David Mitchell: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

  • Sensationell


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    Wenn man mich vor zwei, drei Jahren gefragt hätte, ob ich einen siebenhundertseitigen Roman lesen möchte, der von Niederländern handelt, die zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts auf einem Handelsposten vor Japan leben, hätte ich möglicherweise gegengefragt, ob nicht eine Geschichte über das Sozialverhalten der griechischen Landschildkröte vorrätig ist, das fände ich spannender. Aber diese Geschichte von den Holländern in Japan ist von David Mitchell, und sie ist nicht nur ganz besonders erzählt, was mir wie eine maßlose Untertreibung vorkommt, sie ist außerdem auch noch irre spannend, äußerst vielschichtig, überbordend detailreich, oft sensationell lustig, gnadenlos tragisch, mysteriös und geheimnisvoll, sie ist aber vor allem und ganz schlicht wie nichts sonst. Und sie ist von Mitchell, dem Meister, der mit jedem großen Werk sozusagen von vorne anfängt und es anders als vorher versucht, zugleich aber immer weiter an seinem eigenen Kosmos arbeitet.


    Der noch recht junge Jacob de Zoet tritt eine Stelle als Sekretär und Buchhalter in der Faktorei Dejima an, dem niederländischen Handelsposten vor Nagasaki, der sich auf einer künstlichen, dem Festland vorgelagerten Insel befindet. De Zoets Hauptaufgabe wird zunächst darin bestehen, die Korruption des vorherigen Leiters des Handelspostens zu beweisen. Japan ist hermetisch abgeschottet und wehrt sich energisch gegen alle Einflüsse von außen, Christen werden verfolgt, das Shogunat ist strikt hierarchisch, energisch und kompromisslos, aber die holländischen Händler werden geduldet, genießen einen Sonderstatus, und tatsächlich ist man an westlicher Medizin und Heilkunst durchaus interessiert. Eine der (nicht eben wenigen) Figuren auf der künstlichen Insel und bald so etwas wie ein Freund von de Zoet ist Doktor Marinus, ein Aufgeklärter und Atheist, der unter anderem japanische Famuli unterrichtet, die von ihm in die Chirurgie eingewiesen werden. Der Umgang miteinander ist allerdings streng reglementiert und folgt jederzeit japanischen Regeln und Gebräuchen – Dreh- und Angelpunkt und mächtiger Transmissionsriemen der Angelegenheit sind die japanischen Dolmetscher, zwischen denen (wie eigentlich zwischen allen Japanern) mehr oder weniger subtile Machtkämpfe stattfinden. Eine Besonderheit bei Dr. Marinus originellen Medizinvorlesungen besteht darin, dass einer der Lehrlinge weiblich ist: die talentierte Hebamme Abigawa Orito, deren Gesicht seit einem Unfall mit siedendem Öl halbseitig entstellt ist, und die deshalb als unverheiratbar, also als verzichtbar gilt. De Zoet, auf den zu Hause und damit für die fünf Jahre seiner Verpflichtung die versprochene Kaufmannstochter Anna wartet, verliebt sich beim ersten Zusammentreffen.


