Beiträge von finsbury

    E 2 ... in dem jemand sich betrinkt / betrunken ist


    erledigte ich mit Serena Vitale: Der Eispalast


    ASIN/ISBN: 3827003881


    In dieser Sammlung historischer Miniaturen einer italienischen Slavistik-Professorin geht es sehr unterhaltsam und dennoch historisch genau und mit vielen (Primär)quellenangaben um das zaristische Russland und seine Adeligen: Ihre Hybris, ihre ungeheure Verschwendung- und Ruhmsucht sowie ihren menschenverachtenden Umgang mit den Leibeigenen wird in intensiven Szenen, die eben direkt aus Zeitzeugenberichten entnommen wurden, beleuchtet. Sehr lesenswert, vor allem für Leute, die sich für Russland, seine Geschichte und Literatur interessieren.

    Jakob stiehlt Zeitungsfetzen, um sein Lügengebilde aufrecht zu erhalten. Stattdessen stellt er fest, dass die geklaute Zeitung vollkommen unbrauchbar ist, weil die Nazis selbst nur Lügen veröffentlichen und die Nachrichten keinerlei Wert besitzen Das fand ich sehr eindrücklich. Die übrige Bevölkerung wird mit den Lügen, die durch die Propaganda-Medien verbreutet werden, ebenso hingehalten, es wird ebenfalls Hoffnung verbreitet, der gleiche Mechanismus, der auch im Ghetto einsetzt.


    Interessant finde ich den Vorwurf, den sich der Erzähler macht, dass es im Ghetto keinen Widerstand gegeben hat. Beim Lesen ist die Angst vor der Entdeckung und vor dem willkürlichen Tod ständig greifbar, der Erzähler macht sich Vorwürfe, sich nicht gewehrt zu haben. Diese Spannung ist so plastisch beschrieben, das ist echt großartig gelungen.

    Sehr schöne Beobachtungen! Kann ich vollauf bestätigen.

    Und ich schließe mich mit dem ersten Band der Reihe an:
    Arnaldur Indridason: Nordermoor

    ASIN/ISBN: 3404148576


    Hat bei mir jetzt 21 Jahre gesubbt, und dank unseres Wettbewerbs hier habe ich endlich diesen interessanten Krimi gelesen. Wird wohl nicht der letzte mit Kommissar Erlendur gewesen sein.

    ASIN/ISBN: 3518372742


    Jurek Beckers Roman „Jakob, der Lügner“ erschien 1969:

    Der Roman schildert die Wochen in einem fiktiven polnischen Ghetto, bevor die dortige Restbevölkerung abschließend in die Vernichtungslager transportiert wird. Die Handlung kann zeitlich mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Polen Ende 1943/44 verbunden werden.


    Jakob Heym, ein Ghettobewohner und ehemaliger Imbissbetreiber, wird eine halbe Stunde vor der Ausgangssperre von einem deutschen Grenzposten aufgegriffen und in das Stadtrevier geschickt. Ghettobewohner, die dorthin verbracht oder geschickt werden, kommen in der Regel nicht mehr zurück. Jakob jedoch hat Glück und wird wieder zurückgeschickt, weil es erst halb acht war, als er aufgegriffen wurde. Im Revier erfährt er, dass die Rote Armee bereits auf eine Stadt vorrückt, die nur noch 450 Kilometer vom Ghetto entfernt ist. Als er versucht, diese hoffnungsvolle Nachricht an einen Arbeitskollegen weiterzugeben, glaubt ihm dieser nicht, weil er sich nicht vorstellen kann, dass man ungeschoren aus dem Revier entkommt. Also ersinnt Jakob die Lüge, er habe die Information aus einem versteckten Radio erfahren und löst damit Hoffnung bei den Ghettobewohnern aus. Um diese Hoffnung aufrechtzuerhalten, dichtet Jakob weitere Meldungen vom Vorrücken der Russen hinzu und senkt dadurch die Selbstmordrate im Ghetto, in dem das Leben von Hunger, Verzweiflung und der Willkür der deutschen Aufseher geprägt ist, erheblich. Außerdem erfahren wir Leser von dem alltäglichen Leben im Ghetto, der Zwangsarbeit, um Essen zu erhalten, den unterschiedlichen Charakteren, die hier zwangsweise zusammenkommen, weil sie Juden sind oder jüdische Vorfahren haben, aber sonst überhaupt keine Gemeinsamkeiten haben, wir erfahren von Mut und bewunderswerter Haltung, von junger und von selbstloser Liebe, aber auch von Verzweiflung und Aufgabe.


    Trotz des düsteren Themas gelingt Becker ein kunstvoller und zugleich unterhaltsamer Roman, in dem sogar manchmal Humor aufblitzt. Der Erzähler ist einer oder sogar der einzige Überlebende aus dem Ghetto, der 1967, als Sechsundvierzigjähriger, aus der Erinnerung und durch Recherchen gestützt, die Geschichte von Jakob Heym und seinen wohltätigen Lügen erzählt. Dabei erinnert er uns immer wieder daran, dass Literatur aus Erfahrung und Fantasie gemacht ist: Erlebtes wird durch Vermutetes angereichert, es wird ein „So-könnte-es-gewesen-sein“ aufgebaut. Folgerichtig werden uns auch zwei Enden angeboten, ein Versöhnliches, das Jakobs Lügen Wahrheit werden lässt und die meisten verbliebenen Ghettobewohner erlöst, dem aber Jakob, vermutlich als Ausgleich, geopfert wird – und das aus Erzählersicht wirkliche, die Deportation in die Vernichtungslager.


    Becker wuchs selbst, wenn auch in jüngeren Jahren, im Ghetto von Lodz auf, was man sehr gut an der Authentizität des Geschehens und der Glaubwürdigkeit der Charaktere erkennt, ohne dass man davon ausgehen sollte, dass hier wirkliche Menschen gespiegelt werden. Es wird deutlich, dass es überall solche und solche gibt, dass auch eine Notlage nicht dazu führt, dass alle Menschen gut werden und sich solidarisch verhalten, dass sie aber dennoch zusammenrücken und gemeinsame Gefühle entfalten.


    Mir fällt es immer schwer, Bücher zu lesen, die diese Zeit und die große Schuld, die aus diesem Land entsprungen ist, thematisieren, aber genau deshalb sind solche Bücher auch so wichtig, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Wenn sie dann auch noch so gut geschrieben und zutiefst menschlich sind, kann ich nur hoffen, dass „Jakob, der Lügner“ auch in Zukunft noch ganz viele Leser findet.

    Ich kann es nur gut finden, wenn alle, die Wurzeln in diesem Land haben, auch wenn wir selber nichts damit zu tun haben, uns dennoch tief beschämt fühlen, weil dieser größte aller Völkermorde von diesem Land hier ausging. Und ich finde auch, dass wir deshalb eine besondere Verantwortung dafür tragen, dass das niemals in Vergessenheit gerät und auch wir selbst uns immer wieder damit auseinandersetzen müssen, auch wenn es schmerzt. Und deshalb ist es ganz besonders gut, dass wir hier miteinander diesen Roman gelesen haben.

    Ich würde mich durchaus freuen, wenn wir nach einem gewissen Zeitraum, wieder mal etwas aus diesem Themenkreis läsen, zum Beispiel "Bronsteins Kinder" vom gleichen Autor, in dem das Thema aus der Perspektive der Auseinandersetzung zwischen Nachgeborenen, Opfern und Tätern behandelt wird.