Die Hafenschwester (1): Als wir zu träumen wagten - Melanie Metzenthin

  • Melanie Metzenthin: Die Hafenschwester (1): Als wir zu träumen wagten. Roman, München 2019, Diana-Verlag, ISBN 978-3-453-29233-8, Klappenbroschur, 463 Seiten, Format: 13,6 x 4,5 x 20,7 cm, Buch: EUR 15,00 (D), EUR 15,50 (A), Kindle: EUR 9,99.


    „In dem Moment wusste sie, dass eine Frau alles im Leben erreichen konnte. Sie musste nur mit ganzem Herzen für das eintreten, an das sie glaubte. Wenn man die richtigen Worte am richtigen Ort wählte, wenn man die Menschen damit berührte, dann ging es nicht mehr darum, ob man ein Mann oder eine Frau war. Und somit war der 16. November 1896 der Tag, an dem Martha endgültig erwachsen wurde.“ (Seite 288)


    Hamburg 1892: Bis jetzt ist die Welt der vierzehnjährigen Martha Westphal aus dem armen Gängeviertel noch so halbwegs in Ordnung: Der Vater arbeitet als Schauermann, die Mutter näht in Heimarbeit für ein Weißwarengeschäft und sie selbst soll nach der Schule eine Schneiderlehre antreten. Schwesterchen Anna ist noch zu klein für Zukunftspläne, aber ihr Bruder Heinrich ist ein so heller Kopf, dass er aufs Gymnasium gehen wird. Seit langem spart die Familie schon für sein Schulgeld.


    Auch Martha ist überaus intelligent, wissbegierig und wortgewandt, aber für ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen ist der Besuch eines Gymnasiums nicht vorgesehen. Studieren dürfen Frauen in Deutschland sowieso nicht, und woher sollte sie das Geld nehmen, zu einem Studium ins Ausland zu gehen?


    Familienoberhaupt mit 14

    Dann kommt der Cholera-Sommer und auch die Westphals verlieren Familienangehörige. Der Vater erholt sich nicht mehr von diesem Schicksalsschlag, und auf einmal ist Martha das Familienoberhaupt und muss zusehen, wie Geld ins Haus kommt. Auf keinen Fall so wie bei Nachbarstochter Milli, die von ihrem Stiefvater zur Prostitution gezwungen wird!


    Durch die Pflege ihrer Angehörigen und den Kontakt mit verschiedenen Ärzten hat Martha ihr Interesse für Medizin und ihr Geschick im Umgang mit Kranken entdeckt. Durch Fürsprache eines Mediziners bekommt sie eine Stelle als Hilfskrankenwärterin im Krankenhaus in St. Georg. Die Sitten dort sind rau, die Arbeit hart, schmutzig und schlecht bezahlt. Doch Martha arbeitet sich später im Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf gegen alle Widerstände bis zur OP-Schwester hoch.


    Eigentlich ist die Tätigkeit einer ausgebildeten Krankenschwester nur für höhere Töchter vorgesehen. Dass ein Mädchen aus dem Gängeviertel sie ausübt, hat’s noch nie gegeben.


    Martha entdeckt ihr politisches Bewusstsein

    Die engagierte Carola nimmt Martha mit zu Versammlungen der Sozialdemokraten. Auch wenn Martha meint, von Politik nichts zu verstehen: Die Idee von Chancengleichheit und Gerechtigkeit will sie aus vollem Herzen unterstützen.


    Jetzt versteht sie auch, warum ihre Familie und die Leute in ihrem Viertel nie auf einen grünen Zweig kommen – und dass man das durchaus nicht als gegeben hinzunehmen braucht, sondern etwas verändern kann, ja muss.


    Unter dem Begriff „Frauenrechte“ kann sich Martha zunächst gar nichts vorstellen. Doch als die Rednerin loslegt, ist sie Feuer und Flamme.


