Beiträge von SchreibwettbewerbOrg

    Zwischen den Sternen


    Andächtig blickte sie auf die vorbeirasenden Sterne. Nur noch drei Tage! Sie befanden sich bereits im Landeanflug und die Verzögerung hatte merklich eingesetzt. Innerlich grinsend musste sie an die historischen Unterhaltungssendungen denken, welche sie als Kind so gerne geschaut hatte. Fenster in den Kabinen? Kein Raumfahrtingenieur würde heutzutage so etwas konstruieren. Hochauflösende Bildschirme waren genauso nützlich, wesentlich sicherer, und die Isolierung der Hülle wurde nicht unnötig geschwächt. Wobei es sowieso kaum Passagiere gab, die etwas von Fenstern gehabt hätten. Sicher, sie hatte einhundert Kolonistinnen an Bord, aber diese lagen im künstlichen Koma. So verbrauchten sie weniger Sauerstoff, konnten über Magensonden mit hochkalorischer Flüssignahrung versorgt werden, und langweilten sich nicht während des mehrmonatigen Flugs zum Mars.


    Die Mannschaft bestand nur aus sechs Personen. Immer zwei hatten Dienst, zwei Freizeit und zwei schliefen. Aus Gründen der Gewöhnung waren sie in drei Acht-Stunden-Schichten eingeteilt. Sollte etwas passieren, könnte man ohne erhöhtes Sicherheitsrisiko auf Zwölf-Stunden-Schichten umstellen. Aber das war unwahrscheinlich, der Autopilot hätte die Aufgabe auch allein erledigen können. Vielleicht sollte man Filme wie 2001 und Terminator von den Streamingportalen nehmen, damit die Menschheit weniger misstrauisch gegenüber künstlichen Intelligenzen werden würde …


    Außer den zukünftigen Kolonistinnen hatten sie eine große Samenbank an Bord. Vor 80 Jahren hatten weitblickende Wissenschaftler nach Möglichkeiten gesucht, Kosten zu reduzieren. Dabei wurde festgestellt, dass Frauen weniger Sauerstoff und Nahrung benötigten, im Durchschnitt kleiner waren und daher mit weniger Platz auskommen konnten, und dass für die schnelle Bevölkerungszunahme Frauen plus Samenbank eine doppelt so große nächste Generation ergeben würden wie eine 50:50 mit Männern gemischte Gruppe. Allen Versuchen zum Trotz waren künstliche Gebärmütter immer noch Utopie. Außerdem waren Frauen weniger anfällig für Krankheiten, lebten länger, und Größe und Körperkraft konnten durch mechanische Exoskelette ausgeglichen werden. Das alles war auch früher schon bekannt gewesen, aber Sexismus lies sich schwerer ausmerzen als Hunger und Kriege.


    Um psychischen Problemen vorzubeugen, waren die zukünftigen Mütter der nächsten Kolonisten allesamt lesbisch, bi oder asexuell. Nach Abflug des Schiffs würden sie in den nächsten Jahren Männer allenfalls wickeln … Außerdem mussten sie gesund, gebärfähig, zwischen 20 und 30 und überdurchschnittlich intelligent sein. Eine wertvolle Fracht also.


    Allerlei Samen, Bakterienkulturen und Chemikalien, dazu Maschinen, Nahrungsmittel und Bauteile für Unterkünfte füllten die Lagerräume der „Angela Merkel“. Diese Kolonistinnen würden die kleine, bisher lediglich experimentelle Marskolonie zu einem echten Stützpunkt der Menschheit auf einem anderen Planeten machen. Flüchtlinge eines ausgebeuteten, überfüllten Planeten, und Hoffnungsträger für viele. Tiere wurden nicht transportiert – Haustiere waren überflüssiger Luxus, der Ressourcen vernichtete, und Nutztiere wurden nicht benötigt. Alle Kolonisten waren gezwungenermaßen Veganer. Da inzwischen fast alle Nahrungsmittel täuschend echt aus pflanzlichen Rohstoffen und Chemie nachgebaut werden konnten, traf das sowieso auf die halbe Weltbevölkerung zu. Der Bestand an Rindern, Schweinen und Geflügel hatte sich in den letzten fünfzig Jahren mehr als halbiert, trotzdem litten weniger Menschen Hunger.


    Ihr Blick fiel wieder auf die Sterne, welche ohne Luftschicht und Lichtverschmutzung so viel heller schienen. Ihre Aufgabe erforderte ihr Rückkehr zur Erde, wenn alles ausgeladen und verstaut war, aber sie würde auch wieder hierher kommen. Es würde noch viele Flüge geben, und es gab nur wenig Pilotinnen, die den langen einsamen Flug übernehmen wollten. Pilotinnen wie sie. Sie liebte die Erde, diesen wunderschönen blauen Planeten, und sie war fasziniert vom Mars und seinen roten Wüsten, aber ihr Platz war hier: Zwischen den Sternen.

    Zu den Sternen stolpern


    Wir starren seit Jahrtausenden in den Himmel. Als hätten sie etwas, das uns fehlt. Trost vielleicht. Oder wenigstens eine Gebrauchsanleitung fürs Menschsein.


    Vielleicht, weil sie uns zeigen, wie klein wir sind – und trotzdem bedeutungsvoll.

    Weil sie unsere Geschichten tragen: in Sternbildern, Gedichten, Liedern.

    Weil sie da sind, wenn wir allein sind. Und weil wir hoffen, dass irgendwo jemand ebenfalls zu ihnen schaut.


    Vielleicht, ganz insgeheim, hoffen wir, in ihrem Leuchten auch uns selbst zu entdecken.


    In »Der kleine Prinz« sind die Sterne Freunde. Sie lachen, wenn man sich erinnert.

    In »Sunshine« müssen sie gerettet werden – als wäre ihr Leuchten der Herzschlag der Menschheit.

    In »A Star is Born« und »Supernova« verkümmern sie – mal unter Ruhm, mal aus Liebe.

