Beiträge von finsbury

    MIr hat - bei allem Schmerz, den es transportiert - das Ende oder die Enden gut gefallen. Das vom Erzähler ausgedachte Ende ist irgendwo folgerichtig, denn es ist rund: Jakob bekommt jetzt den Schuss, dem er am Anfang entgangen ist und profitiert als einziger nicht von der Befreiung, die er selber herbeigeredet hat. Das ist gerade in seiner sinnlosen Grausamkeit dennoch erzähltechnisch sehr stimmig. Fast ist man danach froh, dass das scheinbar echte Ende uns Jakob noch bis zum Ende erleben lässt.

    Und ja, die Baummetapher macht das Buch rund, und meiner zwischenzeitlichen Ansicht nach ist sie auch eine Metapher für die durch Jakob vermittelte Hoffnung. Man kann sich an die Hoffnung, die er verkörperte, anlehnen und in ihr Schutz suchen, sie treibt immer neu aus. Und nicht umsonst überlebt der Erzähler, dem die Bäume so wichtig sind, als einziger.

    Auch ich bin froh, dass wir dieses schwierige, aber immer wieder zu vergegenwärtigende Thema in diesem großartigen Roman gemeinsam gelesen und besprochen haben. Vielen Dank dafür!

    Jurek Beckers "Jakob, der Lügner", das einige von uns gerade hier in einer Leserunde lesen, qualifiziert sich für B1, ein Buch, das schon einmal verfilmt wurde. Dieser Roman wurde sogar zweimal verfilmt, einmal in der DDR und einmal in Hollywood.

    Nein, es gibt bei allen Leserunden einen Link zum Rezensionsthread. Entweder verlinke ich auf einen bereits bestehenden Thread, oder ich schreibe, "der Link wird nach der ersten Rezension nachgetragen". Es gibt immer Eulen, die mir den Link zum Rezensionsthread melden, falls ich nicht von alleine drauf stoße und es direkt erledige. :wave

    Genau das ist meine Frage: Wie gehe ich denn damit um? Ich soll also, wenn ich meine Rezi als erster poste, einen neuen Thread hier in der Leserunde anlegen oder im Forum ? Und wenn im letzteren, unter welchem Bereich? Entschuldigt mich bitte, wenn ich mich zu dumm anstelle.
    Ich nehme an, unser Roman hier läuft dann unter Belletristik, oder ?

    Zur Sache mit dem Schal:

    Ich habe eigentlich gleich angenommen, dass die Schwester schon annimmt, dass das mit der Behandlung des SS-Ortsschefs sehr wahrscheinlich schief geht oder vielleicht auch nicht stattfindet und dass der Schal - ähnlich wie Clare es sieht, ein Zeichen der Fürsorge ist, vielleicht auch ganz konkret eine Möglichkeit, sich bei der Deportation wenigstens zu wärmen.
    Dass sie durch den Schal die Pillen in die Tasche transportiert, scheint mir unglaubwürdig, dann hätte sie ja, während Preuß und sein Kollege da waren, das Ganze vorbereiten müssen und die Tabletten in dem Schal verstecken müssen. Schal und Arztkoffer waren aber im Schrank in dem Raum, in dem auch die ganze Zeit die beiden Schergen gesessen haben, also konnte Elisa nichts daran manipulieren.

    Und wieder so eine Nebenbei-Stelle, die ich in Bezug auf die Gräuel am schauerlichsten finde:

    "Der mit Fejngold zusammen beim Aufräumungskommando arbeitet, die Straßen von Unrat und Verhungerten säubert ..." (S. 175).


    Im Übrigen bin ich gespannt, ob wir noch irgendwann erfahren, was mit Feijngold geschehen ist. Aber auch dieses Nicht-Wissen ist ja typisch für die Situation, in der sich die Ghetto- Insassen befanden.