    Eifrig diskutieren Martha und Carola das, was sie auf den Versammlungen lernen, mit Schwester Susanne, einer sehr gläubigen Kollegin. Die ist gar nicht davon angetan, dass die Roten über die Kirche lästern und ihr im Bereich Wohltätigkeit Konkurrenz machen. Carolas flapsiger Spruch „In unserer Zeit wäre Jesus ein Sozialist geworden“ (Seite 215), kommt bei Susanne nicht gut an. Und so streiten sich die drei engagierten Krankenschwestern über Moralvorstellungen, Vorurteile, Glauben versus Ideologie und etliches andere. Sie brauchen eine ganze Weile, bis ihnen klar wird, dass sie in im Grunde alle dasselbe wollen: den Bedürftigen helfen. Nur der theoretische Ansatz ist jeweils ein anderer. In diesen Streitgesprächen stecken viele interessante Argumente und Denkansätze.


    Die Schwesternschaft verlangt das Zölibat

    Bei den politischen Versammlungen lernt Martha auch Paul Studt kennen, einen Maschinenbau-Ingenieur, der, wie sie, aus einfachen Verhältnissen stammt und seine Wurzeln nicht vergessen hat.

    Nur gibt es da ein Problem: Martha ist Mitglied der „Erika-Schwestern“. Das ist zwar kein religiöser Orden, doch die Schwesternschaft funktioniert nach ähnlich strengen Prinzipien. Von den Schwestern verlangt man einen tadellosen Lebenswandel - und das Zölibat. Hat eine was mit einem Mann, darf sie den Beruf als Krankenschwester nicht mehr ausüben. Klingt verrückt, entsprach aber damals den Tatsachen. Das hat sich die Autorin nicht ausgedacht.


    Auguste hat Martha mit Paul gesehen und weiß auch um ihre Freundschaft zur Prostituierten Milli. Beides ist nicht mit den strengen Statuten der Erika-Schwesternschaft vereinbar. Damit hat sie Martha nun in der Hand ...


    Geschichte am Beispiel von Einzelschicksalen

    Ich liebe es, wenn mir Geschichte und Politik anhand konkreter (fiktiver) Einzelschicksale nahegebracht wird. Es war faszinierend und aufschlussreich, Marthas politischem Erwachen zuzusehen. Plötzlich werden ihr Zusammenhänge klar, über die sie nie zuvor nachgedacht hat und es tun sich Möglichkeiten für sie auf, die Lebensumstände der Menschen in ihrer Umgebung zum Besseren zu verändern. Verblüfft stellt sie fest: Sie ist gar kein Spielball der Mächtigen, sie kann selbst etwas bewirken! Wie viel sie erreichen wird und welchen Preis sie dafür wohl wird zahlen müssen, werden wir in den folgenden Bänden dieser Reihe sehen.


    Ich habe dieses Buch tatsächlich auf einen Rutsch ausgelesen. Hatte ich gar nicht vor. Ich wollte nur mal schnell reinschauen ... Dann stand ich irgendwann vor der Wahl: Gehst du jetzt googeln, wie das mit dem Hafenarbeiterstreik ausgegangen ist oder liest du einfach weiter? Um an den Computer zu gehen, hätte ich aber das Buch aus der Hand legen müssen. Das wollte ich nicht. Also hab ich weitergelesen und immer weiter – und plötzlich war der Band zu Ende.


    Spannend und unberechenbar wie das Leben

    Jetzt werden wir wohl ein Jahr warten müssen, bis wir erfahren, wie es mit Martha und Paul, Carola, Susanne und Auguste, Milli, Moritz, Heinrich und all den anderen weitergeht. Besonders berechenbar ist das nicht, denn Melanie Metzenthins Romanfiguren nehmen sich die Freiheit, auch mal dazuzulernen und ihre Meinung revidieren. Zwielichtige Gestalten sind durchaus imstande, anständig zu handeln, wenn ihnen danach ist. Und die Guten können haarsträubende Fehler begehen. So bleibt’s so spannend wie im wahren Leben.