    In »Moby-Dick« geben Sterne Orientierung im tobenden Ozean.

    In »Star Wars« kämpfen wir um Sterne, die keine sind. Sondern Todesmaschinen mit PR-Abteilung.

    Während Schiller über ihre Erhabenheit philosophiert, fällt in »Stardust« ein Stern vom Himmel. Wird zur Frau mit Herz und Rückgrat.

    Und in »Schindlers Liste« wird der Stern zum Symbol der Ausgrenzung. Kein Licht. Nur Stigma.

    Carl Sagans »Contact« schickt seine Heldin zu den Sternen. Nicht nur durch Raum, sondern durch Glauben.


    Nicht immer leuchten diese Sterne am Himmel. Manchmal tun sie das tief in uns – oder brennen uns aus.

    Und nicht selten erzählen sie uns von uns. Von Hoffnung, Verlust, dem Versuch, einander verständlich zu machen. Und von der waghalsigen Bereitschaft, jemandem zu gehören.


    Und dann bist da du.


    Du würdest jetzt vermutlich grinsen und sagen:

    »Aha. Mein emotionaler Klotz versucht gerade, Gefühle auszudrücken. Wie süß.«

    Wahrscheinlich hättest du recht.


    Gefühle zeigen fällt mir schwer. Ich bin innerlich eher IKEA-Anleitung als Liebesbrief.

    Komplimente verteile ich bevorzugt in Form von sarkastischen Seitenhieben.


    Und trotzdem frage ich mich manchmal, ob du weißt, wie viel von meinem Leben du längst zum Leuchten bringst.


    Du bist mein Lieblingsmensch zum Anschweigen.

    Ich dein Versuchskaninchen für Ehe-Tipps aus der Gala – diese unscheinbar boshaften Fallstricke zwischen Shampoo-Werbung und Horoskop.

    Der einzige Staatsbürger deines streng geführten Binnenstaats mit Gartenzaun als Zollgrenze.

    Dessen absolutistische Regierung bei Nacht gern mündlich neue Gesetze erlässt – zur rückwirkenden Erklärung alltäglicher Absurditäten.


    Einer dieser Beschlüsse: Ich habe gefälligst nach dir zu sterben. Weil du nicht um mich trauern willst.

    Und sollte ich je des Hauses verwiesen werden, müsse ich wohl in der Garage schlafen. Alles andere bleibe bitte gleich.

    Die Katzen würden es sonst nicht verkraften.


    Und manchmal sagst du einfach nur »Danke«, und ich weiß nie, ob das gerade eine Beleidigung oder ein Heiratsantrag war.


    Sterne sind wie Beziehungen:

    Von Weitem wunderschön. Aus der Nähe betrachtet: brennende Gaskugeln voller Chaos, Gravitation und gelegentlicher Explosion.

    Und trotzdem ermöglichen sie Leben. Sogar auf kleinen, steinigen Planeten mit Garage.


    Mit dir zu leben ist wie ein intergalaktischer Roadtrip mit defektem Navi und kaputten Lautsprechern.

    Und trotzdem: Ich würde genau dieses Raumschiff wieder nehmen.

    Manchmal fühlt sich unser Alltag an wie ein Improvisationstheater mit strengen Regieanweisungen.

    Und trotzdem, oder gerade deshalb: Du bist der Mensch, mit dem ich bereit bin, zu den Sternen zu stolpern.



    Ohne Plan. Ohne Helm. Mit Snacks.


    Vielleicht hat Yvaine aus »Der Sternwanderer« es besser gesagt als ich es je könnte:

    Weißt du, ich sagte einmal, ich wüsste wenig über Liebe. Das war nicht wahr. Ich habe sie gesehen. Über Jahrhunderte hinweg.
    ...
    Und wenn du mein Herz haben möchtest – ich würde mir nichts anderes wünschen.
    Keine Geschenke, keinen Besitz, keine Beweise.
    Nur die Gewissheit, dass du mich liebst.
    Einfach dein Herz – im Austausch gegen meines.

    Sterneküche


    In einem kleinen, unscheinbaren Viertel in Carcassonne, Frankreich, begann die Reise von Mathieu Morel, der bei seiner Großmutter aufwuchs.

    In ihrem Bistro zauberte er Kräuterbrote und half ihr, Suppen zu kochen, um damit die Herzen von Menschen zu erreichen. „Essen für die Seele“, lächelte sie.

    Als Mathieu erwachsen wurde, starb seine Großmutter.


    In seinem Herzen hatte er sich ihre Stimme für seine großen Träume bewahrt. Sie hatte ihn immer ermutigt niemals aufzugeben. Doch Ermutigung brauchte auch Geld und das hatte er wenig.


    „Nourriture pour l'âme“ – so hieß sein kleines Lokal, was er sich aufbaute. Nach Zwischenstationen als Koch in Paris und Marrakesch war er wieder nach Carcassonne zurückgekehrt. Heimat für die Seele.


    Der Weg zum Erfolg war jedoch alles andere als einfach. Die Möbel hatte er auf Flohmärkten erstanden, ein Berater hatte ihm zu einem weniger sperrigen Namen für sein Restaurant geraten. Erfolglos. Es war jedoch schwer. Mathieu war allein in seiner Küche, allein für die Begrüßung der Gäste, das Kellnern und den Abwasch zuständig. Er gab seine Seele für das Lokal.


    Nur wenige Gäste kamen, doch er glaubte an seinen Traum.


    Lange las er die alten Familienrezepte nach, verwob sie mit neuen Ideen, den hippen Einflüssen aus der Welt, die er ebenfalls kennengelernt hatte.


    Der Wendepunkt kam an einem wolkenlosen Winterhimmel. Die Sterne funkelten schwach gegen die Lichtverschmutzung der Stadt an und die Straßenbeleuchtung war deutlich heller als der Nachthimmel.


