Ian McEwan: Maschinen wie ich

  • Intelligenter Roman über die Intelligenz. Und die Menschen. Und intelligente Menschen.


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    Intelligenz ist sicherlich kein konkreter Prozess, kein isolierter Vorgang, sondern eher als Oberbegriff für ein komplexes Zusammenspiel aus vielen Komponenten zu verstehen, denen aber - beim Menschen - eines gemein ist: Sie basieren auf biochemischen Strukturen. Also müsste es möglich sein, das nachzubilden. Bis uns das gelingt, simulieren wir, was wir "intelligent" nennen, also die Fähigkeit, in bislang unbekannten Situationen vernünftige, möglichst sogar optimale Entscheidungen zu treffen. Wir bauen Kameras an Mechanismen, werten die Bilder punktweise aus, legen Mustererkennungen darüber, und wir tun so, als würde das den Sehsinn nachbilden, obwohl innerhalb dieser Struktur rein gar nichts auch nur den Hauch einer Ahnung davon hat, dass soeben ein Bild "angeschaut" wird. Wir bauen Blackboxes, die wir neuronale Netze nennen, und geben uns damit zufrieden, dass sie sich halbwegs vernünftiges Handeln antrainieren lassen, wenn man nur geduldig genug ist. Aber wie ihnen das gelingt, eine Situation zu beherrschen, zu der es kein systematisches Regelwissen gibt, wissen auch die KI-Forscher nicht ganz genau. Immerhin, nicht selten überraschen uns diese Blackboxes mit ihren Fähigkeiten. Sie zeigen uns, dass unsere Art von Intelligenz möglicherweise nicht die einzige ist, die es gibt.


    Ian McEwan hat für seinen neuen Roman ein paar Stellschrauben der Historie verändert. In einem Nebensatz erwähnt er, dass das Kennedy-Attentat in Dallas gescheitert ist, aber viel relevanter für seine Geschichte ist, dass Alan Turing, der britische Kryptoanalytiker und Informatiker, dem es gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gelang, den Code der deutschen "Enigma"-Verschlüsselungsmaschinen zu knacken, was vermutlich kriegsentscheidende Wirkung hatte, das Jahr 1954 überlebt hat. Der reale Alan Turing, der im Jahr 1952 wegen seiner Homosexualität angeklagt und zur chemischen Kastration verurteilt wurde, beging 1954 Selbstmord.

    In McEwans Roman, der in den Jahren ab 1982 spielt, hat sich Turing der Kastration verweigert (sie aber aus intellektuellem Interesse in Erwägung gezogen), die Gefängnisstrafe abgesessen und hinter Gittern bahnbrechende Entwicklungen vorangetrieben. Er hat das P-NP-Problem der Informatik gelöst, er hat die künstliche Intelligenz enorm befruchtet, und ihm ist es in der Hauptsache zu verdanken, dass es in McEwans Achtzigern schon Handys, das Internet und selbstfahrende Autos gibt.


    Und lebensechte Maschinen, also Androiden. Fünfundzwanzig davon sind soeben erstmals hergestellt und an wohlhabende Käufer ausgeliefert worden, achtzehn Adams und sieben Eves, die natürlich besonders schnell vergriffen waren. Perfekte Nachbildungen der Menschen, in mechanischer wie auch haptischer Hinsicht - zu allem fähig, zu dem wir fähig sind, nur viermal so stark und möglicherweise (das Handbuch schweigt hierzu) deutlich cleverer. Einen Adam hat der zweiunddreißig Jahre alte Brite Charlie Friend erstanden, der ein gescheiterter Jurist und Anthropologe ist, und ein großer Turing-Bewunderer. Charlie spekuliert in seiner winzigen Londoner Wohnung am Computer online und erwirtschaftet damit weit weniger als ein Durchschnittseinkommen. Er ist in die etwas mysteriöse Miranda verliebt, die über ihm wohnt, und Charlie hat geerbt. Statt das Geld aus dem Erbe aber in die eigene Zukunft zu investieren, hat er sich einen Adam gekauft. Er fand die Idee einfach unwiderstehlich, denn irgendwie ist er ein Nerd. Ein, und das ist an diesem Roman zu kritisieren, nicht ganz glaubwürdiger. In ihren klugen Gedanken und inneren Monologen ist diese Hauptfigur nicht immer mit ihrem Handeln synchron. Aber es macht großen Spaß, sie beim Nachdenken zu belauschen.


