Zitat
Original von Lesebiene
Ich bin nicht in der Leserunde - kann heute aber trotzdem die Klappe nicht halten.
Darf ich mich mal reinschleichen und etwas vor mich hinquasseln?
Ich habe das Buch mit 14 oder 15 Jahren gelesen und fand es nicht schlecht. Mich hat vor allem die Philosophiegeschichte daran interessiert. Die Rahmenhandlung fand ich eher verwirrend bis störend. Da ist das Kartengeheimnis, obwohl ähnlich gestrickt, viel, viel besser gemacht.
Aber nun zu Sophies Welt: Ich habe heute mittag in den Thread geguckt und habe mich angeregt gefühlt, mal wieder in das Buch hinein zu gucken und habe die ersten Kapitel gelesen (bis S. 53).
Mein Eindruck von damals bestätigt sich: Die Rahmenhandlung finde ich nicht so gelungen. Sophie wirkt auf mich fade - Jostein Gaarder neigt hier zum Schwarz-Weiß-Malen und zu sehr "pubertärem" Gehabe. Ich fand zum Beispiel den Abschnitt über "Wer bin ich" wenig anregend. Glaubt ein Teenager wirklich noch (oder denkt nur darüber nach), ob seine Identität mit einem anderen Namen eine andere wäre? Auch der Absatz über den Tod als untrennbaren Bestandteil des Lebens fand ich nicht so berauschend - mag sein, dass das einen Jugendlichen beeindruckt, der noch nie einen Verwandten oder Freund verloren hat. Aber ich habe diesen Absatz als sehr platt empfunden. Meine Gedanken nach dem Tod eines nahen Verwandten waren da schon vielschichtiger und auch verwirrender - obwohl ich ungefähr in Sophies Alter damals war.
Was mir auch negativ aufgefallen ist, ist der Abschnitt "Ein seltsames Wesen". Natürlich wundern sich Menschen über Alltäglichkeiten nicht mehr - das ist überlebensnotwendig. Wichtig ist, dass Menschen lernen, hin und wieder in sich zu gehen, Ruhe zu finden, und zu beobachten, ob sie Welt und die Menschen um sich herum sich verändert haben, warum sie so sind wie sie sind. Aber nur zu kritisieren, dass Erwachsene sich nicht über alles wundern und sich an die Welt "gewöhnt" haben, finde ich pubertär. Da fehlt der ausgleichende Part, der genau diese Gewöhnung als Notwendigkeit, im täglichen Leben zu bestehen, kennzeichnet.
So, und nach so viel Kritik nun der Grund, warum ich das Buch damals gern gelesen habe und auch heute noch toll finde: Jostein Gaarder kann auf verständliche und eindrückliche Weise erzählen, warum Menschen zu bestimmten Zeiten bestimmte Dinge geglaubt haben. Die Erklärung mythischer Weltbilder fand ich sehr gelungen, genauso wie die griechischen Naturphilosophen. Hier übrigens wird Gaarder viel differenzierter als in seiner Rahmenhandlung: er zeigt die Unterschiede zwischen Parmenides und Heraklit auf, ohne das Bedürfnis zu haben, zwischen richtig und falsch zu urteilen. Genau diese Gelassenheit, sich einfach verschiedene Weltbilder anzugucken und zu versuchen zu verstehen, warum sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelt haben, hat mich damals an dieses Buch gefesselt.
Geärgert habe ich mich dann wieder über den letzten Abschnitt des Kapitels, in dem Sophie über die Naturphilosophen reflektiert: Warum soll sie nicht das anwenden, was sie von anderen gelernt hat. Selbst denken heißt nicht, das Rad jedes mal neu zu erfinden. Im letzten Satz heißt es, man könne Philosophie nicht lernen, aber vielleicht könne man lernen, philosophisch zu denken. Hier verstehe ich Jostein Gaarder wieder nicht: Der Sinn seines ganzen Buches ist es, Menschen die Geschichte der Philosophie nahe zubringen. Und die kann man lernen. Als "Vorwort" vor dem Roman steht das Zitat von Goethe: "Wer nicht von dreitausend Jahren | Sich weiß Rechenschaft zu geben| Bleib im Dunkeln unerfahren | Mag von Tag zu Tage leben"
Das steht in für mich in diametralem Gegensatz zu dem, was er Sophie auf den letzten beiden Seiten dieses Abschnitts in den Mund legt: Man kann selbst denken, aber sollte man nicht trotzdem wissen, was alles schon vor einem gedacht wurde? Menschen waren vor 1000 und 3000 Jahren nicht dümmer, sie haben vielleicht in anderen Kategorien gedacht, so wie die Menschen in 500 Jahren in anderen Kategorien als wir heute denken werden. Und genau das ist doch das spannende: Warum Menschen zu bestimmten Zeiten etwas gedacht haben, welche Gedanken nach vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten wieder aktuell werden, und welche Gedanken sehr alt und immer noch aktuell und universal sind.
So, ich hoffe, Ihr nehmt mir das ausführliche Statement einer reingeschlichenen Eule nicht übel. Vielleicht sehr Ihr ja vieles nicht so kritisch und könnt mir etwas Wind aus den Segeln nehmen. 