    Eine ältere Dame betrat sein Restaurant. Allein, hungrig und ein wenig mürrisch wischte sie seine höflichen Bemühungen meist teilnahmslos zur Seite. Von seiner kleinen Karte suchte sie sich geröstete Pastinaken mit Lavendelhonig und Pain Perdu mit Foie Gras und Apfel-Zimt-Gel aus. Das war seine neueste Fusion: herzhaft traf süß. Flambierte Gänseleber wie seine Großmutter sie zubereitet hatte, traf auf in Entenfett gebratene Brioche mit Apfel-Zimt-Gel und Karamell.


    Als er sich nach ihrem Eindruck erkundigte, sagte sie bei der Vorspeise schlicht „très bien“. Bei der Hauptspeise war dies ebenfalls ihr Feedback an Mathieu. Die Rechnung beglich sie ordentlich, nicht mit einem überladenen Trinkgeld. Als er die Tür hinter ihr schloss, glaubte er noch ein leises „très bien“ vernommen zu haben.


    Zwei Tage später sah er ein Foto seines Lokals in der regionalen Zeitung. Die Chefredakteurin habe bei ihm gespeist und eine Kritik geschrieben. „Das Herz von Carcassonne braucht keine große Küche, um kraftvoll zu schlagen.“ Seine Knie wurden weich. Der Artikel spülte Leute in sein Restaurant – über Nacht war es ausgebucht.


    Doch mit dem Erfolg wuchs der Druck. Mathieu wollte keine Kompromisse eingehen. Andere Lokalitäten seiner Art wuchsen, um mehr Gäste bedienen zu können, stellten Personal ein. Doch das war er nicht. Er wollte wie seine Großmutter weiter jeden Gast kennen. Doch nach vollbesetzten Schichten schlief er wie ein Stein vor lauter Erschöpfung. Er musste handeln.

    Das tat er, indem er die Anzahl der Tische reduzierte. Seine Karte präzisierte. Mit handgemachten Kräuterölen experimentierte, eigene Kreationen brachte.

    Manche Schichten waren dennoch so hart, dass er in der Küche nach dem Abwasch Tränen weinte. Andere Momente stimmten ihn so glücklich als wäre sein Herz ein Tor, das er weit öffnen konnte.


    Nach zwei Jahren voller Schweiß, Rückschläge und unzähliger Essen kam der Anruf. Das „Nourriture pour l'âme“ bekam seinen ersten Stern.


    Der Stern löste eine Lawine aus. Reservierungszahlen und Anrufe von ehemaligen Kollegen, Bewerbern und beratschlagenden Marketing-Mitarbeitern und Managern nahmen überhand. Mathieu erdete sich von dieser Flut mit dem Blick auf das Porträt seiner Großmutter, das im Lokal die Hauptdekoration bildete. Sie lächelte mit Mehl an den Händen in den Raum und erhellte die Seelen so vieler Leute. Auch seine.


    „Für dich“, flüsterte er, als das Telefon einen Moment verstummt war.

    Stars – stars – stars


    „Sterne sind gigantische, leuchtende Gasbälle, die durch Kernfusion Energie erzeugen. Sie entstehen aus kosmischen Gaswolken und können Milliarden Jahre bestehen. Ihre Farben reichen von kühlem rot bis heißem blau. Damit ist die heutige Stunde beendet.“


    Er wartete bis alle Schülerinnen und Schüler aus dem Raum gegangen waren, erst dann begann er seine Aktentasche zu packen. Als er damit fertig war, nahm er die Lesebrille von der Nase und verstaute sie. Danach zog er die Krawatte aus und öffnete durchatmend die obersten Knöpfe seines Hemdes.


    Klick.


    Die Tür wurde abgeschlossen und er sah zu dem dunkelhäutigen jungen Mann in Skaterklamotten. „Der Unterricht ist beendet“, kam der herrische Befehl wie von allein aus seinem Mund. „Wer wird denn gleich so laut werden? Wir hatten doch eine Abmachung, wer hier gegenüber wem bestimmt werden darf.“


    Die blauen Augen des Lehrers folgten seinem Schüler durch den Raum, wie er die Jalousien herunterließ, die Außenwelt aussperrte.


    Blau hatte heiß bedeutet, oder? Er hat heiße Augen, das ist sowas von wahr und diese ernste Pose, wow. Wie die das schaffen, dass man sieht, wie muskulös er ist, obwohl er was anhat.


    Elf Minuten dauerte es bis die Rollen gedreht waren.

    Der Lehrer lag nun wie ein gefesselter Seestern auf dem Bauch auf dem Schreibtisch. Der Protest war in seinen Augen weiter lesbar, aber er war stumm, ruhig gehalten von einem aufgepumpten Knebel. Ratsch. Der Klang war laut, als dem Lehrer das Hemd zerschnitten wurde. Seine Rückenhaut war komplett bedeckt von Tattoos. Fichtenwald, Nebel und ein Wolfskopf, der nach Mond und Sternen biss.


    Der Wolf, der den Mond über den Sternenhimmel jagt. Ich liebe nordische Mythologie. Das Tattoo ist so sexy. Ich stöhne, beiße mir in die Lippen, damit man es nicht hört.


    Dunkle Finger streichelten über den Kopf des Wolfes langsam nach unten, wanderten durch den Wald abwärts und kamen am Rand der Hose zum Halt.


    Mir ist jetzt schon heiß und es lief bislang doch nur die Ankündigung des sexuellen Akts.


    45 Sekunden später war der Po des Lehrers entblößt und zwei Hände spreizten ihn auseinander. Das Spucken war wieder beinahe laut, dann kam das erste Mal eine Volltotale auf die Erektion. Ein Kondom glitt herüber. „Du gehörst heute mir“, raunte die Stimme des Schülers und klang nun auch deutlich älter als im spielerischen Tonfall. Mit einem Ruck schob er sich in seinen Lehrer und nahm direkt einen unbarmherzigen harten Rhythmus auf.


    Ich rutsche auf dem Stuhl umher, oh Gott, ich zerfließe wirklich. Danke an mein planerisches Hirn, dass ich einen Slip mit extra saugfähiger Binde unter schwarzer Jeans und lila Pullover gewählt hatte.


