Nancy Huston - "Ein winziger Makel"

  • Ich wollte ein Buch von einer Autorin rezensieren, die in Deutschland noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geniesst: "Ein winziger Makel", von Nancy Huston.
    Originaltitel: "Lignes de faille" Dieses Buch hat den "Prix Femina 2006" in Frankreich gewonnen, einer der bekanntesten französischen Buchpreise.


    Die Autorin:
    Nancy Huston wurde 1954 in Calgary / Canada geboren. Seit 1973 lebt sie in Paris und hat mehrere preisgekrönte Romane veröffentlicht. Sie schreibt auf Französisch.


    Die Geschichte:
    Erra, Sadie, Randall, Sol.
    4 Kinder, 4 Kindheitsgeschichten, 4 verschiedene Generationen, 1 Familie.
    Erra ist Sols Urgrossmutter. Erra, das kleine Mädchen mit der schönen Stimme wächst noch in Hitler-Deutschland heran, Sadie, das verschüchterte Mädchen das bei seinen strengen Grosseltern gross wird sehnt sich nach seiner Mutter, Randall erkennt weit weg von zu Hause schon zu früh was Hass bedeutet, und Sol lernt in Bushs Amerika zu früh wie man die amerikanischen "Werte" verkörpert.
    Ein spezielles Muttermal ist der "winzige" Makel, der für alle 4 Kinder eine sehr verschiedene Bedeutung annehmen wird, und am Ende wird sogar ein quälendes Familiengeheimnis aufgedeckt.


    Meine Meinung:
    Ein tolles Buch, sowie Familienportrait ohne Verschönerungen, wie auch Zeitkritik. Es geht um Fremdenhass, aber auch um Zugehörigkeit zu einer Familie, etwas das tief in unserer Identität verhaftet ist, so schmerzvoll es sein möge.
    Trotz der ernsten Thematik ist es aber auch keine "schwierige" Lektüre (obwohl Sols "Geschichte" sehr krass ist...), und auch der schnörkellose, fast poetische Stil der Autorin macht das Buch zu einem Erlebnis das man nicht so schnell vergisst.
    Ich würde 10 out of 10 points vergeben.


    EDIT: Das Buch erscheint auf Deutsch im Januar 2008.

  • Hallo Cookiemonster,
    hast du das Buch auf englisch gelesen? Dann hänge in so einem Fall bitte immer einen Beitrag unten an, dass du es auf englisch gelesen hast und füge die englische ISBN im zweiten Beitrag ein. Das deutsche Buch ist nämlich noch nicht erschienen und unterliegt deshalb der Rezensions-Sperrfrist :wave

  • Oh, sorry!
    Hab ich gar nicht bemerkt dass es noch nicht erschienen ist - ich habe das Buch auf Französisch gelesen.
    Ich ändere das mal kurz!
    Wenn ich es erst rezensieren darf wenn es in D veröffentlicht wird bitte ich um Schliessung/Löschung des Threads. Ich habe meine Rezi gespeichert, und kann die im Januar nochmal posten!
    :wave

  • Ein winziger Makel – Nancy Huston


    Rowohlt, 2008, 367 Seiten


    Originaltitel: Lignes de faille
    Deutsch von Uli Aumüller und Claudia Steinitz


    Klappentext:
    Der sechsjährige Sol, die sechsjährige Erra: In wie unterschiedlichen Lebenswelten wachsen sie auf! Sol, verwöhnt, altklug und öfter im Internet unterwegs, als seine gluckenhafte Mutter erfahren darf, lebt in jenem Land, in dem «Gott mit Bush befreundet ist». Erra, das glückliche Mädchen mit der Wunderstimme, das in Trümmern spielt, salutiert noch vor Adolf Hitler. Erra ist Sols Urgroßmutter. Über Generationen sind die beiden verbunden, und dennoch liegt in dieser Genealogie ein unentdecktes Geheimnis vergraben. Was ist etwa mit dem hässlichen Muttermal an Sols Schläfe, das er sich wegoperieren lässt? Was mit dem grenzenlosen Hass seines Vaters? Niemand setzt sich auf dieselbe Weise an den Tisch der Geschichte, und Lüge, Untreue und Verrat bestimmen die Art, wie sie in dieser Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es bleibt den aufmerksamen Kindern überlassen, die Brüche und Verwerfungen in den Erzählungen ihrer Eltern zu deuten. Und so, mit Hilfe ihrer klaren, nur scheinbar naiven Stimmen führt uns Nancy Huston über vier Generationen und durch mehrere Kontinente ins Zentrum des diesem Roman zugrunde liegenden Rätsels. «Ein winziger Makel» ist ein spannendes, raffiniert und originell konstruiertes Buch, zeitkritisch, politisch, aber auch sehr intim und berührend.