    Dass Kirschbaum so unmittelbar den Tod wählt, hat mich zunächst erstaunt, obwohl in der Abschiedsszene mit seiner Schwester darauf hingewiesen wird. Aber da dachte ich noch an Deportation nach missglückter ärztlicher Behandlung. Aber sicherlich kann man nach den alltäglichen Grausamkeiten im Ghetto davon ausgehen, dass Kirschbaum sofort getötet worden wäre, und er konnte sich ausrechnen, dass nicht mehr viel Hoffnung für den SS-Offizier bestanden hatte, nachdem sein Hausarzt ratlos und schon soviel Zeit vergangen war. Vielleicht wollte er aber auch nicht den Feind behandeln, was bei einem selbstbewussten Mann wie ihm ja auch passen würde. Seine Schwester hat auf mich auch einen großen Eindruck gemacht, ihre unerschütterliche Haltung, die sie gegenüber den Schergen, aber auch beim Abschied von ihrem Bruder bewiesen hat.

    Ich habe auch ein Buch zu vermelden. Aus meinem Krimiregal sprang mich das folgende Buch an:


    ASIN/ISBN: 3404172205

    Und ichs spiele mit dem Gedanken, den ersten Roman "Nordermoor" von Indridason zu lesen. Aber ich habe auch ein tolles Buch für das V, und ob ich beide schaffe neben meinen anderen Januarvorhaben, weiß ich nicht so recht.

    Zu Jakob gegenüber Lina:

    Ich finde es schwierig, wenn wir mit unseren Moralvorstellungen einer relativ sicheren, wohhabenden und freien Welt über die Verhaltensweisen der Ghettoinsassen so urteilen, als lebten sie in unserer Welt. Das entwicklungspsychologische Wissen war damals sicherlich noch nicht so hoch, und es ist auch die Frage, ob Lina nicht genauso gut die Vorstellung von Normalität braucht, um sich in ihrer besonderen Lage wohlzufühlen. Wenn sie wüsste, welche Gefahr sie jeden Tag läuft, ihren Ziehvater zu verlieren, weil er versehentlich oder aus verzweifelten Gründen sich selbst gefährdet, würde sie das vielleicht erst recht in Verzweiflung versetzen. Dass sie ganz gut mit "Lügen" umgehen kann und auch nicht das Urvertrauen verliert, erkennt man ja an der Szene, in der Kowalski scheinbar in ihrer Anwesenheit Jakob als Radiobesitzer entlarvt.

    Im Zusammenhang mit dieser Szene: Ist es nicht einfach ein toller erzählerischer Einfall, wie Lina die Petroleumlampe mit dem Radio verwechselt, weil diese der einzige Gegenstand in Jakobs armseligem Besitz ist, den Lina nicht direkt identifizieren kann?

    Im vorherigen Thread hatte ich erwähnt, dass ich eine Stelle in diesem Abschnitt hier besonders beispielhaft finde für diese scheinbar leichte Art, wie Becker Schreckliches schildert. Es tut mir leid, Gummibärchen , wenn du dich dadurch schon gespoilert gefühlt hast. ich wollte deinen Beitrag zitieren und habe das deshalb dort getan, aber nicht vermutet, dass das schon deine Lesefreude hemmt.

    Diese Stelle, die ich meine, ist jedenfalls die Ermordung der jüdischen Elektriker, die zunächst doppelte Rationen erhalten sollten und dann, nachdem sie in fünf Tagen nichts gefunden hatten, einfach mal so öffentlich erschossen wurden. Das hat mich noch stärker berührt als Herschels Tod, weil gerade dieses Nebenbei und die folgende Schilderung der anrückenden deutschen siegesfrohen Elektriker, die nur deshalb in kurzer Zeit den Schaden finden konnten, weil ihre jüdischen Kollegen vorher schon viele andere Schadensstellen ausgeschlossen hatten, so besonders menschenverachtend wirkt.


    Was mir von der literarischen Mode her auffällt, ist, dass Becker immer wieder mit dem Thema Wahrheit und Nachdichtung spielt: Der Erzähler weist ja häufiger darauf hin, dass er Leerstellen, über die er keine Zeugeninformationen hat, selber mit dem füllt, was ihm wahrscheinlich erscheint. Das kann man in vielen Romanen und Erzählungen der Fünfziger- bis Achtzigerjahre beobachten: bei Böll, Grass und auch vielen DDR- Schriftstellern dieser Zeit.

