absurde Märchen

  • Es gibt hier zwar schon so einige Märchenthreads, die passten aber alle nicht so richtig zu meiner Frage:
    Mein Kind hat gerade einen Märchenfimmel, also steht jeden Abend ein Grimms Märchen auf dem Programm. Da sind dann dann nicht die üblichen Verdächtigen wie "Hänsel und Gretel", sondern solche, die sie noch nicht kennt. Und was soll ich sagen; ich finde diese Geschichten hanebüchen, unlogisch, zäh und langweilig.
    Ich meine also nicht das gerne gebetsmühlenhaft wiederholte Argument, das Märchen zu grausam seien (mein Kind labt sich an wohldosierten Grausamkeiten), nein, ich finde die einfach nur doof. Leider geht's mir mit fremdländischen Märchen (sowohl nord- als auch osteuropäischen) genauso, liegt also nicht unbedingt an den Gebrüdern Grimm.
    Empfindet jemand ähnlich oder wenn nicht, worin liegt diese Faszination an Märchen?

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Was für ein mutiges Bekenntnis!
    :anbet


    Hanebüchen, unlogisch, zäh und langweilig.


    Durchaus.
    :grin


    Ich ertrage Märchen nur unter kultursoziologischen Aspekten. Also: was sagen sie aus über gesellschaftliche Verhaltensweisen, Zielvorstellungen, Geschlechterverhältnisse, Träume, gegengesellschaftliche Entwürfe.
    Damit meine ich die sog. 'Volksmärchen'. Wobei man natürlich verflixt aufpassen muß, denn viel zu oft sagen die Texte mehr über die Leute aus, die sie uns schriftlich überliefern, und die Zeit , in der sie lebten als über da, was man so unter 'Volk' versteht.


    Anders ist es bei Kunstmärchen bzw. bei Märchen, die deutlich zeigen, daß ein älterer Stoff im Sinne eines Verfassers bearbeitet wurde.
    Daher lese ich gern Bechstein, manchmal Hauff. Bei Musäus gibt es auch echte erzählerische Perlen.
    Andersen würde ich nicht einmal mehr unter 'Märchen' zählen, es sind phantastische Geschichten, nicht selten im besten Sinn. Und eben nicht nur für Kinder gemacht.


    Andere 'Märchenautoren' sind mir zu altmodisch oder zu behäbig, zu frauenfeindlich oder zu didaktisch. Tieck, die französischen Kunstmärchen des 18. Jahrhunderts etwa, die englischen, wenn sie ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in Fantasy übergehen (George Macdonald, C.S. Lewis etc.) - damit kann man mich jagen.


    Offenbar entspricht aber die Form 'Märchen' aus der hand einer Autorin/eines Autors eher dem, was ich unter 'Geschichte' verstehe. Da gibt es eine eigene Logik, Sinn und Unsinn sind aufeinander abgestimmt. Es gibt Ansätze zu Psychologisierung.
    Vielleicht braucht man diese Komponenten beim Lesen/Vorlesen, damit man es gern liest?


    Es fällt schwer, Kurzberichte einfach hinzunehmen,
    von Ereignissen, die allen Naturgesetzen widersprechen, ohne daß eine Erklärung dafür geliefert wird.


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hallo liebe Eulen


    Jedenfalls fand ich damals als Kind den "Struwelpeter " sehr grausam und furchterregend !


    P.S. Jedenfalls finde ich dieses Buch nur widerlich und abstoßend !


    Ich weiß nicht mal ,ob es dieses Buch überhaupt noch gibt !



    L.G. teufelchen

  • Zitat

    Original von magali
    Es gibt Ansätze zu Psychologisierung. Vielleicht braucht man diese Komponenten beim Lesen/Vorlesen, damit man es gern liest?


    Du meinst sowas?


    *zitier*


    Das Reis, das der Vater Aschenputtel mitbringt, entsammt nich ihrem jetzigen Lebensbereich, sondern kommt aus dem Naturbereich, den wir auch als den Bereich der "großen Mutter Natur" bezeichnen. Das Wachstum, das dieser Pflanzenspross, der zu einem Baum werden wird, versinnbildlicht, kommt also nicht primär aus dem Bereich ihrer persönlichen guten Mutter, sondern aus der hinter ihr stehenden Natur, vermittelt durch den Vater.