    Der Sex dauerte ganze neun Minuten und hatte mehrere Orgasmen bedeutet, dann wurde der Lehrer befreit und das Bild auf der Leinwand kurz dunkel, ehe der Abspann begann.


    Mir ist immer noch heiß.


    Als nach dem Abspann das Licht wieder ansprang, betraten beide Darsteller die Bühne. Der Schüler hatte Applaus bekommen, beim Lehrer war der Saal ausgerastet.


    Ich auch.


    Es dauerte sieben Minuten bis genug Ruhe im Saal war, um Fragen an die Darsteller zuzulassen.

    „Daniel, wie war das mit einem Star wie Gordon zu drehen?“ Die Frage kam von einem jungen Mann. „Das ist, als würde ich Sie fragen, wie das ist, mit Tom Cruise ein Picknick zu haben. Es ist Wahnsinn! Er ist ein toller Lehrer!“


    Doppeldeutig, clever.


    Eine halbe Stunde später war der Trubel vorbei.


    Gordon lehnte mit dem Hintern am Interviewtisch. Eine Frau in schwarz und lila stand direkt vor ihm.

    „Hallo Schatz“, raunte er und küsste sie, spürte ihre Hände auf den Sternen am Rücken.


    „Jetzt bist du ein Weltstar.“


    „Übertreib nicht, Sternchen.“

    Sheer


    Sheer.

    Klang wie Cher.


    I was never one for saying what I really feel.

    Except tonight I'm bringing everything I know that's real.

    Stars they come and go.

    They come fast.

    They come slow.

    They go like the last light of the sun.


    Dabei schien die Sonne noch nicht wieder.

    Es war dunkel.

    Eine sternenklare Nacht.


    Sheer.

    Löwe.

    Das Sternbild.

    Der Dolmetscher hatte es mir beigebracht.

    Selbst die Sternbilder waren hier anders, nicht nur die Menschen.

    Das Sternbild war persisch.

    Der Dolmetscher Afghane.

    Wieso hatte man mir nicht vorher beigebracht, wie Persien und Afghanistan zusammenhingen?


    Ich war arm an Wissen und reich an eintrainierter Folgsamkeit in dieses Land geschickt worden.


    Afghanistan.


    Ich hob den Kopf etwas an und sah auf eine Gebirgskette.

    Selbst die Ödnis war schön.

    Angeschienen vom Vollmond.

    Gefährlichem Vollmond, weil viel Licht.

    Viel Licht in ansonsten tintenschwarzer mit gefühlt Milliarden Sternen übersäter Dunkelheit.


    Es war kalt.

    Mein Atem spielte die Rolle einer Wolke am Sternenhimmel.

    Löste sich wieder auf.

    War wieder da.


    Ich hörte nichts.

    Nichts war nie gut.

    Nichts war nie sicher.

    Stille bedeutete Tod.


    Die Panik ruckte durch mich.


    Ich hob wieder etwas den Kopf.

    Lag auf dem felsigen Boden.


    Plötzlich spürte ich Hände an meinen Schultern.

    Ein Gesicht tauchte über meinem auf.

    Nahm mir den Großteil der Sicht auf den Sternenhimmel.


    Ich sah auf die dunklen Lippen im dunklen Gesicht in dunkler Uniform.

    Die Lippen bewegten sich.

    Ich hörte nichts.


    Die Augen flackerten etwas zur Seite und dann nach unten, dann wieder in mein Gesicht.

    Wieder bewegten sich die Lippen.

    Wieder hörte ich nichts.


    Eine Hand wanderte in mein Blickfeld, die eine andere Hand umschloss.

    Ich drückte zu und sah wie die Finger die andere Hand drückten.

    Das war meine Hand in der Hand meines Kameraden.

    Das war lustig.

    Wir hielten Händchen.


    Ich verzog die Lippen zu etwas, von dem ich annahm, dass es ein Grinsen war.

    Meine Hände wurden nun beide gehalten.

    Nein, geführt.

    Meine Arme wurden verschränkt.

    Dann zog es einmal leicht und ich verließ den Boden.


    Hatte ich hier nicht einfach nur geträumt?


    Wieso wurde ich weggetragen?


    Durch die veränderte Perspektive sah ich urplötzlich all das Chaos.

    Mündungsfeuer.

    Leichen von Kameraden.


    Hinter den Hügeln wurde ich abgelegt, der Wind peitschte um sich.

    Er war aufgewirbelt von den Rotorblättern.

    Ich sah mit überdehntem Nacken den Hubschrauber, dann lag mein Kollege über mir.

    Schirmte mich vor den herumfliegenden Steinen ab.

    Als ob die weh tun würden, nichts tat weh.

    Er nahm Abstand und ich sah auf.


    Murphy.

    Lieutenant Murphy hatte mich weggebracht.

    Warum?

    Er sprach mit mir, aber wieder verstand ich nicht.

    Hörte ihn nicht.

    Er zog mich etwas mehr in eine sitzende Position.

    Da wurde alles klar.

    Ich sah es.

    Sah die abgerissenen, abgebundenen Beinfetzen, die aus meiner Uniform herausschauten.

    Alles tat weh.

    Es wurde schwarz.


    ***


    Ich war allein.

    Mehr als ein Jahr war vergangen.

    Diesmal war ich wirklich allein.

    Glaubte es nicht nur.


    Ich stand relativ sicher auf meinen Prothesen, die nun meine neuen Beine waren.

    Der Untergrund war weich.

    Das war nicht einfach.

    Ungelenk ließ ich mich auf ein Knie nieder.


    Die Sterne unserer Flagge hatte ich so gefaltet, dass sie oben waren, wie ein Himmel.

    Dieses kleine Flaggenpaket legte ich ab.


    „Danke“, murmelte ich rau.

    Meine Stimme war belegt.

    Mein Herz vor Traurigkeit eingesperrt in zu kleinen Raum.