    Ich finde übrigens auch, dass der leichte, "fröhlichere" Ton irgendwie noch mehr das eigentliche Schrecken hervorhebt, wenn es auch nicht so genau beschrieben wird. Aber allein die Tatsache, Bäume zu verbieten, lässt mich sprachlos zurück.

    Da kann ich dir nur zustimmen. Im zweiten Abschnitt gibt es eine solche Szene, die ganz nebenbei und leicht erzählt wird, wobei mir gerade deshalb wirklich Schauer über den Rücken gelaufen sind. Dazu morgen mehr in dem entsprechenden Thread.

    Dann fang ich mal an: Ich konnte heute morgen bis S. 48 lesen: Noch ist Urlaub!


    Der Roman beginnt mit einer Schlüsselmetapher, dem Baum. Dieser Baum führt uns gleich die Unmenschlichkeit der Lebenssituation im Ghetto vor Augen, denn da sind Pflanzen und erst recht Bäume verboten. Mit den Bäumen verbindet der Erzähler auch persönliche Erinnerungen an wichtige Begebenheiten, inwiefern die für die Handlung eine Rolle spielen, wie die Erschießung seiner Frau, wird sich später zeigen.

    Der auktoriale Ich-Erzähler, hat - wie sich später herausstellt - zeitgleich mit Jakob im Ghetto gelebt und einiges mitbekommen, berichtet anderes aus Erzählungen anderer und einiges auch nach eigenen Vermutungen.

    Jakobs Einführung in den Roman gestaltet sich sehr spannend: Weil er sich die Füße nach der Arbeit vertreten will, ist er vor der Sperrstunde um acht noch unterwegs und wird durch einen Suchlichtstrahll erfasst. Was ihm dann im Revier passiert, ist nicht nur spannend, sondern zeigt auch wieder die Unmenschlichkeit des Ghettos und der dortigen Regeln: Uhren sind verboten, man darf aber nicht nach der Sperrstunde gesehen werden: Man muss den richtigen, nicht auswiesenen Raum finden, darf aber keinen stören. Schon den richtigen Tonfall gegenüber dem deutschen Verwaltungs- und Aufsichtspersonal zu finden, gleicht einem Vabanque-Spiel.

    Aber nicht nur mit den Deutschen ist schwierig umzugehen, die menschenverachtenden Bedingungen machen auch die Ghettoisierten misstrauisch und egoistisch: Auf dem Verladebahnhof, wo Jakob arbeitet, arbeiten die Starken mit den Starken zusammen, um sich in der Hungersituation nicht unnötig anstrengen zu müssen und Jakobs Gesprächspartner, dem er die positive Nachricht von der Roten Armee anvertrauen will, kann ihm nicht glauben, dass er eine Vorladung ins Revier überlebt hat bzw. wieder freigekommen ist, sodass Jakob die Notlüge mit dem Radio erfinden muss.

    Über den Ich- Erzähler erfahren wir auf S. 25, dass er in der Erzählzeit (1967) 46 Jahre alt ist und als Jahrgang 1921 in der erzählten Zeit ungefähr 23 gewesen sein musste, wenn man unterstellt, dass sich die Handlung nach Stalingrad und zur Zeit des Vorrückens der Roten Armee abspielt.


    Ich habe bisher noch nichts von Becker gelesen, aber noch "Bronsteins Kinder" auf Halde.

    Die Schreibweise gefällt mir gut, und man merkt, wie ich gerade auf Wikipedia nachgelesen habe, dass der Roman aus einem Drehbuch entsprungen ist, das von den DDR-Behörden zur Verfilmung abgelehnt wurde.
    Allein diese Eingangsszene für Jakobs Auftritt mit dem Suchscheinwerfer, die langen Flure im Revier zeigen, was für ein gutes szenisches Auge Becker hat.
    Aus dem WIki-Artikel habe ich auch erst jetzt erfahren, das Becker selber als Kind und Jugendlicher im Ghetto von Lodz aufgewachsen ist und daher mit einem hohen Grad von Authentizität schreiben kann. Gleichzeitig wird aber durch den Abgleich der Daten deutlich, dass der Ich-Erzähler kein biografisches Alter Ego Beckers ist, da er viel älter ist als der Autor.