    Hans-Christian Anderson mag ich heute noch ganz gern. Und die Märchen von Oscar Wilde. Aber die fallen ja auch in mein Beuteschema. :grin
    .

  • Ich mag Märchen sehr. Die von den Gebrüdern Grimm, von Anderssen und Hauff. Ich mag die französischen Feenmärchen, die russischen ganz besonders. Sehr sehr gern mag ich auch die verschiedenen Afrikanischen Märchen. Hier hat sich der Inselverlag und aber auch Kiepenheuer sehr verdient gemacht, internationale Märchen herauszugeben. Ich habe eben erneut gestaunt, wie international meine Sammlung inzwischen ist. Da finden sich neben den zahlreichen osteuropäischen Ländern Märchen der Zulu, Märchen der Khmer, Bengalische Märchen ...


    Was mich an Märchen fasziniert? - es sind Geschichten, die immer unter dem berühmten "es war einmal..." stehen. Es sind Geschichten, die in erdachten Zeiten und erdachten Reichen spielen, Beispielgeschichten, die häufig kurz und oft sehr phantasievoll eine Begebenheit erzählen, die zu schön ist, um wahr sein zu können und in der immer das gute gewinnt, weil es sich einfach lohnt, ehrlich, hilfsbereit etc. zu sein. Sehr oft wird eine gesunde Beziehung zwischen Mensch und Natur vorausgesetzt. Märchen motivieren und machen Mut, denn das sollten sie auch immer: Die Protagonisten sind fast immer einfach Leute.
    Ja, Märchen erzählen oft absurde, surreale Geschichten, aber genau das macht ihren Reiz aus und ist kulturgeschichtlich ganz einfach zu begründen. Märchen waren lange das Mittel, erzählerisch in eine schöne, heile, gute Welt reisen zu können. Sie wurden erzählt, um für eine Weile die harte Wirklichkeit des Alltags zu vergessen. Daher rührt auch die oft schlichte, unspektakuläre Sprache, die nur selten Spannungsbögen aufbaut, die fesseln. Vielmehr wird wiederholt, ruhig erzählt und mit einfachen Mitteln geredet. Auch diese einfache Sprache finde ich wunderbar an Märchen. - sie sind so schön sperrig und fügen sich so gar nicht in die moderne Welt ein.

  • Zitat

    Original von DraperDoyle
    Mein Kind hat gerade einen Märchenfimmel, also steht jeden Abend ein Grimms Märchen auf dem Programm. Da sind dann dann nicht die üblichen Verdächtigen wie "Hänsel und Gretel", sondern solche, die sie noch nicht kennt. Und was soll ich sagen; ich finde diese Geschichten hanebüchen, unlogisch, zäh und langweilig.


    Du bist schon groß, magst eben keine MÄRCHEN, der Name sagt doch schon das es hanebüchenes Zeug ist, aber schön, vor allem für Kinder, darum hab ich auch keinerlei Mitleid, wenn es dir nicht gefällt, hauptsache dein Kind hat Spaß daran :grin

  • Zitat

    Original von flashfrog
    Harry Potter, Der Herr der Ringe, überhaupt Fantasy, das ist doch nichts anderes als moderne Märchen. :-)


    ich habe lange überlegt, ob ich Märchen als traditionelle Form der Fantasy bezeichnen soll. Es gibt sehr viele Parallelen, die auffälligsten sind: Die völlig frei imaginierte Welt mit Raum und Zeit sowie der Kosmos aus Feen, Elfen, Zauberern etc. Damit verbunden ist es die Möglichkeit der Flucht in fremde Welten...
    Es gibt aber drei Unterschiede, die mich doch recht gewichtit erscheinen: Das eine ist die Entstehung. Märchen wurden von den Leuten erzählt und dann erst gesammelt. In ihrem Ursprung sind sie Volksdichtung und dann erst Kunstprodukt. Sie entspringen jeweils den Sehnsüchten der einfachen Leute.
    Sie tragen fast alle Bezüge zur wirklichen Welt und transportieren mehr oder weniger eine moralische Botschaft in sich.
    Schließlich ist einer der Hauptunterschiede im Umfang zu sehen. Die Märchen sind literarische Miniaturformen. Dies kann man von der gegenwärtigen Fantasylietratur nun wahrlich nicht sagen.