    Mühsam stand ich wieder auf.

    Hob die Hand.

    Salutierte am Grab.


    Am Himmel leuchteten Sterne.

    Ich hatte extra eine Nacht ausgesucht.

    Eine, in der es nicht bewölkt war.

    Eine, in der ich fähig war hier zu sein.

    Das weiß des schlichten Grabkreuzes leuchtete wie ein Mond.

    Lieutenant Adam Murphy.

    Interstellare Bewerbungsunterlagen


    Betreff: Aufnahme in ein anerkanntes Sternbild

    An: Internationales Komitee für Astronomische Ästhetik und Halbgötterdarstellung (IKAAH)

    Von: HD 124092 b, derzeit freischwebend im Sagittarius-Raum, 4. Ordnung, Spiralarm 3


    Sehr geehrtes Komitee,


    Ich bewerbe mich um die Aufnahme in ein offizielles Sternbild. Ich leuchte seit 4,7 Milliarden Jahren ununterbrochen. In meiner Branche gilt das bereits als Götterniveau.


    Trotz dieser tadellosen Bilanz befinde ich mich bisher nicht in einer anerkannten Konstellation, sondern lediglich "links oben, wenn man das Fernglas richtig hält". Das missachtet meine Leuchtkraft und meinen Beitrag.



    Zu meiner Person


    Name: HD 124092 b (gerne einfach "HD" - Menschen nennen mich auch "der da")

    Sternenklasse: G2V - Sonnenähnlich, aber heißer (und bescheidener)

    Alter: 4,7 Mrd. Jahre jung (optisch deutlich frischer - siehe Anhang)

    Ort: Eigenständig, keine Zugehörigkeit zu Cluster, Sekte oder Kometenkult



    Erfahrungen & Kompetenzen

    · Beleuchtung von drei bewohnbaren Planeten (mehr oder weniger)

    · Erwärmung auf angenehm lebensförderliche Temperaturen

    · Teilnahme an drei Leuchtfestivals

    darunter das "Aurora Borealis Rave" 7002 v. Chr.

    · Kurze Gastrolle als "Hoffnungsschimmer" in zwei religiösen Überlieferungen

    · Ästhetisch auffällige Flares

    mehrfach ausgezeichnet in der Kategorie "Visuelle Dramaturgie am Nachthimmel"

    · Inspirationsquelle für mindestens einen deutschsprachigen Schlagerhit

    Urheberrechte ungeklärt, aber DJ Ötzi weiß Bescheid

    · Bewährte Stabilität über mehrere Milliarden Jahre

    keine Supernova-Tendenzen, sehr zuverlässig


    Motivation


    Ich möchte nicht länger mit belanglosen Himmelskörpern verwechselt werden. Wenn ein Zwergstern namens "Herbert" im Sternbild "Fliegender Fisch" aufgenommen wird, frage ich mich, woran dieses Komitee die Messlatte hängt. Vermutlich an einem halb verglühten Neutronenstern mit Vitamin-Mangel.



    Meine Wunschzuweisung wäre das Sternbild Orion. Ich finde, der Gürtel braucht dringend einen stylischen vierten Knopf, bin aber offen für innovative Konstellationskonzepte. Ich leuchte nicht nur – ich gestalte Himmel. Und ich bin bereit, Verantwortung in einem größeren Muster zu übernehmen. Auch wenn das Muster aus schlecht verbundenen Punkten besteht.



    Sonstiges


    Ich bin absolut bereit, mich in die gewünschte Form zu bringen – sei es durch perspektivische Täuschung, offensive Lichtverdrängung umliegender Sterne oder schlicht kosmisches Charisma.


    Ich verfüge über ein exzellentes Leumundszeugnis vom Planeten X'Tu-P12, dessen Bevölkerung mich einst verehrte.

    (Leider ausgelöscht durch spontane Religionsskepsis. War ein Dienstag.)


    Ich erwarte Ihre Rückmeldung innerhalb einer astronomisch vertretbaren Frist.

    Sollte diese ausbleiben, werde ich meine Leuchtkraft künftig exklusiv für Selfies im Sternbild "#GlowUp" reservieren. Ich bin bereit, Kompromisse einzugehen. Aber nicht bei meiner Leuchtkraft.


    Mit leuchtenden Grüßen,

    HD 124092 b

    (Unabhängiger Stern – nicht Teil des Mainstream-Himmels, aber bereit zu glänzen)



    Anhang A – Empfehlungsschreiben von Beteigeuze

    (Roter Überriese, Alpha Orionis, gelegentlich dramatisch)


    An das Internationale Komitee für Astronomische Ästhetik und Halbgötterdarstellung,


    Ich, Beteigeuze, altgedienter Stern des Orion-Gefüges und baldige Supernova wider Willen, spreche mich hiermit ausdrücklich für die Aufnahme von HD 124092 b in ein offizielles Sternbild aus.


    Ich kenne HD seit etwa 1,2 Milliarden Jahren – damals noch ein unscheinbarer Leuchtanfänger mit Ambitionen. Was mich beeindruckt hat, ist nicht nur seine Leuchtkraft (durchaus solide), sondern seine konstante Zuverlässigkeit. Keine Eskapaden, kein Plasma-Drama, keine Spektralklassen-Identitätskrisen.


    In einer Zeit, in der selbst die Plejaden anfangen, sich wie Influencer zu benehmen, wirkt HD erfrischend unprätentiös. Sein Licht ist nicht nur sichtbar – es hat Haltung.


    Ich habe ihn mehrfach bei interstellaren Tagungen getroffen (z.B. beim "Glowposium 1800") und stets als kompetenten Himmelskörper erlebt. Seine Fähigkeit, benachbarte Sterne nicht zu überstrahlen, sondern zum Leuchten zu motivieren, ist bemerkenswert.


    Sollte ich demnächst implodieren (und die Zeichen stehen leider gut), würde ich es als letzte würdige Handlung betrachten, HD 124092 b in mein Sternbild aufzunehmen. Der Gürtel braucht ihn – und das Universum ehrlich gesagt auch.


