Kazuo Ishiguro - Was vom Tage übrig blieb

  • So sehr ich mich gerade über Stevens ärgere, muss ich doch auch einmal erwähnen, dass ich begeistert bin, dass sich jemand so einen Charakter ausdenken kann.

    Dass Stevens nicht normal ist, brauche ich nicht extra zu betonen. Und sich als normal denkender und fühlender Mensch in so einen Menschen hinzuversetzen und ihn darzustellen, dass es auch in sich stimmig ist, ist enorm.

  • Ich kann mir vorstellen, dass es für den Sprecher bei diesem Buch schwer ist, den richtigen Tonfall zu finden, vor allem bei Ms. Kenton. Denn schließlich geht es nicht darum, wie Ms. Kenton wirklich gesprochen hat, sondern wie Stevens es wahrgenommen hat.

    Ich frage mich, ob es hier einen Interpretationspielraum gibt. Kann es sein, dass der Sprecher durch den Tonfall Hinweise gibt, die beim gedruckten Buch nicht da sind?

  • Ich habe mir beim Hören auch immer wieder Gedanken darüber gemacht, inwieweit Stevens Leben für jemanden seiner Berufsgruppe ungewöhnlich war. Es ist wohl schwer zu entscheiden.

    Vermutlich ist es aber schwierig gewesen, ein Privatleben zu haben, wenn man Tag und Nacht für die Herrschaft zur Verfügung stehen muss.

    Stevens ist vermutlich die extreme Ausformung eines solchen Butlers.


    Ich frage mich, ob es hier einen Interpretationspielraum gibt. Kann es sein, dass der Sprecher durch den Tonfall Hinweise gibt, die beim gedruckten Buch nicht da sind?

    Man müsste gleichzeitig Hören und Lesen, um das entscheiden zu können. Für mich ist das der Reiz des Hörbuchs und auch von Hörspielen, dass in einem gewissen Umfang ein Freiraum besteht.

  • Ich habe mir beim Hören auch immer wieder Gedanken darüber gemacht, inwieweit Stevens Leben für jemanden seiner Berufsgruppe ungewöhnlich war. Es ist wohl schwer zu entscheiden.

    Vermutlich ist es aber schwierig gewesen, ein Privatleben zu haben, wenn man Tag und Nacht für die Herrschaft zur Verfügung stehen muss.

    Stevens ist vermutlich die extreme Ausformung eines solchen Butlers.

    Ich denke, dass Stevens einen übertriebenen Ehrgeiz hatte. Ich vermute, dass ihm auch freie Tage zugestanden wären, die er aber nicht in Anspruch genommen hat. Oder spricht er nur nicht darüber, weil das zu privat gewesen wäre?

    Er wollte eben ein "großer Butler" sein. Ich frage mich, ob das mit seinem Vater zusammenhängt.

    Man müsste gleichzeitig Hören und Lesen, um das entscheiden zu können. Für mich ist das der Reiz des Hörbuchs und auch von Hörspielen, dass in einem gewissen Umfang ein Freiraum besteht.

    Das wäre sicher interessant.

  • 133 – 143


    Die Szene im Haus der Taylors bietet einige versteckte Komik. Ich stelle mir vor, wie die Nachricht von der Ankunft eines fremden, eleganten Herrn mit einem chicen Auto wie ein Lauffeuer durchs Dorf geht. Wie getratscht und spekuliert wird und ein falsches Bild von Stevens entsteht. Da wird ein Abendessen organisiert, um ihn zu als Attraktion zu präsentieren. Er selbst merkt das erst zu spät und kommt aus der Nummer nicht mehr raus. Oder will er es auch gar nicht?


    Immerhin geht der Abend für Stevens glimpflich aus, doch das Gespräch zum Thema Würde beschäftigt ihn danach noch.


    Als Smith erklärt, dass für ihn Würde etwas mit Freiheit zu tun hat, dachte ich mir, jetzt müssten bei Stevens alle Alarmglocken schrillen. Denn welche Freiheit hat er denn. Ist er ein freier Mann?

  • 144 – 150


    Smiths Aussagen zu Würde und Beteiligung der Bürger an der Politik scheinen einen wunden Punkt bei Stevens zu treffen. Er befürchtet, dass sie ihn noch tagelang beschäftigen könnten.