    Die Autorin

    Dr. Melanie Metzenthin wurde 1969 in Hamburg geboren, wo sie auch heute noch lebt. Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie hat sie einen ganz besonderen Einblick in die Psyche ihrer Patienten, zu denen sowohl Traumatisierte als auch Straftäter gehören. Bei der Entwicklung ihrer Romanfiguren greift sie gern auf ihre beruflichen Erfahrungen zurück.


    ASIN/ISBN: 3453292332

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

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  • „Aber wenn wir es aus Angst vor dem Scheitern gar nicht erst versuchen, werden wir niemals etwas ändern.“ Melanie Metzenthin hat mit dem ersten Teil ihrer Hafenschwestern-Saga ein wahres Highlight vorgelegt. Dieser Roman hat alles was das Leserherz begehrt: Dramatik und Liebe, Sehnsucht und Kampf nach Gerechtigkeit, Geschichte und Aktualität. Das Cover zeigt den Körper einer Krankenschwester, die einen Arztkoffer trägt. Sie ist mit einer typischen Krankenschwesteruniform bekleidet, die Farben Rot, Schwarz und Weiß spiegeln noch einmal den medizinischen Hintergrund wieder. Der Klappentext ist vom Verlag gut gewählt, er macht Lust auf mehr. Er umreißt das Geschehen und führt die wichtigsten Personen ein.

    Der Roman ist in zwei große Teile gegliedert: 1. Die Krankenschwester & 2. Die Sozialdemokratin. Er beginnt 1892 und endet 1898, in diesen sechs Jahren liegt der Fokus auf Martha Westphal. Die junge Martha stammt aus dem Gängeviertel, einem der ärmsten Viertel Hamburgs. Nach dem Tod der Schwester und Mutter durch die Cholera, will und muss Martha zum Unterhalt der Familie beitragen und bewirbt sich um eine Ausbildung als Krankenschwester bei der „Erika-Schwesternschaft“. Marthas engste Bezugspersonen sind neben ihrer Familie, die Jugendfreundin Milli und ihre Kolleginnen während der Ausbildung Carola und Susanne. Besonders Milli hebt die Autorin hervor, da sie es nicht so gut wie Martha getroffen hat. Sie steht stellvertretend für alle Frauen die weniger „Glück“ gehabt haben. Milli wird von ihrem Vater zur Prostitution gezwungen und muss auch noch Jahre später den Zorn ihres Vaters fürchten, wenn sie ihm nicht das verdiente Geld abliefert.

    Erst in der zweiten Hälfte des Romans bekommt Martha einen männlichen Gegenpart: Paul Studt. Er ist der Mann, der den Hafenarbeitern eine Stimme gibt. Er ist aber auch der Mann, der in Martha Gefühle weckt, die sie bisher nicht kannte. Ansonsten bleiben die Männer, ob Marthas Bruder Heinrich oder Marthas Vater eher Randfiguren, sie werden nur selten zu aktiv handelnden Figuren. Auch die Ärzte in dem Roman haben zwar eine Stimme, kommen aber meiner Meinung nach nicht so zu Wort wie die Frauen oder Paul in diesem Roman.

    Der Roman besticht durch eine Mischung von fiktiven und historischen Persönlichkeiten: Wichtigste historische Persönlichkeit in dem Roman ist Lida Heymann. Lida Heymann ist die erste Frauenrechtlerin in Hamburg, macht auf das Elend der Frauen und Kinder aufmerksam und betreibt die erste Suppenküche, um die ärgste Not zu lindern. Der Roman thematisiert sowohl Teile der Medizingeschichte, Teile der Geschichte der Gewerkschaften und der Frauenrechte, als auch die Historie der Sozialdemokratie, somit ist dieses Buch auch ein sehr politisches Buch.