    Mit glühender Hochachtung,

    Beteigeuze

    (Leuchtender Veteran und chronisch unterschätzter Showman)

    Die Schwierigkeit mit dem Stern

    (Brief eines himmlischen Beobachters)


    An dich, der du suchst – oder dich erinnerst.


    Ich war dabei. Nicht ganz vorn, aber nah genug, um es nie zu vergessen.

    Es ging um seine Geburt. Der, der Licht bringen sollte.

    Südlicher Horizont. Epoche: fragil.


    Es war nicht mein Auftrag. Nicht direkt.

    Aber irgendwann war es niemandes Auftrag – oder der von zu vielen.


    »Ein Zeichen«, hieß es.

    »Ein Licht«, sagten die einen.

    »Ein Impuls«, die anderen.

    »Soll gesehen werden«

    »Soll verstanden werden«

    »Soll leuchten«


    Und plötzlich wollten alle etwas sagen.


    Die Lichtgestalten verlangten etwas Großes.

    Die Weisen des Lichts etwas Diskretes.

    Die älteren Engel pochten auf Tradition.

    Die Jüngeren auf Sichtbarkeit in allen Dimensionen.


    Einige wollten einen Kometen: »Bewegung! Dynamik! Himmlisch mit Schwung!«

    Andere: »Zu unheilvoll. Wir brauchen Hoffnung, kein kosmisches Fragezeichen.«


    Die Idee, ein neues Licht zu erschaffen, kam auf.

    Sie zerfiel an Meinungen.

    »Zu auffällig.«

    »Zu unauffällig.«

    »Ästhetisch problematisch.«

    Am Ende blieb: nichts.


    Wir prüften jeden sichtbaren Stern.

    Sirius winkte ab: »Schon wieder? Nein.«

    Vega meinte, es sei »künstlerisch reizvoll, aber überstrapaziert«.

    Die Plejaden? Zerstritten.


    War ein Stern am Ende zu viel des Guten?

    Jupiter und Saturn in Konjuktion? Vielleicht sogar noch Mars dazu?

    Abgelehnt. Technisch gesehen um Jahrhunderte zu früh.


    Der Vorschlag einer Supernova war ebenfalls nicht das Wahre.

    Geburt mit Tod und Zerstörung feiern? Nein.


    Dann – fanden wir ihn.

    Einen jungen Stern. Namenlos.

    Hell genug. Ruhig.

    Noch nicht festgelegt.


    Wir erklärten ihm die Idee.

    »Du wirst über einem Stall stehen.

    Drei Menschen werden dich sehen und sich auf den Weg machen.

    Du wirst Zeichen sein. Und Weg.«


    Er hörte zu. Lange.


    Dann sagte er nur:

    »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«


    Ich sage dir das, weil Sterne selten fragen.

    Sie brennen, weil sie müssen.

    Doch dieser – wollte verstanden werden.


    Er sagte:

    »Ich will nicht als Wunder enden, das man später nachrechnet.

    Ich will… gefunden werden. Nicht vermessen.«


    Ich schwieg. Wir alle schwiegen.


    Er erschien trotzdem.

    Später als geplant.

    Kleiner als gedacht.

    Und nur für die, die wirklich hinsahen.


    Die Weisen fanden ihren Weg.


    Der Stern hat nicht geblendet.

    Aber geführt.


    Und ich frage mich bis heute,

    ob das nicht genug war.


    Ich habe ihn später noch einmal gesehen.

    Nicht dort. Nicht hell. Aber da.

    In einem Blick.

    In einem Entschluss.

    In einem Kind, das ging.


    In Licht und Erinnerung,

    Der Weltenlose


    Ich rannte hinter meiner Schwester her und betete innerlich, dass sie wirklich nur spielen und mich nicht erneut aufziehen wollte. Lauthals lachend eilte sie über die schimmernde Brücke und hinein in die Wiese aus silbernem Gras. Über unseren Köpfen leuchteten die Welten, als habe man Lichter in Seifenblasen gebannt.

    Ich hielt inne und blickte voller Sehnsucht nach oben. Zahllose Universen waren dort zu sehen. Und dank uns hatten sie ihren Anfang genommen.

    „Träumst du schon wieder vom Schöpfen, Brüderchen?“, neckte mich meine Schwester nun doch und knuffte mich in die Seite.

    „Was denn sonst?“, knurrte ich missmutig und seufzte. Wir waren sogenannte Schöpfer. Kleine, unscheinbare Wesen, denen eine besondere Gabe innewohnte. Wir schufen Welten. Universen. Leben. Doch nicht immer war klar, wie man vorzugehen hatte.

    Meine kleine Schwester lächelte. Dann holte sie tief Luft und pustete. Sofort strömte eine kleine Blase zwischen ihren Lippen hervor, welche von einem rötlichen Leuchten erfüllt war. Kaum hatte die Blase ihren Mund verlassen, stieg sie zu den anderen Welten empor.

    „Eine Lavawelt.“, freute sie sich. „Ob da wohl Leben entsteht?“

    „Überall entsteht Leben.“, behauptete ich.

    „Außer bei dir.“, stichelte sie und kicherte erneut.

    Niedergeschlagen nickte ich. Bisher hatte ich nicht herausgefunden, wie ich meine Gabe einsetzen konnte. Die Möglichkeiten waren unendlich. Unser Onkel furzte die Welten aus. Die Mutter musste im Handstand pfeifen. Und unser Vater, der stampfte kräftig auf den Boden.

    Zugegeben, manche Arten der Schöpfung waren ziemlich lächerlich. Doch sie alle vermochten es, Großes zu schaffen. Nur ich nicht.

    „Mach dir nichts draus. Jede Familie hat ihre Weltenlosen.“, stichelte meine Schwester weiter.

