Zitat
Original von xexos
Aber immer doch!
Ich erlaube mir mal, mich selbst zu kopieren, okay? Das habe ich in der ersten Leserunde zum Buch in einem anderen Forum zum Thema "Deutschland war vom plötzlichen Ansturm der Flüchtlinge überfordert" geschrieben.
(Wobei ich damit nicht im Nachhinein meckern und motzen will - das liegt mir gar nicht. Es macht für mich nur mit vielen kleinen Beispielen gemeinsam klar, worin das eigentliche Chaos begründet lag: Der innereuropäische Kern hat einfach geschlafen und sich auf ein Gesetz verlassen (Dublin-Verordnung), das aufgrund der schwierigen Situation der Grenzländer zum Scheitern verurteilt war. Das hätte man erkennen müssen - aber vermutlich (reine Unterstellung) hofft man in der Politik darauf, dass es nicht in der eigenen Legislaturperiode "knallt". 
Flüchtlige kommen seit langer Zeit nach Europa, nur wurden die Grenzländer Griechenland und Italien mit dem Problem sehr lange allein gelassen, bis sie kapitulieren mussten. Ungefähr zeitgleich passierten in den ersten Monaten im Jahre 2015 mehrere Dinge: Russland mischte sich ganz aktiv in den Syrienkrieg ein, was für die Menschen dort eine unglaubliche Katastrophe bedeutete, denn plötzlich kamen zu den Fassbomben der eher kleinen syrischen Armee noch Kampfjets, Raketen, Bomben aller Art und Giftgas.
Für die kämpfende Opposition (ich mag diesen Rebellen-Begriff ebenso wenig verwenden wie die Freie Syrische Armee, die da nur ein kleiner Part ist, zu großreden zu wollen), die bis dahin gute Chancen sah, wurde die Lage plötzlich fatal: Gegen Russland können die nicht gewinnen. Für die gesamte politische Opposition und sämtliche Aktivisten bedeutete das: Assad wird gewinnen - und sich ihnen früher oder später entledigen. Politische Gegner "verschwinden zu lassen" ist in der Familie al Assad seit Jahrzehnten üblich.
Zeitgleich erstarkte der IS (was übrigens auch bewusst durch die syrische Regierung unterstützt wurde, indem man massenhaft Gefangene freiließ) - und zwar nicht nur in Syrien sondern auch im Irak. Mit dem IS erstarkten auch die nah verwandten Taliban in Afghanistan. (Zu den Gründen gibt es wahnsinng spannende Spekulationen, die jetzt hier aber zu weit führen. Nur soviel: Zufall war das alles nicht!)
Das war aber noch nicht alles! Zeitgleich, zum denkbar schlechtesten Moment, kürzte die UN die Hilfmittel für die Flüchtlingscamps in den Nachbarländern Syriens drastisch. Dort konnten keine weiteren Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen werden und denen, die dort waren, wurde gesagt, dass man sie über den Winter womöglich nicht mehr würde versorgen kommen. Arbeit zu finden war den Syrern kaum möglich: In Jordanien und Libanon (beides sehr arme, gebeutelte Länder) kam zu der Zeit ein syrischer Flüchtling auf 4 Einwohner - dass das ohne Hilfsgelder nicht zu schaffen war, liegt auf der Hand.
Es passierte aber noch etwas: Assad flirtete mit der libanesischen Regierung. Im Raum stand plötzlich die große Bedrohung, dass eine Million Syrer - politisch verfolgte Syrer - ausgeliefert werden könnten. Man muss dazu wissen, dass der Libanon seit den Kriegen dort in den 80ern jahrelang von der Assad-Regierung geschröpft und ausgenommen wurde, man hasst und fürchtet den syrischen Präsidenten dort.
Das alles geschah im Frühjahr 2015. Trotzdem reagierte Europa nicht. Bzw. erst im Sommer, als die Menschen dann kamen und sich herausstellte: Die werden überraschenderweise nicht alle in Griechenland - selbst ja vollkommen am Ende - bleiben.
Die Versäumnisse muss die Politik sich einfach ankreiden lassen. Man hätte sich vorbereiten können und müssen!
Nun kommt ein weiterer Punkt zum Tragen: Die Syrer hatten nach vier Jahren Krieg und nun nebe Iran auch noch Russland an der Front wenig Hoffnung, das Assad noch gestürzt werden könnte oder abtreten würde. Die Familie regiert nun seit einem halben Jahrhundert - und wenn sie den Krieg gewinnen, dann vermutlich auch noch mal so lange. Für einen Flüchtling bedeutet das: Er wird nie wieder zurückgehen können - für Assad sind das alles Verbrecher.
(Ich habe die Tage erst wieder über eine Kollegin von einem gehört - der ging aus GB zurück nach Syrien und kam ohne Zehen wieder ...)
Die Leute waren also nicht auf der Suche nach einem sicheren Dach überm Kopf, um die nächsten 1-2 Jahre durchzustehen - die brauchten eine Perspektive für die Zukunft. Natürlich überlegt man sich da: Wo hat meine Familie die besten Chancen. Das würden wir auch tun - ich würde, wenn ich alles hinter mir lasse, nicht in ein Land gehen, in dem ich am Ende obdachlos auf der Straße lande oder über Jahre kein Recht zu arbeiten habe oder wo meine Kinder nicht in die Schule gehen dürfen. Und wer würde in ein Land gehen, in dem es kein Recht auf Familienzusammenführung gibt, wenn er Familie zurücklassen muss?
Daher kristallisierten sich natürlich ein paar Länder heraus, in die die Menschen wollten. Das war ja längst nicht nur Deutschland, aber als reiches Land, das jeder kennt, gehörte es natürlich dazu.
Übrigens hat Syrien enge Verbinungen zu Deutschland: Während der DDR-Zeiten gab es kaum einen syrischen Studenten, der nicht ein oder zwei Semester in Ostberlin studiert hat. Es lebten vor dem Krieg auch viele Deutsche in Syrien. Während der Nazi-Herrschaft sind viele Europäer vor den Nazis nach Syrien geflüchtet - auch Deutsche, die sich dort niedergelassen haben. Und auch viele DDR-Bürger sind nach Studienaustauschen dort geblieben, es gab vor dem Krieg eine sehr große deutsche Community in Syrien. Viele Flüchtlingshelfer schauen immer ganz irritiert, weil eine Menge junger Menschen aus Syrien klassische deutsche Namen tragen - Linda, Simon, Andreas, Lina und Katrin sind sehr beliebt.
Syrien fühlte sich verbunden mit Deutschland. Nur hatte Deutschland das kleine Land offenbar längst vergessen.