Hast Du Töne?
von Marlowe
Wie soll man etwas vermissen, von dessen Existenz man gar nichts weiß? Kar saß Tag und Nacht vor dem Eingang der riesigen Höhle, bewachte das Feuer und hatte ansonsten viel Zeit, seine Umgebung zu beobachten.
Andere brachten das trockene Feuerholz und von Zeit zu Zeit legte Kar einige der Äste auf das Feuer und beobachtete, wie die Funken, er nannte sie die Kinder des Feuers, mit dem Rauch in den Himmel stiegen. Er hatte alles gut im Blick, das Feuer, die anderen des Clans, den Eingang der Höhle, den Waldrand.
Seit Got,der Schamane, die Höhle als besonderen Ort der Göttin des Lebens und der Fruchtbarkeit erkannt hatte, wurde viel Zeit in die Gestaltung der Höhle investiert. Riesige Wandmalereien entstanden seitdem und die Bedeutung des Schamanen wurde immer größer. Er genoss diese Anerkennung natürlich, denn nach Wal, dem Anführer des Clans und besten Jäger, war Got nun die unbestrittene Nummer zwei. Er teilte sich mit Wal die Frauen, ohne Murren der anderen, er bekam nach Wal das beste Fleisch der erlegten Tiere und führte das Kommando über die Fackelbauer und die Maler.
Kar dagegen war zwar unbedeutend, aber sehr zufrieden mit sich und seiner Aufgabe. Ab und zu briet er sich ein paar erlegte Vögel in seinem Feuer, langsam setzte er Fett an, doch den jungen Mädchen gefiel das offenbar und so teilte er gerne das Fleisch mit ihnen und ihm wurde selten langweilig.
Doch heute war so ein Tag, alle waren unterwegs, er saß alleine am Feuer und spielte mit ein paar weißen Knochen, Reste vergangener Mahlzeiten. Ein langer gerader Knochen hatte es ihm besonders angetan. Er war hohl und Kar schlug mit ihm leicht und gedankenverloren auf einen Stein. Das klang irgendwie anders als alle anderen Geräusche, die er so kannte. Plötzlich bemerkte er, dass sich die Geräusche veränderten.
Er sah sich den Knochen genauer an. Unwillig stellte er einige Löcher fest, das war ärgerlich, es hatte so hübsch geklungen. Er blies hinein um die Reste zu entfernen und klopfte wieder leicht auf den Stein. Es war nicht so wie vorher, also blies er nochmals kräftig hinein und plötzlich kam ein kräftiges, helles Geräusch aus dem Knochen. Erschrocken sprang er rückwärts und warf ihn ins Gebüsch. Sein Atem ging heftig, so etwas war noch nie passiert.
Nach einer Weile, in der absolut nichts geschah, wurde er wieder mutig. Er suchte den Knochen, hielt ihn wie vorher und blies diesmal leicht hinein. Da war wieder dieses Geräusch. Er hielt kurz inne und sah sich um. Doch nichts passierte. Er versuchte es wieder und wieder, verdeckte dabei die Löcher abwechselnd und die Geräusche veränderten sich immer wieder. Das machte Spaß und so blies Kar immer wieder hinein und probierte alles mögliche aus.
Dabei bemerkte er nicht, dass fast der gesamte Clan inzwischen zurück war und wie ihn alle fassungslos, einige nur erschrocken oder sogar ehrfürchtig anstarrten. Bis Got aus der Höhle herausstürmte, ihm den Knochen aus den Händen riss und Kar mit einem Tritt ins Feuer beförderte.
Kar schrie vor Schmerzen, doch Got war wie von Sinnen und tötete Kar mit einem schweren Schlag eines Steines. Dann nahm er den Knochen und erklärte den Clanleuten, die Göttin hätte ihn dazu aufgefordert, Kar daran zu hindern, er erfand in aller Schnelle das Wort, Töne zu machen. Das wäre den Schamanen vorbehalten. Dann stolzierte er in die Höhle zurück wo er nächtelang übte, aber er hatte kein gutes Gehör dafür.
Mit der Zeit lockerten die Götter deshalb angeblich die Regeln und Knochenblasen wurde nun auch anderen erlaubt. Kar, das erste Opfer der Töne, wurde vergessen, aber sein Erbe blieb: Musik.