    „Hey!“, empörte ich mich. Weltenlose waren Schöpfer, die nie eine Welt zustande brachten. Sozusagen die Impotenten unseres Volkes. Es war eine schwere Beleidigung, Jemanden so zu nennen, solange er noch am Leben war und theoretisch die Möglichkeit hatte, doch noch Erfolg zu haben.

    Ich versetzte meiner Schwester einen Schubser. In meiner Wut geriet er stärker als gewollt und hätte sie beinahe umgeworfen.

    „Spinnst du?“, rief sie und funkelte mich wütend an. Dann holte sie aus und verpasste mir einen Hieb, der meine Ohren zum Klingeln brachte. Es knallte ordentlich.

    Und mit einem Mal sah ich Sterne.

    „Oh, wow.“ Meine Schwester riss staunend die Augen auf. Sonnen, Sterne und auch Planeten schwebten um meinen Kopf herum, ehe sie hinaufstiegen. Meine erste Welt.

    „Sieh mal einer an.“, sagte meine Schwester und kicherte. „So geht das also …“

    Und ehe ich mich versah, hatte sie mir noch eine gescheuert.

    Erneut tanzten Sterne um mich herum. Diese Art von Urknall gab mir doch ein wenig zu denken. Mit reichlich Kopfschmerzen verfolgte ich, wie auch dieses Universum Wirklichkeit wurde.


    Ja, so war das mit dem Urknall. Auf diese Weise entstand euer Universum. Es war meine allererste Schöpfung gewesen. Und bis zu meinem Tod sollten noch viele weitere Welten erschaffen werden. Dafür sorgte meine Schwester, die sich zu diesem Zweck eine Keule anschaffte.

    Vielleicht wäre es doch besser gewesen, ein Weltenloser zu sein.

    Der letzte(?) Lichtblick


    Nova schob sich die selbsthaftende Maske ihres CAM, des Clean Air Modules, über Mund und Nase. Ein kurzer Funktionstest – alles okay, zeigte die CCU an, die Central Control Unit, die auf ihrem Unterarm klebte. Temperaturwarnung, Vitalwerte-Alarm: alles aktiv.

    „Ich verstehe dich nicht!“, sagte ihre Mutter kopfschüttelnd. „Was willst du draußen?“ Nova zuckte mit den Schultern. „Einfach so“, antwortete sie. „Pass auf!“, mahnte ihre Mutter. „Du weißt doch …“ „Ja, ich weiß!“, schnitt Nova ihr ungeduldig das Wort ab. Wie sie diese Diskussionen hasste! Natürlich musste sie das Haus nicht verlassen, und schon gar nicht zu Fuß, das wusste sie. Es gab kaum etwas, was sie nicht von zu Hause aus erledigen konnte, und wenn sie doch irgendwo hinmusste, dann konnte sie im Erdgeschoss eine ITU nehmen, eine Individual Transport Unit.

    Aber manchmal – wahrer: ziemlich oft – brauchte sie das Gefühl, auszubrechen aus diesem von Maschinen und KI gesteuerten Dasein. Fühlen, was um sie herum war, auch wenn es bis an die Grenze des Erträglichen ging.

    Mit dem Aufzug fuhr sie ins Erdgeschoss und näherte sich der Eingangsschleuse. „Sind Sie sicher, dass Sie das Haus verlassen wollen?“, fragte eine Computerstimme, nachdem sie sich mit Irisscan und CCU-Token als Berechtigte zum Bedienen der Tür authentifiziert hatte. „Ja“, antwortete Nova mit fester Stimme.

    Die Computerstimme gab ihr die wichtigsten Parameter zum Außenzustand, dann endlich glitt das gläserne Türblatt zur Seite. Nova machte einen Schritt in die Schleuse, die Tür hinter ihr schloss sich, erst danach öffnete sich die äußere Tür. Endlich draußen!

    Hitze empfing sie, und hätte sie nicht die CAM gehabt, hätte sich sofort ein staubiger Geschmack auf ihre Zunge gelegt. 43 Grad, behauptete die CCU, das war vergleichsweise kühl und doch wie ein Schlag, wenn man aus dem künstlichen, für die menschliche Gesundheit optimierten Klima drinnen kam. Ohne Funktionskleidung, die ihre Haut schützte, und CAM hätte Nova ihre Gesundheit, vielleicht sogar ihr Leben, riskiert.

    Entschlossen, dem feindlichen Klima zu trotzen, ging Nova los, einfach die Straße entlang. Sie hatte kein festes Ziel; draußen zu sein, zumindest eine Weile in begrenzter Freiheit, war das Ziel.

    Es war fast dunkel, der graubraune Staub, der die Luft erfüllte, wirkte fast schwarz. Die Sicht war begrenzt, die Lichter der nächsten Häuser gedämpft. Nova hatte gehört, dass früher manche Städte Wasser gegen den Staub eingesetzt hatten, aber da waren die Durchschnittstemperaturen noch 15 Grad niedriger gewesen als heute, und es hatte mehr Wasser gegeben. Heute ging das nicht mehr, und wofür auch, wenn doch niemand nach draußen ging?

    Nova legte den Kopf in den Nacken, ohne besonderen Grund. Tintige Dunkelheit über ihr, aber – was war das!?

    Ein kleiner Lichtpunkt an einer Stelle, an der eigentlich kein Licht sein konnte, direkt über ihr und anscheinend weit weg. Hatte die CCU eine Information dazu? Nein, die KI war ratlos, auch als Nova das Licht mit der Graphic Capture Unit erfasste.

