'Wolkenkuckucksland' - Seiten 431 - Ende

  • Offenbar hat man das Projekt einfach aufgegeben. Möglicherweise den schlimmen Zuständen geschuldet.

    Nur hat keiner daran gedacht, die Menschen da rauszuholen.

    Ich interpretiere es für mich so, dass das Projekt kein Experiment ist, sondern eine (sehr verzweifelte) Möglichkeit, als Menschheit zu überleben. Nämlich: schotten wir eine Gruppe von Menschen so lange von den äußeren Zuständen ab (Hitze, Dürre, Aufstände ...), bis sich die Erde (hoffentilch!) wieder erholt hat und die Menschheit darauf weiterleben kann. Also kein "versehentliches" Vergessen, sondern ein absichtliches. Dass ein kleiner Virus dem Ganzen so schnell ein Ende bereitet, hat wohl keiner geahnt.

    Das hätte doch die erste Besatzung die an Bord ging merken müssen, oder? Waren die alle narkotisiert? Und wenn der eine Junge sich schon durch die Hälfe der Wand gebuddelt hatte, ob man das nicht hätte merken müssen? Wenn zwei Kinder drauf kommen, dann müssen die Erwachsenen es ja gewusst haben. Ich denke, ab einem gewissen Alter wussten die das schon. Zumindest einige.

    Nein, ich denke nicht, dass die Erwachsenen das wussten (der andere Junge durchaus - doch ihn hat man als verrückt abgestempelt). Zum einen gehen Kinder ganz anders mit ihrer Welt um und hinterfragen viel mehr. Wir Erwachsene geben uns (pauschal gesagt), doch oft mit Allgemeinwissen zufrieden. "Wir sitzen in einem Raumschiff und fliegen durch das All." Das hinterfrägst du doch nicht - außer du hast die Neugierde und angeborene Skepsis eines Kindes, in dessen Welt noch viel mehr Dinge möglich sind als in der geordneten der Erwachsenen. Abgesehen davon, wurde in den ersten Abschnitten immer wieder die Besonderheit von Konstance als sehr phantasiereiches Kind angesprochen und die besondere Auswahl der Crew. Ich gehe von der bewussten von Menschen aus, die sehr kompetent in ihrem Gebiet sind, aber über wenig Phantasie und "eigenständiges" Denken verfügen.


    Weiterer Grund: ein Kind hat viel mehr Zeit, Dinge zu entdecken. Konstance verbringt schon vor der Epidemie viel Zeit im Atlas und danach noch viel mehr. Und trotzdem braucht sie sehr lange, um hinter seine Geheimnisse zu kommen. Diese Zeit hat kein Erwachsener, der in ein Arbeits- und Familienleben eingespannt ist. Noch dazu, da sich die meisten (das wird ja auch thematisiert) Kinder und Erwachsenen lieber mit vorgefertigter Unterhaltung und Schlaf-Drops ablenken lassen - da bleibt kein Raum für Entdeckungen und Phantasie.


    Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr begeistert es mich, an was Doerr alles gedacht hat, damit das Buch stimmig ist. :anbet

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Zum Schluss dachte ich mir: da hättest du auch "Oh wie schön ist Panama" nochmal lesen können.

    An "Oh wie schön ist Panama" hab ich zwischendurch ja auch gedacht, trotzdem finde ich im Nachhinein, dass die Aussage doch ein klein wenig anders ist als bei Janosch. Aethon findet ja tatsächlich sein Wolkenkuckucksland (anders als Tiger und Bär) und entscheidet sich ganz bewusst, dort nicht zu bleiben und lieber in seine Heimat zurückzukehren. Für mich eher die Aussage: als Mensch bist du für ein sorgenfreies, auf den Moment bezogenes Leben - aber auch ohne Ideen, Visionen, Ziele und Gefühle - nicht geschaffen. Auch wenn diese Art von Leben mühsam ist.


    Also viel mehr in die Blickrichtung, die du vermisst.

    Was mir am Ende gefehlt hat war, dass Utopien etwas bewirken können und auch ganze Gesellschaften verändern können.

    Das kleine Glück ist eine gute Sache und sich mit dem Möglichen abzufinden und etwas Gutes daraua zu machen, ist wichtig und alles, was den meisten von uns gelingen kann.