    Er ist im Gegensatz zu Smith der Meinung, dass gewöhnliche Menschen damit überfordert sind.

    Ist das seine ureigenste Meinung oder hat er die seines Dienstherrn übernommen? Oder schließt er von sich auf andere? Stevens argumentiert mit Loyalität.


    Dass Loyalität ist seinem Beruf wichtig ist, ist selbstverständlich. Doch ich finde, das hat irgendwo seine Grenzen, wie uns ja auch die Geschichte lehrt. Stevens macht es sich da zu leicht, wenn er denkt: Wenn man sich einmal nach gründlichem Abwägen für einen Dienstherrn entschieden hat, muss man auch dabei bleiben, komme was wolle. Aber auf die Art trägt er keine Verantwortung für die Geschehnisse.


    Das Ereignis von 1935, bei dem er als Demonstrationsobjekt herhalten muss, ist typisch für Stevens. Obwohl die Situation für ihn in höchstem Maße demütigend war, redet er sie klein. Er versteckt sich hinter seiner Pflicht und der oberflächlichen Überzeugung, etwas Nützliches getan zu haben. Er will es eben gerne glauben.


    Somit ist die Welt für ihn in Ordnung. Scheint es. Doch bei Stevens weiß man das nie so genau. Er hat sich eine Rüstung zugelegt, die sein Innerstes abschirmt. Nur manchmal dringt ein Schimmer nach außen. Und das macht der Autor hervorragend. Manchmal ist es nur eine kleine Andeutung, manchmal trifft es einen wie ein Schlag, wie z. B. der Satz, dass sich Darlingtons Wirken jetzt „bestenfalls als traurige Vergeudung von Leben und Werk“ darstellen. Es scheint ihn nicht zu berühren.


    Aber mir ist nicht immer klar, was Stevens tatsächlich kalt lässt und welche Gefühle, Gedanken und Sorgen er so erfolgreich verdrängt, dass sie nicht zu existieren scheinen.

  • 4. Tag, nachmittag – Little Compton, Cornwall


    151 - 155


    Ich weiß nicht, wie ich Dr. Carlisle einschätzen soll. Zunächst schien er mir ein sympatischer, offener Mensch zu sein. Doch als er mehrfach Stevens mit „alter Junge“ anredete, fand ich das doch sehr herablassend, auch wenn er ihn durchschaut hatte.

    Ich fand es unangenehm, wie er Stevens über den vergangenen Abend ausfragte. Oder hat sich hier Stevens Gefühl auf mich überragen, der sich ja jedes Wort aus der Nase ziehen ließ?


    Dr. Carlisle scheint als junger Mann mit Idealismus in dieses Dorf gekommen zu sein, dann aber an den Bewohnern resigniert zu haben. Dennoch hat er sie offensichtlich ins Herz geschlossen.



  • 155 – 167


    Eigentlich ist dieser Abschnitt die Essenz des ganzen Buches. Es geht um Loyalität und darum, ob sie so weit gehen muss, dass man die Augen verschließt, wenn jemand auf einen Abgrund zufährt.

    Zum anderen geht es darum, wie weit das Privatleben hinter der beruflichen Pflicht zurückstehen muss, und natürlich wieder um Würde.


    Was für ein Tag! Es sind drei parallele Ereignisse.

    Einmal ist es der Wendepunkt in seiner Beziehung zu Ms. Kenton, d. h. eigentlich das Ende. Dann das geheime Treffen bei Lord Darlington. Und dann noch das Gespräch mit Mr. Cardinal.
    Das muss für Stevens ja Stress pur gewesen sein. Doch seiner Erzählung merkt man das nicht an. Erst wenn man darüber nachdenkt, fällt einem das auf.


    Die Diskrepanz zwischen dem, was Stevens erzählt und dem, was er fühlt, ist erschütternd. Dezent streut der Autor Indizien aus. Mittlerweile hat sich mein Sinn dafür etwas geschärft, sodass ich sie wenigstens beim zweiten Hören wahrnehme. Auch wenn ich mir bei der Interpretation nicht immer sicher bin.

    Besonders aufgefallen ist mir die Stelle, als Stevens überzeugt ist, dass Ms. Kenton in ihrem Zimmer weint, obwohl er nichts hört.