    Die extrem vielschichtige und sehr, sehr personalreiche Erzählung beginnt hier erst, und sie führt unter anderem in eine Art Bergkloster, auf eine britische Fregatte und an andere Orte, doch im Kern steht der insulare Mikrokosmos mit seiner Relaisfunktion zwischen den Welten, Religionen und Kulturen. David Mitchell hat für diese Erzählung einen Stil gewählt, der mich beim Lesen unaufhörlich verblüfft und begeistert hat, nicht nur durch die sensationell klugen und oft wahnsinnig witzigen Gedankeneinschübe seiner Figuren, zwischen deren Perspektiven er ständig wechselt, sondern vor allem durch die enorme Einfühlsamkeit, den exzellent nuancierten Duktus und nicht weniger als die größtmögliche Sprachgewalt selbst. Es gelingt dem Autor, der für mich zweifelsfrei zu den besten der Welt gehört, mich außerdem für ein Sujet zu begeistern, das eigentlich weit außerhalb der Interessenssphäre läge, aber Mitchell wäre nicht Mitchell, wenn das einfach nur ein fetter historischer Roman rund um eine Liebesgeschichte im Japan des achtzehnten Jahrhunderts wäre. Seine favorisierten Themen – Reinkarnation, Unsterblichkeit und Metaexistenz – spielen natürlich auch wieder ihre Rollen, und auch die mystisch-mysteriöse Komponente kommt deshalb nicht zu kurz. Drumherum ist „Die tausend Herbste“ aber vor allem ein fantastisch erzählter, prachtvoller und sehr spannender, enorm wissensreicher Roman, der sich liest, als wäre er mittendrin entstanden. Zwischen Dreck, Rassismus, Misstrauen, Kurzlebigkeit, Opulenz, Gier, Trunksucht und Ehrenhaftigkeit ragt die Hauptfigur als tragischer Held aus dieser Geschichte, der man höchstens vorwerfen könnte, dass sie ohne die letzten Seiten (die auch so betitelt sind) mindestens genauso gut wäre.


    Mitchell hat übrigens selbst jahrelang in Japan gelebt und ist mit einer Japanerin verheiratet. Einer der vielen Namen für die Nation ist „Land der tausend Herbste“, daher der Titel des Romans. Den Rowohlt wunderbarerweise noch in gedruckter Form vorhält, aber leider wird das (recht teure) Taschenbuch im On-Demand-Verfahren hergestellt, und das bedauerlicherweise nicht in allerbester Qualität.

    ASIN/ISBN: 3499255332

  • Ergänzung: Die historisch-poetische Bezeichnung "Land der tausend Herbste" für Japan bezieht sich aber nicht auf Wetter- oder Naturphänomene, sondern ist eine Metapher, die übersetzt wohl "Land des ewigen Bestehens" oder ähnlich lauten würde.


    Salonlöwin Ups. Ich hatte - wie immer vor dem Posten einer Besprechung - eine Forensuche durchgeführt, diesen Thread aber leider nicht gefunden. Danke für den Hinweis und die Zusammenführungsbitte!

  • Die tausend Herbste... war mein erster Mitchell. Eine dringende Empfehlung meiner Mutter, die mir und meinen Geschwistern mit den Worten 'Das müsst ihr lesen!' - ok, sie sagte es auf Niederländisch - in die Hand drückte. Thematisch weckte es nicht das geringste Interesse bei mir, es blieb deswegen lange liegen.
    Als mein erster Mitchell, hatte ich durchaus meine Probleme damit. Klar, unfassbar gut geschrieben, aber gerade deswegen hatte ich häufig das Gefühl nur Bruchteile von dem mitzubekommen, was Mitchell alles unterbringt. Trotz der vielen Seiten, ist es so verdichtet, stecken in jeder Szene, jedem Satz so viel drin, dass es mir immer mal wieder zu viel wurde.
    Jetzt wo ich Mitchell besser einschätzen kann, würde ich wahrscheinlich einiges mehr mitnehmen können, dieses steht deswegen auf meiner doch noch mal lesen, ganz oben. Aber da warten ja noch die anderen Mitchells und vieles andere auch...

    Tom Du wirst vermutlich demnächst gleichziehen? Neben denen die Du jetzt gelesen hast, habe ich noch Slade House gelesen und seit Anfang des Jahres stecke ich in Number9Dream fest - aber irgendwie bin ich da noch nicht richtig reingekommen und dadurch kommt immer wieder was anderes dazwischen.
    Sehr gespannt bin ich hingegen auf das, woran er gerade arbeitet, was hoffentlich bald rauskommt.
    Mitchell April 25:
    And to anyone waiting for the new novel, thanks for your patience, too. Sorry it's taking so long. It's the strangest, trickiest fish I've ever tried to land, but hopefully it'll be worth the wait. Home straight now.