    Aber wo wären wir, ohne die positiven Ideen, die Utopien, für die so viele gekämpft haben?

    Das ist natürlich anders als die Suche nach dem Wolkenkuckucksland. Aber doch ähnlich.

    Wobei ich dir recht gebe, dass es in dem Buch vor allem um persönliche Ziele geht, nicht um große Utopien und Veränderungen, die ich auch sehr wichtig halte! Auf der einen Seite: ja, das fehlt - aber auf der anderen: hätte dieser andere Blickwinkel noch hineingepasst? So bewirken die persönlichen Verwirklichungen ja auch Großes, wenn man es längerfristig sieht: Anna und Omeir gründen nicht nur eine Famiie, sondern die Geschichte von Diogenes darf durch die beiden weiterleben - über viele Jahrhunderte hinweg; Zeno rettet die Kinder nicht nur vor der Bombe, sondern gibt die Diogenes-Geschichte durch seine Übersetzung ebenfalls an die nächsten Generationen weiter und Konstance rettet erstmal sich selber, aber mit ihr auch wieder die Geschichte und ihr Wissen, das vielleicht beim Überleben hilft. Kleine Dinge - die aber auf Generationen gesehen sehr viel Gutes bewirken.


    Dass es übrigens die Kinder und nicht die Wissenschaftler waren, die auf die Idee kommen, die Geschichte in dieser Reihenfolge zu erzählen und Aethon wieder nach Hause zu schicken, fand ich sehr bezeichnend. Für uns Erwachsene ist vielleicht das ferne, sorgenfreie Wolkenkuckucksland das Ziel - für die Kinder ein geborgenes Zuhause.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • In dem Buch steckt so so so viel drin! :anbet So viele kluge Gedanken und Dinge, über die es sich nachzudenken und zu diskutieren lohnt! Ich bin übrigens etwas erstaunt, dass ich bisher sehr wenig über das Buch gehört habe, es hätte weitaus mehr Aufmerksamkeit verdient!


    Eins noch:

    „Im Vergessen, das lernt er jetzt, heilt sich die Welt selbst.”


    Wolkenkuckucksland von Anthony Doerr (© C.H.Beck 2021)

    Clare dieser Satz ist mir auch aufgefallen. Weißt du, woran er mich erinnert hat? Ishiguro, "Der begrabene Riese", das haben wir doch mal gemeinsam gelesen.


    Noch immer kann ich mich nicht recht dazu durchringen, das so generell für richtig zu halten.

    Ich erinnere mich auch sehr gerne an die Leserunde zum begrabenen Riesen, eine Runde und ein Buch, an das ich immer wieder denke. Gerade bei der Frage Erinnern und Vergessen. Meine Einstellung vom begrabenen Riesen sehe ich hier bestätigt: es kommt immer auf die Situation an, was besser ist, eine eindeutige Antwort dazu gibt es nicht. Unsere Gesellschaft ist ja mehr ans Alles-aufarbeiten und somit Erinnern gepolt - doch es gibt Situationen (wie hier von Omeir), wo es besser ist, Dinge ruhen zu lassen. Nicht immer, klar, aber als eine Möglichkeit von mehreren.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Ich erinnere mich auch sehr gerne an die Leserunde zum begrabenen Riesen, eine Runde und ein Buch, an das ich immer wieder denke

    :write

    Geht mir ganz genauso. Ich finde überhaupt alle Bücher von Ishiguro lohnen sich ein zweites mal zu lesen. Genauso wie ich Wolkenkuckucksland gerne irgendwann noch mal lesen möchte.

  • Ich denke gerade daran herum, dass die Rahmengeschichte gar nicht so sehr inhaltlich etwas mit den ganzen einzelnen Geschichten zu tun hat, sondern allein ihre Existenz das Leben und die Entwicklung aller Beteiligten beeinflusst.

    Da stimme ich dir zu. Inhaltlich kann die große Sehnsucht Aetheons und sein Durchhaltevermögen auf der Suche nach dem Wolkenkuckucksland den Lesenden Mut gemacht haben, sich den Herausforderungen ihres eigenen Lebens zu stellen und ins Neue aufzubrechen (was alle auf ihre Arte und Weise gemacht haben). Das mag gar keine bewusste Entscheidung, ins Unterbewusste spielt ja immer sehr viel hinein.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021