    Zu dieser Zeit besetzt Argentinien die Falklandinseln, Großbritannien - unter Thatchers Führung - entsendet eine Kriegsflotte, aber die Argentinier haben auf dem internationalen Schwarzmarkt intelligente Exocet-Raketen gekauft, die die halbe Armada versenken, bevor sie auch nur in der Nähe der Inselgruppe angekommen ist. In England ist die Arbeitslosigkeit hoch, und viele der Konflikte, die wir jetzt, in den Zehnerjahren des neuen Jahrtausends, erleben, hat McEwan in die Thatcher-Ära vorgezogen, weil sie seiner Annahme nach (der man zustimmen könnte) mit der technischen Entwicklung einhergehen. Das Sterben des Journalismus, die Allmacht der sozialen Netzwerke, der Ruf nach Grundeinkommen, die Verrohung des kommunikativen Miteinanders, der Hang zum Populismus, der omnipräsente Egoismus, auch in seiner kollektivierten Form, dem Nationalismus. Nach einer kurzen hochpatriotischen Phase, die dem Untergang im Falklandkrieg folgt, kippt die Stimmung im Königreich um. Labour macht sich die Strukturen am besten zunutze, besetzt populistische Themen, fordert den Ausstieg aus der EU. Thatchers Ende steht bevor.


    Aber das ist nur die Kulisse. Charlie Friend hat nun einen Adam zu Hause, einen gutgebauten, lebensechten Roboter, den er, wie Charlie glaubt, ein wenig nach seinen Vorstellungen formen kann, bevor das Gerät in Betrieb geht. Charlie hält es für einen schlauen Winkelzug, die begehrte Nachbarin Miranda in diesen Formungsprozess einzubeziehen, um die Freundschaft zwischen den beiden mit etwas mehr Gemeinsamkeit und Intimität auszustatten - ein Plan, der verblüffend schnell aufgeht. Aber Miranda hat ein dunkles Geheimnis. Und Adam entpuppt sich, einmal aktiviert, als doch etwas mehr als nur ein sprachgesteuerter Assistent im Haus, der eine permanente Internetverbindung hat. Die eigenwillige, kluge und verblüffende Maschine verfügt nicht nur über Zugang zu sehr vielen Informationen, sondern auch über Fantasie und über Gefühle, vor allem aber über ein moralisches Bewusstsein, das die anderen überfordert. Und mit der Tatsache konfrontiert, wie selbstgerecht das oft ist, was wir für Gerechtigkeit halten.