  • Zitat

    Original von licht


    ich habe lange überlegt, ob ich Märchen als traditionelle Form der Fantasy bezeichnen soll. Es gibt sehr viele Parallelen, die auffälligsten sind: Die völlig frei imaginierte Welt mit Raum und Zeit sowie der Kosmos aus Feen, Elfen, Zauberern etc. Damit verbunden ist es die Möglichkeit der Flucht in fremde Welten...
    Es gibt aber drei Unterschiede, die mich doch recht gewichtit erscheinen: Das eine ist die Entstehung. Märchen wurden von den Leuten erzählt und dann erst gesammelt. In ihrem Ursprung sind sie Volksdichtung und dann erst Kunstprodukt. Sie entspringen jeweils den Sehnsüchten der einfachen Leute.
    Sie tragen fast alle Bezüge zur wirklichen Welt und transportieren mehr oder weniger eine moralische Botschaft in sich.
    Schließlich ist einer der Hauptunterschiede im Umfang zu sehen. Die Märchen sind literarische Miniaturformen. Dies kann man von der gegenwärtigen Fantasylietratur nun wahrlich nicht sagen.



    Das mit der Volkstümlichkeit ist, zumindest zum Teil,, nur ein Märchen. :-)
    Die Grimms haben durchaus gebildeete Zuträger gehabt, die die französischen Vorilder lesen konnten, und haben die Geschichten bewusst auf alt und volkstümlich getrimmt, weil das in der Spätromantik gerade cool war.


    Der zweiter Punkt tirfft auf die meisten Fantasy-Geschichten, die ich kenne (bin kein Experte in dem Genre, zugegeben), auch zu. Es gibt übrigens auch sehr unmoralische Märchen, in denen der gewitzte Halunke gewinnt.


    Und Tausendundeinenacht ist mit ca 700 Seiten schon ein ziemlicher Wälzer.

  • @ flahfrog:
    mag sein, dass die Grimms Zuträger hatten. Aber spricht das gegen die Entstehung der Märchen im Volk? Die Grimmschen Märchen sind ein winziger Ausschnitt aus einer immensen Fülle von Märchen, die weltweit entstanden sind und da als Gattung sehr auffällige Parallelen aufweisen.


    Und was die Moral angeht - ich habe weder bei Hohlbein noch bei der Rowling noch bei dem, was ich von Tolkien mitbekommen habe, derart deutliche moralische Implikationen wahrgenommen, wie in den Märchen.


    Und dass eine Sammlung von Märchen ganz schön dick sein kann, ist nun weder überraschend noch sagt es etwas über die Länger der Texte, die eine Sammlung enthält.

  • Zitat

    Original von licht
    @ flahfrog:
    mag sein, dass die Grimms Zuträger hatten. Aber spricht das gegen die Entstehung der Märchen im Volk? Die Grimmschen Märchen sind ein winziger Ausschnitt aus einer immensen Fülle von Märchen, die weltweit entstanden sind und da als Gattung sehr auffällige Parallelen aufweisen.


    Und was die Moral angeht - ich habe weder bei Hohlbein noch bei der Rowling noch bei dem, was ich von Tolkien mitbekommen habe, derart deutliche moralische Implikationen wahrgenommen, wie in den Märchen.


    Und dass eine Sammlung von Märchen ganz schön dick sein kann, ist nun weder überraschend noch sagt es etwas über die Länger der Texte, die eine Sammlung enthält.


    Die Parallelen erklären sich eben zum Teil dadurch, dass eine der Damen, die den Grimms viele der Märchen erzählt hat, diese z.B. aus französichen Büchern hatte, und nicht aus dem "Volk".


    Und was mich an Fantasy stört, ist gerade die Phantasielosigkeit der einfachen Gut-Böse-Zuschreibungen. Rowling ist da etwas moderner in ihren letzten Bänden.


    Hast du 1001 Nacht gelesen? Das ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Einzelgeschichten wie bei den Grimmschen Sammlungen. Die Geschichten sind ja ineinander verwoben und mit einander verknüpft zu einem Textgewebe.
    Bei der Odyssee als Mythensammlung sehe übrigens auch interessante Parallelen.


    Achja, und dann gab es noch das Sommermärchen letztes Jahr. Auch kein Zufall, das so zu benennen (auch wenn die Guten am Ende nicht siegen :lache).

  • Delphin


    nein, das ist ein Mißverständnis. Ich meine nicht eine psychologische Deutung von dem, was man als 'Märchen' bezeichnet, sondern daß ich gern Texte lese, in denen mir das Verhalten der Personen näher gebracht wird.
    Ein Einblick in ihr Seelenleben, was sie empfinden. Das wil ich wissen.