    Zur Autorin:
    Nancy Huston wurde 1953 in Calgary/Kanada geboren. Seit 1974 lebt sie in Paris.
    Sie ist mit dem Linguisten und Philosophen Tzvetan Todorov verheiratet und hat zwei Kinder. Huston
    hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht; für ihr Werk wurde sei in Kanada u. a. mit dem
    Governor General’s Award for Fiction und in Frankreich mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet.
    Für «Ein winziger Makel» erhielt sie 2006 den Prix Femina; das Buch war in Frankreich ein Nr. 1-Bestseller.


    Zu den Übersetzern:
    Uli Aumüller übersetzte Teil 1 und 4. und hat u.a. bereits Camus, Milan Kundera und Siri Hustvedt übersetzt.
    Claudia Steinitz, übersetzte aus dem Französischen und Italienischen u. a. Gabriele D'Annunzio, Henri-Frederic Blanc, Gerald Messadie und Jean-Christophe Rufin
    Sie übersetzte Teil 2 und 3.


    Meine Meinung:
    Ein geschickt konstruierter Roman mit 4 Teilen, in denen jeweils ein Mitglied der Familie jeweils als Kind im Mittelpunkt steht. Also ein Generationsroman. Das reizvolle ist, dass die Handlung rückwärts erzählt wird. Also der Urenkel erzählt den ersten Teil, seine Mutter den zweiten, seine Großmutter den dritten und die UGM den letzten.


    Die Kapitel sind nach den Namen der Erzähler benannt;
    1. Sol, 2004
    2. Randall, 1982
    3. Sadie, 1962
    4. Kristina, 1944-1945


    Alle Erzähler sind in ihrem Abschnitt fünf bis sechs Jahre alt, aber nie gibt es eine Perspektive, die der eines geläufigen Kindes gleicht. Alles Putzige entfällt.
    Es gibt auch ein Ungleichverhältnis in der Wahrnehmung zwischen Kind und Eltern, besonders im ersten Abschnitt. Der sechsjährige Sol wird von seiner Mutter verhätschelt und hält sich selbst für ein Genie. Während seine Mutter ihm verbietet Bambi (zu traurig) oder die Simpsons (zu roh) im Fernsehen anzusehen, surft er bereits heimlich auf den härtesten Porno- und Gewaltseiten im Internet und hat auch in seinem Denken schon eine weltverachtende Sprache aufgenommen.


    Der Erzählstil wechselt mit den nächsten Kapiteln genauso wie die Zeiten stark.
    Durch das Rückwärtserzählen erschließt sich einiges in den nachfolgenden Kapiteln.
    Ein wenig Geduld beim Lesen und manchmal zurückblättern ist also erforderlich.


    Der letzte Abschnitt ist der stärkste. Hier wird das lange vorbereitete, eigentliche Thema, über das ich besser nicht zu viel verrate (außer, dass es bis nach Deutschland führt), endlich vollständig ausgeführt und der Roman erhält eine große Tiefe. Sehr lesenswert.

  • Meine Meinung:


    Nancy Huston zeichnet mit „Ein winziger Makel“ Lebensausschnitte von vier Vertretern aufeinander folgender Generationen, zwischen denen ziemlich genau 20 Jahre Altersunterschied liegen. Bemerkenswert ist nicht nur die umgekehrte Reihenfolge, die sie vornimmt, also vom Jungen Sol im Jahr 2004 bis hin zu seiner Urgroßmutter, die während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland lebte, sondern auch der gewählte Lebensabschnitt. Der Leser begleitet alle Personen (Sol, sein Vater, seine Großmutter und seine Urgroßmutter) in einem Zeitausschnitt aus ihrem 6. bzw. 7. Lebensjahr und zwar aus deren eigener Perspektive.


    Sprachlich anspruchsvoll, doch niemals anstrengend wird die Gegenwart 2004 so Stück für Stück aus der Vergangenheit heraus erklärt, langsam entfaltet sich ein sehr persönliches Bild der Generationen, die von ihrer jeweils eigenen Vergangenheit geprägt sind und so Einfluss auf die Gegenwart und Zukunft haben. Durch den Blick in die Kindheit der vier Protagonisten erscheinen viele Verhaltensweisen, Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale in einem anderen, komplexeren Licht. Dass ausgerechnet Sol, der amerikanische Junge in der Gegenwart, der in einem vergleichsweise friedlichen Umfeld aufwächst, eine Figur ist, die Antipathie, Ekel und Abscheu hervorruft, während seine Vorfahren teilweise unter harten Bedingungen in einer unmenschlichen Zeit ums Überleben kämpften und sich doch über die Jahrzehnte hinweg bis in die Gegenwart hinein ihre Menschlichkeit bewahrt haben, stimmt nachdenklich und traurig. Ein besonderes und anspruchsvolles Lesevergnügen, das in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft blickt und dabei immer auf die Gedanken, Gefühle und Erleben des Einzelnen fokussiert.