    Verwirrt machte Nova kehrt, um zu Hause ihre Eltern zu fragen. „Keine Ahnung“, sagte ihre Mutter, als sie wenig später das Bild sah. „Aber die CCU muss das doch wissen!“ „Eben nicht“, widersprach Nova. „Das ist ja das Komische.“

    „Ein Licht am Himmel?“, fragte ihre Großmutter aus dem Nebenraum. „Ja“, bestätigte Nova. Sie lief hinüber und zeigte ihrer Großmutter das Bild. Ihre Großmutter betrachtete es schweigend, und zu Novas Entgeisterung löste sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel. „Was ist?“, fragte Nova. „Weißt du …“ „Du hast so ein Glück“, sagte ihre Großmutter leise. „Vielleicht bist du einer der letzten Menschen, die so etwas sehen durften.“ „Was ist das denn?“, wollte Nova wissen. Ihre Großmutter lächelte, und ihre Gedanken schienen zurückzuwandern in eine Zeit lange vor Nova. „Ein Stern.“

    Alt 42


    “Du weißt, was dich heute erwartet?”

    Ich zucke zusammen. Da hat sie mich doch glatt beim Tagträumen erwischt. Und auf dem falschen Fuß.

    Aber ich beschließe, es ihr nicht übel zu nehmen und ihre Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. “Hä?!”

    Tilde lächelt nachsichtig. “Wir haben letzte Woche darüber gesprochen. Die Konfrontation mit deinen Auslösern.”

    Ich nicke hastig. “Ach so, das meintest du. Ja, klar. Lass uns los konfrontieren."

    Sie schmeißt ihren Overheadprojektor an und legt die erste Folie auf.

    An der Wand erscheinen Worte.


    Steuernummerangleichungsvorgang*

    Soliloquy*

    Proletariatsleugnung*


    Tilde mustert mich während ich sie lese und auf mich wirken lasse. “Und? Was fühlst du?”

    “Ich fühl mich gut. Fußnoten sind was Tolles. Es kann gar nicht genug Fußnoten geben.”

    Sie nickt und wechselt die Folie.


    *Superkalifragilistischexpialigetisch

    *Reparatur

    *Alliteration


    “Wie steht’s hiermit?”

    “Jeder macht mal Fehler. Ich freue mich, wenn man mich in die Korrektur einbezieht.”

    Folienwechsel.


    ****

    9817***223

    **61**


    Tilde zeigt auf die Wand.

    Ich zucke mit den Schultern. “Ich helfe gern beim Erhalt der Privatsphäre.”

    Nickender Folienwechsel.


    Verf*ckt

    Schei*e

    M*tterf*cker


    Ich verschränke die Arme vor der Brust und rutsche auf dem Stuhl herum. “Na, das ist aber ein bisschen übertrieben.”

    “Interessant. Was stört dich daran?”

    “Es ist so … unnötig schroff. Außerdem weiß ich nicht, was an dem Wort 'Mutter' piepungswürdig ist. Das gefällt mir nicht. So sollte das nicht aussehen.”

    Tilde macht sich eifrig Notizen. “Wir kommen jetzt zur letzten Folie.”

    Ich wappne mich innerlich für das, was mich erwartet.


    Polizist*innen

    Beamt*innen

    Mensch*innen


    Ich stehe auf und laufe im Therapieraum umher.

    Tilde macht sich weitere Notizen. “Was fühlst du?”

    “Ähm… Keine Ahnung. Scham? Hass? Erschöpfung?”

    “Kannst du das erklären?”

    “Nein.”

    “Wieso schämst du dich, dich in dieser Funktion zu sehen? Bist du gegen Inklusion?”

    “Nein! Natürlich nicht! Das ist ein guter Einsatz für mich. Denke ich… Es ist nur … der Hass. Ich wurde noch nie zuvor gehasst. Ich war immer gern gesehen. Manche Leute haben mich sogar verehrt und öfter eingesetzt, als es nötig war. Ich wurde als hilfreich angesehen. Aber jetzt nennen sie mich den 'Zerstörer der Sprache' und 'linksgrünversifftes Wokesternchen'!”

    “Ich kann verstehen, dass dich das belastet.”

    Ich schnaube. “Ja, klar. Gerade du. Alle Portugiesen und Spanier hassen dich bestimmt. Buhu.”

    Tilde atmet tief durch und schaut mir direkt in die Augen.

    Als ich dem Blick nicht mehr standhalten kann, setze ich mich wieder auf meinen Platz. “Tut mir leid. Das war unfair.”

    Sie nickt. “Alles okay, Asterisk. Sprich bitte weiter.”

    Ich seufze. “Früher war es einfacher. Man hat mich eingesetzt – oder eben nicht. Jetzt bin ich Thema in der Politik! Man will mich sogar verbieten! Damit kann ich nicht umgehen.”

    “Das ist eine große Umstellung für dich. Ich bin hier, um dich dabei zu unterstützen."

    Sie legt ihr Notizbuch weg und nimmt meine Hände in ihre. "Du hast heute einen großen Schritt vorwärts gemacht. Wir haben viel, womit wir nächste Woche arbeiten können. Ruh dich erstmal aus. Und meide das Internet – besonders die sozialen Medien – für einige Zeit. Alles wird gut."

    Dürfen "Schüler" - sprich "dahergelaufener Neuzugang" bei sowas auch mitmachen?

    Neue Mitschreiber sind immer willkommen, und die Teilnahmekriterien (mindestens 6 Monate dabei und/oder mindestens 50 buchrelevante Beiträge im Forum) erfüllst Du. Wenn es Dich also packt, schick eine private Nachricht an SchreibwettbewerbOrg, und Du bekommst die Zugangsdaten zum Schreibwettbewerb-Account. Etwas umständlich, das ist uns bewusst, aber noch die einfachste Lösung, damit die Organisatoren ebenfalls mitschreiben und bewerten können

    1. Platz: 18 Punkte - Im Netz von Breumel

    :welle

    2. Platz: 15 Punkte - Ins Netz gegangen von Hanse

    3. Platz: 12 Punkte - Schicksalsnetz von Hati

    4. Platz: 6 Punkte - Der Stockfisch von Inkslinger

    5. Platz: 4 Punkte - Der Fluch der Postmoderne von R. Bote

    6. Platz: 1 Punkt - Lebensretter von Suzann


    Vielen lieben Dank wieder an alle, die mitgemacht haben, und vielleicht outen sich unsere beiden fehlenden Autor:innen noch ;)