Semester 184
von R. Bote
Nur ein kleines Schild wies den Erstsemestern den Weg: „Einführungsveranstaltung Keltologie Raum 2.04“. Der Saal im zweiten Stock gehörte zu den kleineren Seminarräumen der altehrwürdigen Hochschule, und ein größerer war auch nicht nötig. Wenn die Zahl der Studenten, die sich zu Beginn des neuen Semesters für diesen doch eher exotischen Studiengang anmeldeten, zweistellig war, dann war das schon viel.
Frederick zählte neun Häupter, davon waren sieben Frauen. Bis zum Beginn der Einführungsveranstaltung, die der Dekan der kleinen Fakultät halten sollte, war noch etwas Zeit, aber Frederick glaubte nicht, dass noch jemand kommen würde.
„Ich hab gehört, hier soll es spuken!“, sagte er zu seiner Sitznachbarin, einer jungen Frau mit pechschwarzem Haar und ein paar Sommersprossen im Gesicht. Seine Kommilitonin schmunzelte. „Der berühmte ewige Student?“, meinte sie. „Den hat doch jede Uni.“ Frederick schüttelte den Kopf. „Nein, der Geist einer Studentin, die vor fast 100 Jahren hier gestorben ist.“ „Hier?“, echote die Kommilitonin, und Frederick nickte. „Der Legende nach ist es bei einer Burschenschaftsfeier passiert. In den Burschenschaften waren zwar nur Männer, aber für ihre Partys haben sie wohl doch gerne ein paar Frauen eingeladen. Was genau war, weiß keiner, weil alle, die es wussten, eisern geschwiegen haben, aber sie ist spät in der Nacht aus dem Fenster gestürzt und war sofort tot.“ „Weißt du, wie sie hieß?“ Frederick nickte. Er mochte solche geheimnisvollen Geschichten und freute sich, dass seine Kommilitonin darauf einging. „Caitriona“, antwortete er. „Sie war Irin, aber in Deutschland aufgewachsen. Die Polizei hat damals am Ende die Akten geschlossen. Unfall, hat es geheißen, sie wäre betrunken gewesen und hätte sich nicht mehr halten können. Die Legende behauptet, dass das nicht stimmt, angeblich hätte jemand nachgeholfen, dass sie fällt, jemand, der aus einer Familie stammte, die genug Einfluss hatte, um dafür zu sorgen, dass die Polizei nicht tiefer gräbt. Seitdem geht sie um auf der Suche nach ihren Mördern. Wenn’s so ist, dann könnte sie aufhören damit, die müssten mittlerweile ja weit über 100 sein, da lebt bestimmt keiner mehr. Sie könnte sich höchstens an die Nachfahren halten, wenn es welche gibt.“ „Vielleicht will sie genau das“, meinte seine Nachbarin. „Dann müsste ich mir Sorgen machen“, antwortete Frederick lachend. „Einer von den Studenten, die nachweislich auf dieser Feier waren, hieß genauso wie ich. Reiner Zufall hoffentlich!“ „Ja, hoffentlich!“, pflichtete seine Kommilitonin ihm bei. Sie lächelte, aber es wirkte hintergründig, und irgendwie hatte Frederick ein merkwürdiges Gefühl dabei.
Sie stand auf, ließ aber ihre Tasche auf dem Tisch liegen. „Bin gleich wieder da“, kündigte sie an.
Im Vorbeigehen stieß sie an ihre Tasche, und ohne dass sie es merkte, öffnete sich ein Seitenfach, und ein Studentenausweis rutschte heraus. Frederick fiel ein, dass er seine Kommilitonin eigentlich längst mal nach ihrem Namen hätte fragen können. Er nutzte die Gelegenheit und neigte den Kopf, um ihn vom Ausweis abzulesen: „Caitriona Hannigan.“