“,
antwortete sie. „Und Erik wirst du ja wohl hinkriegen, oder?“,
„Der ist doch echt nicht schwer“, grinste Ella, deren Laune in
kürzester Zeit um etliche Stufen gestiegen war. „Wenn man’s
essen kann, dann ist’s richtig.“ Genau das hatte Anne auch
gedacht, Erik naschte gern, und manchmal wunderte sie sich, dass er
trotzdem so schlank war. Vielleicht lag es daran, dass er im
Ruderverein war, da trainierte er das wohl alles wieder ab. „Hast
du schon eine Idee wegen Anton?“, wollte Ella wissen. Anne
schüttelte den Kopf. „Irgendwas wird mir schon einfallen“, sagte
sie gelassen.
***
Annes Ehrgeiz war
geweckt. Wahrscheinlich würde Anton auch nicht nein sagen, wenn er
etwas Süßes bekam, Schokolade und vielleicht eins von diesen
Weingummis, die wie kleine Hamburger aussahen, oder so, aber das
wollte Anne sich aufheben für den Fall, dass ihr wirklich nichts
anderes einfiel. Wenn es irgendwie ging, wollte sie etwas
Persönlicheres finden, auch wenn sie noch keinen Plan hatte, was das
sein könnte.
Zwei Tage überlegte
sie hin und her, aber sie musste sich eingestehen, dass sie einfach
viel zu wenig über Anton wusste. Was hatte er für Hobbys? Fußball
war wohl nicht so seins, sonst hätte er häufiger mit den anderen
Jungs auf dem Schulhof gekickt, denn den Eindruck, dass die ihn nicht
mochten und deshalb nicht mitspielen ließen, hatte Anne nicht. Und
sonst?
Sie ging die
gängigen Hobbys durch, verschiedene Sportarten, Lesen, Musik, alles,
was ihr so einfiel, hauptsächlich, weil irgendwer aus der Klasse
oder in ihrem Freundeskreis es machte. Doch nirgendwo klingelte
etwas, auch wenn sie Anton das eine oder andere schon zugetraut
hätte.
Es half alles nichts
– wenn sie ihm nicht was völlig Unpersönliches schenken wollte,
dann musste sie jemanden fragen, der ihn besser kannte. Aber wen? In
der Klasse kam wohl am ehesten noch Steve infrage, aber dann würde
es tags darauf auch die ganze Klasse wissen. Was dann für Gerüchte
die Runde machen würden, konnte Anne sich ausrechnen, das Risiko
würde sie nicht eingehen.
Sie meinte, mal
gehört zu haben, dass Anton eine ältere Schwester hatte, aber die
war so viel älter, dass sie schon nicht mehr an der Schule war.
Selbst wenn sie sich nicht irrte, sie kannte nicht mal den Vornamen
und hatte keine Ahnung, wo sie nach ihr suchen sollte. Auch mit wem
er außerhalb der Schule befreundet war, wusste sie nicht, also
blieben nur zwei Personen, die sie fragen konnte: seine Eltern. Die
würden sich auch wundern, dass sie sich so viel Mühe gab, und sich
vielleicht ihr Teil dazu denken, aber damit konnte Anne leben. Es war
nicht zu erwarten, dass sie in Zukunft öfter mit ihnen zu tun haben
würde, und weiterquatschen würden sie hoffentlich nichts. Anne
würde sie mahnen, dass sie die Überraschung für Anton nicht
kaputtmachen sollten, das mussten sie doch verstehen, oder?
***
Das Herz klopfte wie
wild gegen Annes Rippen, als sie sich dem Eingang des
Vier-Familien-Hauses näherte, in dem Anton wohnte. Vor mehr als
einer Stunde hatte sie sich hundert Meter entfernt an einer
Bushaltestelle eingebaut und darauf gewartet, dass Anton das Haus
verließ. Das verkratzte Glas des Haltestellenhäuschens hatte sie
halbwegs gegen Blicke geschützt, und bei flüchtigem Hinsehen war
sie einfach ein Mädchen gewesen, das auf irgendwen wartete und sich
die Zeit mit WhatsApp und Zocken vertrieb. Vor fünf Minuten war
Anton endlich zur Haustür rausgekommen, mit einer Sporttasche über
der Schulter. Das sah ganz so aus, als wollte er zum Training, für
welche Sportart auch immer, und wenn es so war, dann würde er wohl
in der nächsten Stunde nicht zurückkommen. Das war Zeit genug, denn
lange wollte Anne nicht bleiben.
Es dauerte eine
Weile, bis jemand auf ihr Klingeln reagierte. Sie war schon drauf und
dran, noch mal den Knopf zu drücken, und befürchtete auch schon,
dass Antons Eltern gar nicht da waren, als doch ein Summen ertönte.
