Warten auf den elften Oktober
von Inkslinger
Noch 113 Tage.
So lange muss ich den Kopf unten halten und mich auf das »Danach« vorbereiten. Ich lese online mal mehr, mal weniger erbauliche Erfahrungsberichte und spiele alle möglichen Szenarien durch. Das macht mich zwar noch nervöser, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.
Ich hoffe, dass die meisten es so sehen wie »Die Ärzte« und es so normal wie Kaugummi kauen finden. Klar, wahrscheinlich sollte es sich nur reimen, aber ich finde den Vergleich echt passend: Die, die es machen, finden es toll. Die, die es nicht machen, sehen den Kauenden entweder angewidert, gleichgültig oder zustimmend zu.
Die Klingel reißt mich aus meinen Gedanken. Ich muss mich ranhalten, sonst komme ich zu spät zum Rettungsprojekt.
Die hohen Tiere meinen, unsere Schule ist zu verfallen und wollen sie deswegen nächstes Jahr schließen. Um das zu verhindern, hat der Rektor beschlossen, seine Schüler bis zu den Sommerferien als Aufräum- und Sanierungstrupp einzusetzen. Alle wurden in Arbeitsgruppen eingeteilt und haben schicke Schildchen mit neuem Namen zugelost bekommen, als kleinen Scherz am Rande. Voll gaga.
Ich stapfe die Treppe zum Dachgeschoss hoch und bleibe am Absatz stehen, um auf meine Gruppe zu warten. Da sie aus jeweils einer Person pro Jahrgangsstufe bestehen, war klar, dass ich die Älteste sein würde. Doch dass die Jüngeren so winzig sind, habe ich nicht erwartet. Die vier sehen aus wie Zehnjährige. Da muss ich ja aufpassen, dass die nicht von Wollmäusen entführt werden.
»Da fehlt doch noch jemand«, murmle ich.
Prompt wird die Aulatür aufgestoßen und sie kommt auf mich zu. Lange, rote Locken, Sommersprossen bis zum Scheitel und ein verzauberndes Gitterlächeln. »Hi, bist du auch römisch fünf?«
Ich muss ein paarmal schlucken, bis ich ihr antworten kann. »Mmh.«
Sie lacht und mustert mein Namensschild. »Alles klar, Daisy, dann lass uns loslegen.«
Peach steht auf ihrem, aber ich kenne ihren richtigen Namen. Sie ist mir schon vor zwei Jahren aufgefallen, als sie auf unsere Schule gewechselt ist. Sie anzusprechen habe ich mich nie getraut. Jetzt verbringen wir zwei Wochen auf engstem Raum – mit vier anderen, aber die zählen nicht. Nur sie.
Noch nie ist die Zeit vor den Sommerferien so schnell verflogen. Wir verstehen uns super. Mit ihr macht sogar Aufräumen Spaß. Ich wünschte, unsere Schule wäre in einem schlimmeren Zustand, damit wir mehr zu tun haben. Doch uns bleiben nur drei Tage.
Als wir am Mittwoch unseren Kram zusammenpacken, guckt sie mich lange an.
Mir wird ganz heiß, aber ich spiele die Coole. »Was’n?«
»Kennst du meinen richtigen Namen? Du sagst immer nur Peach zu mir.«
Bevor ich entscheiden kann, ob ich ihr die erbärmliche Wahrheit oder eine souveräne Halblüge auftische, kommt unser Aufsichtslehrer in die Abstellkammer.
»Hey, Peach, deine Eltern sind da. Lass sie nicht warten.«
Hilflos muss ich mit ansehen, wie sie ihren Rucksack nimmt und sich über die Schulter wirft. »Na, ist ja auch egal. Ich dachte nur, wir könnten mehr als Aufräumgefährtinnen sein. Ich wünsche dir schöne Sommerferien.«
Sie umarmt mich lange, und dann ist sie weg.
Völlig überrumpelt stehe ich im Staub. Als mein Gehirn wieder einsetzt, renne ich hinterher. Ich will ihren Namen sagen und mehr für sie sein.
Schnaufend komme ich auf dem Parkplatz an, wo sie gerade in einen Wagen einsteigt.
Ich schreie los. »Kira Plauenberg! Ich steh' auf dich!«
Sie schaut auf und grinst mich an, bevor sie im Heck verschwindet.
Hinter mir höre ich Gegröle und Gelächter. Ich drehe mich um. Am Fenster vom Kunstraum hat sich eine Meute versammelt und beobachtet mich amüsiert.
Tja, soviel zu meinen Plänen, bis zum Coming-Out-Tag zu warten...