    "Maschinen wie ich" ist - natürlich - ein kluger, spannender und unterhaltsamer Roman mit einer wichtigen Thematik, denn wir stehen an dieser Schwelle. Wir sind bereits jetzt mit Systemen konfrontiert, deren Entscheidungen nicht mehr nachvollziehbar sind, und es ist wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis wir etwas konstruieren, das uns nicht nur physisch, sondern auch psychisch überlegen ist - oder uns wenigstens überlegen zu sein scheint. McEwans neues Buch stellt nicht nur die Frage "Und was dann?", sondern fasst auch in genialer Weise zusammen, welchen Irrweg dieser unkritische Umgang darstellt, den wir uns in unserer Hilflosigkeit angeeignet haben, und zwar nicht nur in Bezug auf KI-Systeme, sondern in Bezug auf die gesamte technische Durchdringung unserer Leben, die in diese Technik wie in ein Exoskelett eingeklemmt sind. Wenn Adam untätig am Küchentisch der kleinen Wohnung sitzt und sich, wie Charlie das nennt, seine Gedanken macht, dann kommt man nicht umhin, an Alexa, Cortana, Siri und Co. zu denken, die in unseren Wohnungen - euphemistisch gesagt - genau dasselbe tun. Sie sammeln Informationen und ziehen ihre Schlüsse daraus, zwar nicht autonom, aber was in dieser riesigen Wolke geschieht, die all diese Systeme verbindet, entzieht sich fast jeder Kenntnis und Kontrolle. Während Adam am Tisch sitzt, trifft er auch Entscheidungen, vernünftige und nachvollziehbare und in seinem moralischen Kontext unbedingt gebotene, richtige Entscheidungen, die auf fundierten Fakten basieren, und auf dem, was er um sich herum wahrnimmt, aber trotzdem sind diese Entscheidungen für die Menschen um Adam falsch und gefährlich. Und er hätte sie ihnen nicht abnehmen dürfen.

    Aber es geht nicht nur um Maschinenkritik, sondern auch um die Frage nach den Chancen. Turings Monologe, die McEwan erdacht hat, sind geeignet, Begeisterung für die Idee zu vermitteln, dass unsere Intelligenz nur eine Vorstufe des Möglichen ist, dass uns diese Entwicklung herausfordern und mitreißen könnte, in positiver Weise. Der leider viel zu früh verstorbene Iain Banks hat das in seinen "Kultur"-Romanen fortgesponnen, diesen Gedanken von der Gesellschaft, die sich in miteinander geteilter Klugheit eint.


    "Maschinen wie ich" kommt einem kurz und überschaubar vor, dabei ist es ein intensiv geflochtenes, sehr dichtes, mehrschichtiges Werk, das viel Stoff zum Nachdenken und Nachforschen liefert. Es ist spannend und zugleich in der Ian McEwan eigenen Weise mit einem Augenzwinkern versehen, so dass am Ende sogar Optimismus steht. Und das Gefühl, dass da zwischen den Zeilen noch einiges war, das man beim zweiten Lesen entdecken könnte.


    ASIN/ISBN: 3257070683

  • Ian McEwans „Maschinen wie ich“ habe ich ab dem zweiten Drittel mit so atemloser Spannung gelesen, daß ich jetzt schon weiß, daß ich es noch einmal lesen muß, um weiterverfolgenswerte Aussagen, über die ich zu schnell hinweggelesen habe, entsprechend zu würdigen.


    Toms umfänglicher Rezension habe ich nichts hinzuzufügen und kann sie nur bestätigen.


    Ein wenig Schwierigkeiten hatte ich teilweise mit der Alternativwelt die Ian McEwan aufbaut, da sie in weiten Teilen aktuelle Entwicklungen beinhaltet, dann aber wieder wie ein Flashback erscheint.


    „Maschinen wie ich“ ist für mich ein exzellent geschriebener, beeindruckend vielschichtiger Roman um Intelligenz, Bewußtsein, Moral, Sinn und was menschliches Leben ausmacht, der keine Antworten liefert, aber die wesentlichen Fragestellungen andiskutiert.


    10 von 10 Punkten

  • Ein wenig Schwierigkeiten hatte ich teilweise mit der Alternativwelt die Ian McEwan aufbaut, da sie in weiten Teilen aktuelle Entwicklungen beinhaltet, dann aber wieder wie ein Flashback erscheint.

    Gerade das hat mir besonders gut gefallen. Es hat für mich die Geschichte des Romans, die Details und Überlegungen greifbarer gemacht. Dabei mag ich normalerweise Romane mit alternativen Realitäten nicht nesonders und es war der Grund, warum ich das Buch eigentlich nicht lesen bzw. hören wollte (ich habe das von Wanja Mues großartig vorgelesene Hörbuch gehört).

    Ich bin jedenfalls froh, dass McEwan Charlies und Adams Geschichte nicht in einer Zukunft angesiedelt hat.