    Manchmal könnte man meinen, es sind zwei unterschiedliche Situationen, wenn man Stevens Beschreibung und Ms. Kentons Reaktionen hört.


    Dann, als am Ende des Tages etwas Ruhe einkehrt (167), gibt Stevens zwar zu, dass seine Stimmung zuerst „ein wenig niedergeschlagen“ war. Doch dann macht sich in ihm ein Gefühl des Triumphs breit, weil er in einer schwierigen Situation die Würde bewahrt hatte. „Ich hatte das zudem in einer Art bewerkstelligt, auf die vielleicht sogar mein Vater stolz gewesen wäre.“

    Das ist so traurig! Er hat seine Liebe seinem Berufsverständnis geopfert.

  • Im Gespräch mit Cardinal habe ich Stevens richtig bedauert. Denn da ist er nun wirklich überfordert. Wie soll er wissen, ob es richtig ist, diese Gespräche zu führen? Da waren noch ganz andere Leute überfordert.


    Stevens hat in der Situation mit Ms Kenton meiner Meinung nach mehr Ähnlichkeit mit einem sprechenden Besenstiel als mit einem lebenden Menschen. Es ist so traurig - für beide.

  • 168 – 175


    Ich hatte bis zuletzt große Zweifel, ob das Treffen mit Ms. Kenton überhaupt stattfinden würde, und wenn, dann würde sie ihm ordentlich die Meinung sagen, dachte ich. Doch stattdessen verlief es sogar sehr freundschaftlich. Sie hat ihn wohl so akzeptiert, wie er ist. Und das war sicher kein einfacher Weg.


    Auf ihre hinfällige „Liebeserklärung“ hin versucht er routiniert wie immer mit Understatement zu reagieren und nennt sein Empfinden zunächst lediglich „einiger Kummer“. Doch dann schimmerte für einen kurzen Moment sein Innerstes durch. Er gestand sich ein: „In diesem Augenblick brach mir das Herz.“ Für mich kam dieser Satz völlig unerwartet und wie ein Holzhammer. Doch er hat sich ganz schnell wieder im Griff. Was ist das bloß für ein Mensch!


    Ich denke, beiden war in diesem Augenblick klar, dass das ein Abschied für immer sein muss.

    Was für ein Abschied! Im strömenden Regen in einem abblätternden Wartehäuschen.


    Ich frage mich, was Ms. Kentons Mann von all dem wusste. Es kann ihm doch nicht verborgen geblieben sein, wie sehr seine Frau an Stevens gehangen hat. Sie hat ja, wie sie selbst Stevens erzählt hat, ihrer Tochter alles über ihn erzählt. Vielleicht hat er von Anfang an darauf gehofft, dass sie ihn lieben lernen würde. Damals hat es das viel häufiger als heute gegeben. Und es hat wohl mehr oder weniger geklappt.

    Wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass man nur 2. Wahl ist?

    Stevens hat in der Situation mit Ms Kenton meiner Meinung nach mehr Ähnlichkeit mit einem sprechenden Besenstiel als mit einem lebenden Menschen. Es ist so traurig - für beide.

    Ms. Kenton hat manchmal bereut, damals Darlington Hall verlassen zu haben. Ich denke aber, dass es das einzig Richtige war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auf Dauer mit Stevens glücklich geworden wäre. Sein Beruf wäre immer Nummer 1 in seinem Leben gewesen.

  • 175 – 177


    Zwei Tage später sitzt Stevens auf einer Bank am Pier. Wie er den Tag nach dem Treffen mit Ms. Kenton verbracht hat, erfährt man nicht. Mir laufen da verschiedene Filme vor Augen ab. Aber vermutlich erzählt er nichts darüber, weil er sich nicht so weit „entkleiden“, d. h. seine Würde verlieren will.


    Ich kann mir vorstellten, dass die heitere und gelassene Stimmung am Pier ein krasser Gegensatz zu der Trauer war, in der er sich befand. Das ist vielleicht auch der Grund, warum er sich dem Mann neben ihm öffnet. Vielleicht beneidet er die Menschen um sich herum.

    Er hat auf einmal Zweifel, ob es richtig war, Darlington vollständig zu vertrauen und auf dessen falschem Weg mitzugehen.

    Wenn ich mir vorstelle: Stevens hat Darlington sein Bestes gegeben, genau genommen die Liebe seines Lebens, und das womöglich umsonst? So gesehen ist er völlig gescheitert.