    Der Roman ist sprachlich sehr gut gestaltet. Die Beschreibungen des Romans bereichern die Handlung, ohne dass es zu einem Zeitpunkt langweilig ist. Die Dialoge sind authentisch und tragen zu einem angenehmen Lesetempo bei. Die Autorin bedient sich sowohl der Elemente der Zeitraffung als auch der Zeitsprünge, wodurch die gut vierhundertsechzig Seiten des Romans, wie im Fluge vergehen. Orts- und Zeitangaben helfen dem Leser das Geschehen einzuordnen. Die verschiedenen Erzählperspektiven zeigen eindrucksvoll die unteschiedlichen Blickwinkel der Gesellschaft. Hervorzuheben ist auch das Nachwort, welches sehr informativ ist. Auch werden einige Dinge noch einmal in den rechten Kontext gerückt.

    Der Roman ist für alle Männer und Frauen geschrieben worden, die sich gerne tiefgründig mit einem historischen Thema auseinandersetzen. Aber auch Hamburg-Fans werden sicherlich auf ihre Kosten kommen, sowie Medizin-Interessierte. Ich wünsche diesem Roman viele Leserinnen und Leser, die sich mit Martha auf eine spannende Reise machen. Ein wahrlich großartiger Auftakt zu einer neuen Saga.

    Melanie Metzenthin hat mit diesem Roman ihrer Heimatstadt, als auch ihrer Familie ein Denkmal gesetzt. Ich bedanke mich sehr bei der Autorin und dem Verlag für die Bereitstellung des Rezensions- und Leseexemplars und ihre Geduld.


    10/10 P.

  • Mich hat dieser Roman sehr begeistert, was verschiedene Gründe hatte.


    Zum einen haben mir die Figuren sehr gefallen, sie waren interessant beschrieben und haben Entwicklungen durchgemacht, die ich ihnen abgenommen habe. Dazu historische Personen, die die Geschichte bereichert haben.


    Dann natürlich das Hamburger Flair, ich bin mit Martha und Co durch die engen Viertel bis zum Hafen gelaufen und dann wieder bis zum Eppendorfer Krankenhaus.

    Und natürlich die historische Einordnung. Was für eine spannende Zeit, von der ich in letzter Zeit nicht viel gelesen habe, da ich meist in den 30er bis 50er Jahren unterwegs war. Dabei ist das ausgehende 19. Jahrhundert eine Zeit der Umbrüche, was die Autorin wirklich spannend vermittelt hat. Selbst die politischen Diskussionen, die oftmals langweilig sein können, haben mich hier gefesselt und ich konnte nachvollziehen, was die Menschen und vor allem die Frauen bewegt haben muss, bis sie sich aufgelehnt haben.

    Für mich waren alle Zutaten für gelungene Lesestunden dabei und ich freu mich auf die Fortsetzung. 9 Eulenpunkte und eine Leseempfehlung.

  • Martha ist eine symapthische und tatkräftige Hauptperson und ich habe ihren Weg gern begleitet. Dennoch war ich lange nicht so richtig angetan von dem Buch. Der Schreibstil war fesselnd, keine Frage. Aber irgendwie war mir das Setting (Armenviertel in Hamburg) und so manche Figur (z.B. die liebenswerte Prostituierte) ein wenig zu abgedroschen. Ich fand die Geschichte einerseits spannend, hatte aber immer ein wenig das Gefühl, das alles schon mal in x Variationen gelesen zu haben.

    Doch zum Glück hat es der Schreibstil geschafft, mich von Abbrechen abzuhalten, denn irgendwann fand ich die Geschichte einfach nur noch interessant und spannend. Auch wenn ich den "Nachhilfeunterricht" für Martha zu Gewerkschaftsthemen weiterhin ein bißchen viel fand.

    Dennoch werde ich bestimmt auch den 2. Teil lesen.