    Ansonsten habe ich euren Leseeindrücken nicht viel hinzuzufügen. Die Buch beginnt gemächlich, aber irgendwann war ich dermaßen gefesselt von der Geschichte selbst und den vielschichtigen Gedankengängen, Hinweisen und Fragestellungen, dass ich es am liebsten an einem Stück gehört hätte. Ich bin mir sicher, dass man beim zweiten Lesen oder Hören noch einiges entdecken wird, das einem beim ersten Mal entgangen ist.

  • Gerade das hat mir besonders gut gefallen. Es hat für mich die Geschichte des Romans, die Details und Überlegungen greifbarer gemacht. Dabei mag ich normalerweise Romane mit alternativen Realitäten nicht nesonders und es war der Grund, warum ich das Buch eigentlich nicht lesen bzw. hören wollte (ich habe das von Wanja Mues großartig vorgelesene Hörbuch gehört).

    Gefallen hat mir das schon. Ich bin nur einfach immer wieder gestolpert und musste mir bewusst machen, dass wir nicht in der Gegenwart sondern einer alternativen Vergangenheit sind.

  • Ich fand das Buch wunderbar, von der ersten Seite bis zur letzten. Danke Saiya für den tollen Lesetipp. Ich mag alternative Realitäten und das hat mir hier besonders gut gefallen. Die Geschichte bietet so viele Ansatzpunkte, sich Gedanken über die unterschiedlichen Themen zu machen, dass ein zweites Lesen sich garantiert lohnen würde.

  • Ich kann mich euren guten Eindrücken nur anschließen. Besonders faszinierend fand ich die Begegnung Adams mit Mark, dem Jungen, den Miranda und Charlie adoptieren wollen. Die Gegenüberstellung Kind und Maschine fand ich sehr gelungen herausgearbeitet.

    Es gibt in diesem Buch nur zwei Momente der Überlegenheit des Menschen gegenüber eines Roboters. Zum einen ist es die Versenkung eines Kindes in sein Spiel. Überhaupt das Spiel an sich ist wohl etwas zutief Menschliches, von einer Maschine nicht nachempfindbar. Zum anderen ist es das Lügen oder Verschweigen der Wahrheit, das wir Menschen ständig in unserem Alltag anwenden, und sei es auch nur das Ignorieren der Türklingel, weil man keine Lust auf den nervigen Nachbarn hat. Eine künstliche Intelligenz wägt nicht ab, ob eine Notlüge vielleicht angebracht ist, um seinen geliebten Partner zu schützen, sondern er kennt nur die Moral, die ihm sein Beitzer einprogrammiert hat.

    Mich hat die Beschäftigung mit künstlicher Intelligenz eigentlich immer abgestoßen, durch dieses Buch habe ich mich zum ersten Mal ernsthaft damit beschäftigt und , auch etwas über das Buch hinaus.

    Ein lesenswertes Buch.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Mit den frühen Werken von Ian McEwan hatte ich ja immer so meine Problemchen, aber dieses hier finde ich klasse. Ich hatte es aus der Onleihe und habe es teils gehört, teils gelesen. Schätze, ich muss mir das Buch doch noch für mein Regal und zum Nocheinmal-Lesen besorgen.


    Ich kann mich euren guten Eindrücken nur anschließen. Besonders faszinierend fand ich die Begegnung Adams mit Mark, dem Jungen, den Miranda und Charlie adoptieren wollen. Die Gegenüberstellung Kind und Maschine fand ich sehr gelungen herausgearbeitet.


    Das kann ich auch so :write


    Außerdem finde ich es super, wie dem Autor Schreibstil und Sprache bei so einem komplexen Thema gelungen sind, federleicht liest sich die Geschichte, und hat trotzdem so viel Bestand. Er hat auch für alle eventuell aufkommenden Fragen des Lesers einleuchtende und logische Erklärungen.


    Da vergebe ich gern 9 sehr gute Punkte.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“