    Aber die Szene mit dem Taschentuch ist doch zu köstlich.

  • 178 – Ende


    Die warmen, tröstenden Worte des Mannes und die heitere Atmosphäre am Pier tun Stevens offensichtlich gut.

    Sie helfen ihm, mit der Vergangenheit abzuschließen und nach vorn zu sehen und das Beste aus dem Rest seines Lebens zu machen. Zumindest nimmt er sich das vor.


    Allerdings kommt mir vor, als ob doch wieder seine alten Denkmuster zum Vorschein kommen. Er ist der Meinung, dass den gewöhnlichen Leuten nichts anderes übrig bleibt, als ihr Schicksal in die Hände von großen Menschen zu legen. Und wenn man Opfer gebracht hat, um einen „Beitrag von Wert“ zu leisten, kann man stolz auf sich sein, auch wenn es falsch war,

    Klar muss man Opfer bringen, um im Leben Ziele zu verwirklichen, aber ich finde, das hat doch alles seine Grenzen.

    Aber ich denke, er braucht eine Rechtfertigung für sein vergangenes Leben, um nicht zu verzweifeln und positiv nach vorn zu sehen.


    Da er hier die Erkenntnis gewonnen hat, dass im Scherzen der Schlüssel zur menschlichen Wärme liegt, hat er sich vorgenommen, sich hierauf zu konzentrieren. Ich finde das schön, aber für mich klingt das alles schon wieder viel zu dienstlich und pflichtbewusst. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er das hinbekommt.

    Stevens kann halt nicht aus seiner Haut.


    Es bleibt einem nichts anderes übrig, als Stevens alles Gute zu wünschen.

  • Ich habe Eure Darstellung und Diskussion des Buches mit großem Interesse verfolgt und mir gestern noch einmal den Film auf DVD angeschaut. Dort gibt es ja die heitere und hoffnungsfrohe Szene mit der Taube im großen Saal am Schluss. Das ist wohl der Ersatz des Drehbuchschreibers für diese Bankgesprächsszene, die Ihr hier beschreibt. Findet Ihr das entsprechend passend?

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando

  • Die Taube ist doch ein Friedenssymbol. :gruebel

    Oder muss ich sie eher biblisch als Heiligen Geist verstehen. :lache

    Aber um auf die Hoffnung zurückzukommen: Ich denke schon, dass Stevens hoffnungsvoll in die Zukunft geht. Er hat einen Weg gefunden, das Alte zurückzulassen und Pläne, was er für die Zukunft besser machen will.


    Ich bin zwar etwas skeptisch, aber das braucht er ja nicht zu wissen. :grin

  • Ich habe mir übrigens vor Kurzem den Anfang des Hörbuchs noch einmal sehr aufmerksam angehört. Es ist unglaublich, wie viele Andeutungen auf Stevens Gefühlsleben mir jetzt auffallen oder ich anders verstehe als beim ersten Mal.


    Was für ein grandioses Buch! Am Anfang konnte ich die ganzen Lobeshymnen darüber überhaupt nicht verstehen.


    Eigentlich wäre es doch eine gute Idee, die gleiche Geschichte mal vom Standpunkt Ms. Kentons zu erzählen.

  • Ich habe mir übrigens vor Kurzem den Anfang des Hörbuchs noch einmal sehr aufmerksam angehört. Es ist unglaublich, wie viele Andeutungen auf Stevens Gefühlsleben mir jetzt auffallen oder ich anders verstehe als beim ersten Mal.

    Mir ging das auch so, deshalb fand ich es oft schwierig, nicht womöglich zu viel zu verraten.


    Ich fürchte, Stevens wird sich nicht so sehr ändern. Viel zu eingefahren sind seine Gewohnheiten. Das ändert man nicht so leicht. Was ich aber vermute ist, er hat seine andere Seite jetzt einmal angeschaut und akzeptiert. Vielleicht schafft er es, sie in Zukunft etwas öfter zu ihrem Recht kommen zu lassen.

  • Das wäre schon interessant. Im Film hat Emma Thompson ja eine fast gleichwertige Hauptrolle. Aber Anthony Hopkins spielt die Butler-Zurückhaltung schon grandios.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Virginia Woolf: Orlando