Berg ist Berg
von R. Bote
Der Nachtexpress rauschte durch die Dunkelheit. Ab und zu huschte ein Lichtschein durchs Abteil, wenn der Zug durch einen Bahnhof fuhr. Seufzend setzte Alex sich auf und warf einen Blick auf die Uhr: schon nach zwei in der Frühe! Viel geschlafen hatte er noch nicht, es war seine erste Fahrt mit dem Nachtzug, und sein Schlafwagenabteil war zwar bequem, aber doch irgendwie ungewohnt.
Dabei hatte er sich diesmal bewusst dafür entschieden: reisen ohne Stress, abends ins Bett gehen und morgens in den Schweizer Bergen aufwachen. Er musste einfach mal raus, weg von den Mitbewohnern in der WG, die sich an keine Absprachen hielten, und weg von den Eltern, die nicht akzeptieren wollten, dass er nicht ihre Musikalienhandlung übernehmen würde. Zum Glück konnte er seinen Job als Webdesigner von überall aus erledigen, nur Internet brauchte er halt dafür.
Vielleicht half ja ein kleiner Absacker, noch ein bisschen Schlaf zu bekommen? Ob das Bordbistro wohl noch geöffnet war? Alex zog sich an, steckte Portemonnaie und Handy ein und machte sich auf den Weg.
Er hatte Glück, das Bistro war noch geöffnet. Am Tresen holte er sich ein Bier und aus einer spontanen Eingebung heraus eine Brezel. Mit seinem Nach-Mitternachts-Snack setzte er sich an einen freien Tisch und griff nach der Zeitung vom Vortag, die dort lag.
Eine halbe Stunde lang blätterte er ohne besonderes Interesse in der Zeitung, trank sein Bier und aß die Brezel. Er war der einzige Gast, vielleicht lag es daran, dass das eintönige Rattern der Räder plötzlich einschläfernd wirkte. Er legte die Zeitung weg, brachte das Geschirr zurück und ging zum Durchgang zu seinem Wagen.
Doch als er die Tür öffnen wollte, gab sie nicht nach. „Falsche Seite!“, rief ihm der Bahnangestellte zu, der sich mangels Kundschaft hinter dem Tresen langweilte. „Sie müssen drüben raus.“ Dabei deutete er zum anderen Ende des Bistrowagens.
Alex schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein, denn als er reingekommen war, hatte er den Tresen aus seiner Sicht rechts vor sich gehabt. Wäre er von der anderen Seite gekommen, dann wäre der Tresen für ihn aber logischerweise links gewesen.
„Wie ist denn Ihre Wagennummer?“, erkundigte sich der Bahnangestellte nach kurzem Überlegen. „Oje!“, meinte er, als Alex sie nannte. „Sie sind im falschen Zugteil. Das hier sind die Wagen nach Innsbruck, die in die Schweiz sind vor einer Viertelstunde abgekoppelt worden.“
Alex wurde blass. Und was jetzt? Okay, erst mal ganz ruhig! Er zwang sich, tief durchzuatmen, und wägte seine Optionen ab. Am nächsten Bahnhof in Panik aus dem Zug zu springen, würde ihm nicht helfen, den Zugteil in die Schweiz würde er nicht mehr einholen. Also ganz ruhig die Zugverbindungen checken, und der Mann von der Bahn konnte bestimmt telefonisch dafür sorgen, dass sein Gepäck für ihn verwahrt wurde. Immerhin hatte er sein Handy dabei, etwas Bargeld, seinen Ausweis und seine Kreditkarte, das reichte, um über die Runden zu kommen.
Während er die Fahrplan-App aufrief, kam ihm eine Idee: Warum den Zufall nicht so stehen lassen? Dann eben Tirol, war doch auch eine schöne Ecke! Genau, er würde sich eine nette Pension suchen, jetzt in der Nebensaison war bestimmt auch kurzfristig was zu kriegen, und sein Gepäck würde er sich schicken lassen.
***
Alex betrachtete noch einmal prüfend die eben fertiggestellte Website und lehnte sich zurück. Durchs Fenster schaute er auf die Pension, die er spontan ausgewählt hatte. Auf der Terrasse bediente die Frau, die ihm das erste Essen serviert hatte, und im Garten nebenan schaukelte Marie, die nicht ahnte, dass ihre Geschichte vor vier Jahren mit einem Bier zur falschen Zeit begonnen hatte.