    In Märchen hat man eine Hauptfigur, die macht erst das und dann das und dann das dritte, daraufhin passiert etwas und daraus folgt das vierte.
    Auf der emotionalen Ebene bekommt man nur Gefühlskomplexe, Angst, Liebe.
    Holzschnittartig, wie man so sagt.


    Es sind sehr viel ältere Erzählformen, das ist auch ungewohnt.


    Da hier die Frage der Moral aufgeworfen wurde, die in Märchen überliefert wird: eben hier ist höchste Vorsicht angebracht.
    Was wir kennen, ist zunächst die Moral derjenigen, die die Märchen gesammelt haben bzw. sie erzählen.
    Gerade an der Überlieferung der Grimm'schen Märchen sieht man das gut.
    Sie sind schon durch die Sammler bearbeitet und werden im Lauf des 19. Jahrhunderts immer kuscheliger.
    Die Auswahl der Geschichten wurd auch immer enger. Die Kanonisierung schadet deutlich. Und die Anpassung an Kinderwelt.
    Märchen sind eigentlich nicht spezifisch für Kinder erfunden.



    Ob wir das Gut-Böse-Schema, die ewige Totschlagerei von 'Feinden', die ewige böse Hexe-Schwiegermutter-Königin und die öde Dauer-Erlösung einer Jungfer in Nöten durch einen Helden eigentlich noch brauchen, müßte man auch fragen.


    Es gibt genug Versuche, diese Typisierungen zu durchbrechen. Ein Gutteil der Märchenüberlieferung, die wir gewöhnt sind, ist einfach nur noch verstaubt und verzopft.


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • @ magali: danke für die guten klärenden Hinweise :), richtig deutlich wird, was Du schreibst für mich bei der Lektüre der Märchen aus Asien und Afrika...

  • Zitat

    Original von magali
    Delphin


    nein, das ist ein Mißverständnis. Ich meine nicht eine psychologische Deutung von dem, was man als 'Märchen' bezeichnet, sondern daß ich gern Texte lese, in denen mir das Verhalten der Personen näher gebracht wird.
    Ein Einblick in ihr Seelenleben, was sie empfinden. Das wil ich wissen.


    Ah! Ja, geht mir genauso. :knuddel1

  • Zitat

    Original von licht


    ich habe lange überlegt, ob ich Märchen als traditionelle Form der Fantasy bezeichnen soll. Es gibt sehr viele Parallelen, die auffälligsten sind: Die völlig frei imaginierte Welt mit Raum und Zeit sowie der Kosmos aus Feen, Elfen, Zauberern etc. Damit verbunden ist es die Möglichkeit der Flucht in fremde Welten...
    Es gibt aber drei Unterschiede, die mich doch recht gewichtit erscheinen: Das eine ist die Entstehung. Märchen wurden von den Leuten erzählt und dann erst gesammelt. In ihrem Ursprung sind sie Volksdichtung und dann erst Kunstprodukt. Sie entspringen jeweils den Sehnsüchten der einfachen Leute.
    Sie tragen fast alle Bezüge zur wirklichen Welt und transportieren mehr oder weniger eine moralische Botschaft in sich.
    Schließlich ist einer der Hauptunterschiede im Umfang zu sehen. Die Märchen sind literarische Miniaturformen. Dies kann man von der gegenwärtigen Fantasylietratur nun wahrlich nicht sagen.


    Da möchte ich noch hinzufügen (als eine, die ab und zu Märchen schreibt und auch gerne liest), dass in Märchen sich die Sprache sehr stark von der Fantasy-Literatur unterscheidet. Märchen sind fast immer in der auktorialen Form erzählt.
    Denn bei Märchen kommt es auf das Erzählen an, weshalb sie, bei einem guten Erzähler, vorgetragen noch besser wirken, als wenn man sie selbst still für sich liest.


    Zu den Unterschieden: Märchen arbeiten viel mit Metaphern. Ich habe mal ein Buch gelesen, das Märchen analysiert und erklärt, den Titel weiß ich leider nicht mehr (Das Mädchen mit den Zündhölzern wurde dort z. B. sehr schön anbalysiert), aber es war sehr interessant.



    edit: Tippfehlerteufelchen ausgemerzt