Inhalt: Ein Buch über die Liebe zwischen einer finnischen Hebamme und einem deutschen SS-Offizier in den Kriegswirren Ende 1944 / Anfang 1945 in Lappland.
Die Autorin: Katja Kettu, Jahrgang 1978, arbeitete nach dem Studium an der Kunstakademie in Turku als Animateurin beim Film und produzierte Musikvideos. 2005 trat sie mit ihrem Debütroman "Surujenkerääjä" erstmalig als Romanautorin an die Öffentlichkeit und wurde für diese Arbeit im Heimatland mehrfach mit Preisen geehrt. In ihrem dritten Roman "Käitilö" (Wildauge, 2011) setzt sie sie sich nicht nur mit einem unaufgearbeiteten Kapitel der finnischen Geschichte sondern auch mit ihrer eigenen Abstammung auseinander. Der Roman wurde zunächst ein nationaler Erfolg. Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2014, in der Finnland als "Ehrengast"-Land fungierte, erreichte er auch in Deutschland große Beachtung.
Die Übersetzerin: Angela Plöger, Jahrgang 1942, anerkannte und ausgezeichete Übersetzerin aus dem Finnischen, Ungarischen und Russischen.
Meine Meinung: Es fällt schwer, das Leseerlebnis "Wildauge" in adäquate Worte zu fassen. Die Vergangenheitsbewältigung Kettus findet in der drastischsten Form statt, die man sich vorstellen kann. Schonungslos führt die Autorin dem Leser die Abgründigkeit der menschlichen Seele vor Augen die sich besonders in Extremsituationen offenbart, wie sie in den letzten Monaten des zweiten Weltkrieges millionenfach durchlebt wurden. Wie dicht können eigentlich Menschlichkeit und Grausamkeit beieinander liegen? Wie schmal ist der Grat zwischen Solidarität mit Gepeinigten und dem Egoismus des eigenen Wohlergehens, der Sicherung der eigenen Existenz? Wie weit kann eine Liebe gehen, zu welchem Wahnsinn ist der Mensch fähig, wenn er sich ihr bedingsungslos ausliefert? Kettu schont weder das Wesen Mensch als solches noch ihr eigenes Volk. Sie sucht nicht nach einer Entschuldigung für die Kollaboration der Finnen mit den Nazis, für die wechselnden Loyalitäten und Bündnisse, die ihr Land einging, um seine stolze Eigenständigkeit zu bewahren und auf der Bühne der Weltpolitik nicht zerrieben zu werden. Kettu konfrontiert uns in so verstörender Art und Weise mit ihren Figuren und deren Handlungsweisen, dass einem häufig der Atem stockt. Die Identifiktation damit fällt schwer, ist nahezu unmöglich und doch muss man davon ausgehen, dass alles plausibel ist, denn die geschilderten Ereignisse basieren auf historisch belegbaren Wahrheiten.
Die Sprache des Romans ist äußerst bild- und wortgewaltig. Sie strotzt einerseits nur so vor Obszönitäten und Vulgarismen, offenbart andererseits aber auch eine feinfühlige fast lyrische Komponente. In diesem Zusammenhang ist besonders auch die Übersetzungsarbeit hervorzuheben. Im Nachwort beschreibt Angela Plöger, vor welchem Herausforderungen diese Arbeit stand. Nicht nur Redewendugnen und Wörter des Finnischen sondern auch die grammatikalischen Feinheiten mussten in ein deutschsprachiges Äquivalent gegossen werden, in eine Sprache die unterschiedlicher kaum sein könnte. Die Übersetzerin ist dem Anspruch, die Intonation des Originals möglichst authentisch einzufangen, mit langjähriger Erfahrung, reichaltigem Wissen, großem Fleiß und enormen sprachlichem Können angegangen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass der deutsche Text in diesem Bemühen ein wenig über das Ziel hinaus schießt. Aber das nur in ganz wenigen Momenten und dann auch nicht so, dass es das Leseerlebnis stört.
Neben einem intensiven Leseerlebnis ist die Lektüre auch eine Geschichtsstunde. Zahlreiche Anmerkungen klären den unkudigen Leser über örtliche und geschichtliche Zusammenhänge auf. Diese Fußnoten hätten für meinen Geschmack aber deutlich reduziert werden können. Manche Erklärungen wiederholen sich, andere sind komplett überflüssig, da sie aus dem Text verständlich sind, wieder andere für das Verständnis unerheblich. Hier wäre weniger meines Erachtens mehr gewesen.
Im Gesamtfazit ist "Wildauge" eines der intensivsten Bücher, die ich jemals gelesen habe, eine Lektüre die lange nachhallen wird. Aus diesem Grunde ganz klar volle 10 Punkte.