Zitat
Original von evalotta
Und nicht nur das – auch von Details, die in der Buchbeschreibung erwähnt werden und neugierig auf „Nacht“ machen, ist nicht viel zu finden. Alma hatte einen Unfall: dieser spielt so gut wie keine Rolle und wird nur ab und an mal am Rande erwähnt. Sie verspürt seitdem bei Berührungen grausam Schmerzen: das wurde nicht ein Mal im ganzen Buch erwähnt. Zwischendurch gibt es immer wieder mal kleine Andeutungen, dass sie Kopfschmerzen etc. bekommt, aber dass diese Schmerzen mit Berührungen zusammenhängen, davon ist überhaupt nicht die Rede.
Dass es zwischen Morgan und Alma eine Liebesgeschichte gibt, habe ich vielleicht in den Klappentext hineininterpretiert, ich weiß es nicht. Aber auch von ihr ist nicht viel zu spüren.
Ich glaube nicht, dass du da etwas falsches hineininterpretiert hast. So wie ich das sehe ist das ein klarer Fall von völlig irreführendem Klappentext.
Glücklicherweise bin ich total arg- und ahnungslos an das Buch herangegangen, und komme für mich zu einem ganz anderen Schluss:
Die siebzehnjährige Alma hat ein Problem. Seit ihrem Autounfall lebt sie in einem Gefühlsvakuum, während sie gleichzeitig von grauenhaften Albträumen heimgesucht wird. Als sie herausfindet, dass es sich hierbei um Zukunftsvisionen handelt, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Doch Alma ist nicht die Einzige mit Problemen. Auch ihre Freundinnen durchleben eine schwere Zeit, sodass sie es nicht wagt, sich ihnen anzuvertrauen. Einzig Morgan, ein geheimnisvoller Schüler an ihrer Schule, scheint zu wissen, was in ihr vorgeht. Wenn sie ihn braucht erscheint er wie aus dem Nichts, ist da, hilft, und gibt ihr Halt in einer Welt, die mit jeder Nacht ein bisschen mehr auseinander bricht.
"Nacht" war für mich ein bemerkenswerter Roman, dessen ungewöhnlich intensive Sprache mich so sehr in den Bann gezogen hat, dass ich das Buch ab der Mitte nicht mehr aus der Hand legen konnte. Selten habe ich so gut ausgearbeitete und gleichzeitig so unterschiedliche Charaktere erlebt. Ich konnte mich in jede Person einfühlen, mitfühlen, was nicht zuletzt an der starken Bildsprache lag.
An den Schreibstil musste ich mich erst gewöhnen, aber nachdem ich mich darauf eingelassen habe, konnte ich praktisch nicht mehr aufhören zu lesen. In jedem Satz liegt eine Kraft, wie ich sie selten in einem Buch dieses Genres erlebt habe. Ab der Mitte wurde die Geschichte irre spannend, und hat mich gegen Ende um meine Nächte gebracht.
"Ich erreiche den Kleinen Park und nehme den Radweg, der wie eine schmerzhafte Wunde mitten hindurchgeht. So was gibt es in der ganzen Stadt, hier ein Stückchen, da ein Stückchen, ohne Verbindung, ohne Zusammenhang. Nähte wie von einem wahnsinnigen Chirurgen. Am Ende des Parks steht eine Ampel, deren müdes Licht von irgendeinem Randalierer mit Steinen malträtiert wurde." (S. 125 HC)
Alma ist ein ungewöhnliches Mädchen, und auf dem ersten Blick zunächst wenig sympathisch. Sie ist schön, aber unnahbar. Ihr Lächeln ist kalkuliert, denn sie ist ein manipulativer Mensch. Sie hat nicht viel zu geben, und das Wenige spart sie sich für diejenigen auf, die sich ihre Aufmerksamkeit verdienen.
Als Leserin wurde ich sukzessiv in ihre düstere, teilweise destruktive Welt hineingezogen, die immer mehr Risse bekommt, als klar wird, dass ihre Träume wahr werden. Nur ist das in Almas Fall keine gute Nachricht, denn sie träumt von bestialischen Morden.
Parallel dazu verändern sich auch ihre Freundinnen. Jede scheint ein düsteres Geheimnis zu hüten, das sie plötzlich nicht mehr miteinander teilen wollen. Doch Alma braucht Verbündete, denn sie stellt schnell fest, dass sie im Kampf gegen einen unsichtbaren Mörder, auf unüberwindbare Hürden stößt, und auf eine Wand des Schweigens.
"Nacht" ist für mich ist ein glasklarer 10 Punkte Kandidat, wäre da nicht der Schluss.
Das Buch endet völlig offen, und das finde ich extrem schade. Nichts klärt sich auf, statt dessen bleibt man als Leser auf einem Haufen Fragen sitzen, was mich zum nächsten Punkt bringt.
Mir ist aufgefallen, dass das Buch eher durchwachsene Kritiken bekommen hat, was mit ein Grund dafür war, dass ich mit spitzen Fingern an diese Geschichte herangegangen bin. Meiner Ansicht nach liegt die Enttäuschung der Leser am Klappentext, der für mein Empfinden völlig falsche Erwartungen weckt. Das Buch ist keine Alma-Morgan Geschichte, und die beiden kommen auch nicht im Verlauf der Handlung einem Geheimnis auf der Spur. Ich kann hier nicht deutlicher zu werden, ohne zu viel vom Inhalt zu verraten, nur so viel: Morgan kennt das Geheimnis.
Auch dreht sich dieser Teil nicht um eine Beziehung der Beiden. Hier geht es um Alma, ihre Gefühle, ihre Wandlung, und wie sie mit der neuen Situation und der sich verändernden Beziehung zu ihren Freundinnen umgeht. Eine Liebesgeschichte sucht man vergeblich, aber das habe ich eher positiv empfunden. Der Fokus liegt auf der Heldin, ihrem Leben und ihrer Veränderung, die ich nebenbei bemerkt ausgesprochen gelungen finde.
Zum Schluss noch ein Wort zum empfohlenen Alter. Der Verlag gibt eine Altersempfehlung von 14-16 Jahren an. Hier würde ich mich an der Obergrenze orientieren, denn bei den Ereignissen im Verlauf der Geschichte, würde ich das Buch ungern einem 14-jährigen in die Hand drücken.
Fazit:
"Nacht - Das Land der verlorenen Seelen" ist ein rundum gelungener Roman mit einer erfrischenden Tiefe und Intensität. Ein kleiner Wermutstropfen ist das offene Ende. Dennoch hat mir das Lesen einen riesen Spaß bereitet, sodass ich mich schon jetzt auf Teil 2, "Schatten", freue, der voraussichtlich im Mai 2012 erscheint.