Anne drückte die Tür auf und stieß sich den Arm, weil der
automatische Schließer zu straff eingestellt war. „Oh, hast du dir
wehgetan?“, fragte eine Stimme vom ersten Treppenabsatz. Anne
schüttelte den Kopf. Das leise „Au!“, das ihr entfahren war, war
wirklich eher der Schreck gewesen, richtig wehgetan hatte der Schlag
gegen den Ellbogen nicht. „Willst du zu Anton?“, erkundigte sich
der Mann, der in einer der Wohnungstüren stand. Anne schätzte ihn
auf Ende zwanzig, wenn er Antons Vater war, dann hatte Anton einen
sehr jungen Vater.
Anne nannte ihren
Namen und fügte hinzu, dass sie mit Anton in eine Klasse ging. „Ich
weiß nicht, ob er erzählt hat, dass wir in der Schule wichteln“,
sagte sie dann. „Ich hab ihn gezogen, aber ich weiß nicht, was ich
ihm schenken könnte.“
Antons Vater, wenn
er es war, stutzte. „Und deshalb kommst du extra her?“, fragte er
dann erstaunt. „Finde ich toll.“ „Haben Sie eine Idee?“,
bohrte Anne nach. „Na ja, ich glaube, da fragst du besser seine
Mutter“, antwortete der Mann. „Claudi, kommst du mal?“, rief er
dann nach hinten in die Wohnung. „Komm doch rein!“, forderte er
Anne dann auf.
Offenbar bemerkte er
Annes fragenden Blick und zog daraus auch die richtigen Schlüsse.
„Nein, ich bin nicht Antons Vater“, beantwortete er bereitwillig
die unausgesprochene Frage. „Antons Eltern sind schon lange
getrennt.“ Anne nickte, er war also der neue Freund oder Mann von
Antons Mutter, nach dem genauen Verhältnis fragen wollte sie nicht,
das ging sie wohl nichts an.
Antons Mutter konnte
nicht verleugnen, dass Anton ihr Sohn war, die Ähnlichkeit war
unübersehbar. Auch sie hatte die leichte Stupsnase, die gleichen
braunen Augen und das gleiche Rotblond der Haare. „Das ist Anne“,
stellte der Mann, der die Tür geöffnet hatte, die Besucherin vor.
„Sie braucht einen Rat, was sie Anton schenken könnte, sie hat ihn
beim Wichteln in der Schule gezogen.“
Auch Antons Mutter
fand es toll, dass Anne sich dafür die Mühe machte, extra
vorbeizukommen. „Lass mich mal überlegen“, bat sie. „Wie viel
darf es kosten? Ihr habt doch bestimmt eine Grenze, oder?“ „Fünf
Euro“, antwortete Anne wahrheitsgemäß. „Aber wenn es ein
bisschen drüber ist, dann ist das okay.“
„Gar nicht so
leicht“, fand Antons Mutter. „Na ja, er ist im Schwimmverein, er
hört Hörspiele, Drei Fragezeichen und so, aber die sind ja auch
teurer, glaube ich.“ Sie überlegte angestrengt. „Sonst
eigentlich nichts Spezielles.“
Annes Blick war auf
das Modell eines Flugzeugs gefallen, das auf einem Regal an der
Flurwand stand. „Hat er das gebaut?“, fragte sie spontan. Antons
Mutter schaute verwundert in die Richtung, die Anne anzeigte, und
nickte dann. „Ja, das macht er öfter. In seinem Zimmer stehen noch
mehr davon. Meinst du...?“
***
Völlig unvermittelt
stand Anton vor Anne. „Super Idee“, sagte er. „Da hab ich mich
echt drüber gefreut.“ Anne stutzte. Woher wusste er, dass das
Wichtelgeschenk von ihr kam? Schließlich hatte sie sich extra früh
ins Klassenzimmer geschlichen, um ihm das Päckchen hinzulegen, sie
war sich ganz sicher, dass niemand sie beobachtet hatte. „Woher
weißt du...?“, fragte sie verdutzt. Anton schmunzelte. „Mama und
Raoul haben mir erzählt, dass du da warst. Sie waren total geflasht
deswegen.“
Anne konnte nicht
verhindern, dass sie rot wurde. „Ich fand’s irgendwie blöd,
einfach Buntstifte und eine Tafel Schokolade oder so zu nehmen“,
versuchte sie zu erklären. „Aber mir ist einfach nichts
eingefallen. Ich meine, wir machen ja sonst nie was zusammen, ich
wusste nicht, was du so machst...“ „Schon klar“, nickte Anton.
„Ich schätze, ich hätte umgekehrt auch nicht gewusst, was ich dir
schenken sollte.“ Er schwieg einen Moment, es schien fast so, als
wüsste er nicht, ob er das, was er noch sagen wollte, wirklich
aussprechen sollte. „Hast du Lust, dass wir den Flieger zusammen
zusammenbauen?“
Damit hatte Anne
nicht gerechnet, und für einen Moment wusste sie nicht, was sie
sagen sollte. Sie konnte sich schon denken, was Ella sagen würde,
wenn sie es mitbekam, oder was die anderen denken würden. Aber Lust
hatte sie schon, ganz bestimmt sogar, und was die anderen dachten –
egal, oder? „Gerne“, sagte sie schlicht.