    Da ich den ersten Teil aufgrund der Hauptfigur nur mit Widerwillen gelesen habe, vergebe ich „nur“ 8 Punkte.

  • milla, kannst Du sagen, woran genau Du Dich bei der ersten Hauptfigur (Sol?)
    gestoßen hast?
    Ist sie unrealistisch beschrieben, oder war sie Dir persönlich einfach unsympatisch (das habe ich nämlich manchmal)
    Ansonsten klingen Eure Rezensionen nämlich wirklich gut :-]und ich, wie sollte es anders sein, überlege, ob ich es lesen sollte... :-)


    gespannte Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Elbereth ()

  • @ Elbereth
    Um nicht zu viel zu verraten, halte ich es mal etwas allgemein: Dieser sechsjährige Junge ist ein Ausbund an Perversität und Menschenverachtung und das auch noch gerne.


    Öhm, ich glaube das war deutlich. :grin Beispiele liefere ich gerne auf Wunsch als Spoiler nach - zumindest die, die ich noch nicht verdrängen konnte :gruebel


    Also, um deine Frage zu beantworten: Mir (und ich wette 99,99% aller Leser) war Sol mehr als unsympathisch und ich kann - und möchte! - auch nicht glauben, dass es tatsächlich solche 6-Jährigen gibt. Also von beidem etwas ;-)


    Trotzdem würde ich das Buch auf jeden Fall empfehlen!! Ich hatte wie gesagt nur am Anfang echte Motivationsarbeit zu leisten.

  • Zitat

    Original von milla
    Mir (und ich wette 99,99% aller Leser) war Sol mehr als unsympathisch und ich kann - und möchte! - auch nicht glauben, dass es tatsächlich solche 6-Jährigen gibt


    Ich halte Sol für verhaltensgestört, deswegen tut er mir fast schon wieder Leid. Er könnte auch anders sein. Zu seiner UGM hat er ja zum Beispiel auch ein gutes Verhältnis. Das seine Mutter ihn so überhaupt nicht als das, was er ist, erkennt, ist Schade. Dadurch kann sie seinem Verhalten nicht entgegenwirken. Das nimmt ihm ein weiteres Unrechtsbewusstsein . Dazu kommen die verherrenden Einflüsse durch schlimmste Internetseiten.
    Ich halte es nicht für so unwahrscheinlich, dass es in Fällen von Vernachlässigung so gestörte Kinder wie Sol gibt.
    Aber es stimmt schon. Sol zu mögen, ist fast unmöglich.

  • Hier muss ich doch noch mal spoilernder Weise nachfragen/nachhaken :grin

    Zitat

    Original von Herr Palomar
    Dazu kommen die verherrenden Einflüsse durch schlimmste Internetseiten.
    Ich halte es nicht für so unwahrscheinlich, dass es in Fällen von Vernachlässigung so gestörte Kinder wie Sol gibt.


  • Zitat

    Original von milla
    Hier muss ich doch noch mal spoilernder Weise nachfragen/nachhaken :grin



    Dieser Aspekt im Roman wird für mich nicht logisch aufgelöst.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Dieser Aspekt im Roman wird für mich nicht logisch aufgelöst.


    Dass Sol verhaltensgestört ist, steht außer Frage! Und auch die von dir beschriebene These von Haydon kann ich nachvollziehen, aber genau dieser fehlende Aspekt macht mir Bauchschmerzen. Es klang so, als gäbe es keinen expliziten "Grund/Auslöser" für sein Verhalten, also warum verhält sich ein Kind so? Die schlimmste (wenn wohl auch unzureichende) Vermutung wäre wohl: Langeweile. Und damit wären wir bei der Entwicklung in Generationen... Eigentlich gruselig.

  • Ich habe das Buch letzte Woche gelesen und es hat mir sehr gut gefallen, da es sich bei "Ein winziger Makel" um einen wirklich toll und interessant erzählten Familienroman handelt. Im ersten Abschnitt hatte ich noch etwas Schwierigkeiten mit dem Buch, da ich vor allem Probleme mit der Figur von Sol hatte, aber danach hat es mir immer besser gefallen.


    Ein wirklich tolles Buch und ich werde in Zukunft wohl sicherlich noch mehr von dieser Autorin lesen.