Drachen der Finsternis - Antonia Michaelis

  • Die Idee eine Liste mit Drachenromanen zuerstellen finde ich ganz reizvoll.
    Wäre es aber nicht sinnvoller dazu einen Thread in Allerlei Buch zu eröffnen? Dann wären die Empfehlungen für alle leichter zu finden. ;-)

    "Das Schicksal macht Fehler. Eigentlich sogar ziemlich oft. Es kommt nur selten vor, dass jemand in der Lage ist, es auch zu bemerken."
    aus Eine Hexe mit Geschmack von A. Lee Martinez

  • "Drachen der Finsternis" ist wirklich ein wunderschönes Buch!


    edit: Sorry ... ich habs nicht so mit dem Lesen von Regeln :grin
    Hier also die komplette Rezi:


    Selten bin ich bereit, ein Buch allein wegen des Schreibstils zu lesen oder gar zu empfehlen. Aber hier würde ich das wohl tun müssen, selbst wenn der Inhalt nicht ebenso gut wäre.


    Aber ich fang erstmal mit der Handlung an: Arne, der ältere Bruder des 14-jährigen Christopher, reist nach dem Schulabschluss nach Nepal und verschwindet dort. Offenbar wurde er von aufständischen Maoisten entführt. Christopher möchte ihm helfen, weiß aber nicht wie. Beim Betrachten eines Bildbandes über Nepal findet er sich plötzlich im Urwald in Nepal wieder - und begegnet Jumar, dem aus unbekannten Gründen seit seiner Geburt unsichtbaren Sohn des nepalesischen Königs. Jumar, ebenfalls 14, ist aus dem Palast des Königs weggelaufen, um den Anführer der Maoisten zu töten - seine Unsichtbarkeit verschafft ihm dabei einen großen Vorteil. Christopher und Jumar machen sich gemeinsam auf die Reise durch den Himalaya, denn sie haben dasselbe Ziel: Das Basislager der Aufständischen. Unterwegs begegnen sie vielen Gefahren und werden sehr enge Freunde. Sie sehen, was die Drachen anrichten können: Sie fressen die Farben der Welt, und wer ihren Schatten berührt, wird zu einer Bronzestatue verwandelt. Mit der Zeit kommen sie zahlreichen Geheimnissen auf die Spur, die alle miteinander in Verbindung stehen - Jumars Unsichtbarkeit, die mal nützlich, mal hinderlich ist und die Herkunft der Drachen und vieles andere.


    Das Buch ist etwas für fantasievolle Menschen. Es wird nicht alles aufgeklärt, Fragen bleiben offen, und man muss für sich selbst entscheiden, was denn nun wirklich passiert ist und was ist. Denn man fragt sich als Leser immer wieder: Was ist denn nun Traum, und was Realität? Und man fragt sich, ob ein Buch wirklich in allen Punkten den Gesetzen der Logik folgen muss. Die Zielgruppe sind sicher hauptsächlich Jugendliche, aber auch als Erwachsener kann man viel Freude daran haben. Antonia Michaelis beschreibt sehr feinfühlig das Grauen von Krieg und Not. Ohne moralischen Hammer gelingt es ihr, eine Botschaft zu vermitteln. Sie stößt den Leser nicht in irgendeine Richtung, sondern überlässt ihm die Entscheidung über richtig und falsch und teilt die Welt nicht in Gut und Böse.
    Wie ja schon oben erwähnt, ist der Schreibstil einsame Spitze. Ich habe selten so gerne gelesen und so sehr die einzelnen Sätze genossen wie hier. Von den Buchstaben geht eine fast magische Wirkung aus, die die Augen förmlich ans Papier fesselt ^^ Das und die wunderschöne Handlung, die mich teilweise zu Tränen rührte, machen "Drachen der Finsternis" zu einem ganz besonderen Leseerlebnis.

    :lesend
    "Wo Bücher verbrannt werden, werden früher oder später auch Menschen verbrannt"

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  • Die ganze Bewunderung des vierzehnjährigen Christopher gilt seinem großen Bruder Arne. Damit steht er nicht allein, alle Welt bewundert Arne. Gleich, was er anpackt, beim Sport, beim Lernen, in der Freizeit, es gelingt ihm. Christopher dagegen gelingt kaum etwas. Bis jetzt ist es ihm nicht einmal gelungen, bei anderen einen wie auch immer gearteten Eindruck zu hinterlassen. Im besten Fall ist er ‚der kleine Bruder von Arne‘. Natürlich fanden es alle ganz richtig, ja, ausgezeichnet, daß Arne nach dem Abitur nach Nepal ging, für ein Jahr. Klar, daß nur Arne auf eine so faszinierende Idee kommen konnte. Was konnte Nepal Besseres passieren?


    In Nepal passierte eine ganze Menge und auf Arne hat bestimmt keiner gewartet. Im Gegenteil. Statt strahlender Held zu werden, wurde er entführt, von Maoisten, sagt man. Sicher ist das nicht. Es ist nicht einmal sicher, wo Arne geblieben ist, es gibt keine Spur mehr von ihm. Christopher und seine Eltern stehen unter Schock, jeder versucht, auf eigene Art mit dem Schrecken fertig zu werden. Christopher z.B., indem er sich mit Nepal beschäftigt. Er holt sich einen Bildband darüber aus der Bibliothek. Als er wieder einmal darin blättert, geschieht etwas Seltsames. Der Dschungel auf dem Foto wird Realität. Christopher ist in einer anderen Welt.


    In Nepals Hauptstadt, im Königspalast, gibt es viel zu bewundern, Kunstschätze, einen wundervollen Garten. Das Seltsamste ist die Königsfamilie. Die Königin schläft einen Dornröschenschlaf, aus dem sie niemand wecken kann, der Prinz, eben vierzehn Jahre alt, ist unsichtbar. Der König wacht streng darüber, daß niemand davon erfährt.
    Außerhalb der Stadt, in den Bergen, sammeln sich Aufständische. Sie wollen den König stürzen. Eines Tages hat der unsichtbare Prinz genug von seinem goldenen Gefängnis und bricht aus. Als er vom Aufstand hört, beschließt er, in die Berge zu gehen, die Aufständischen aufzusuchen und ihnen zu erklären, daß die Königsfamilie es beileibe nicht böse meint. Der Weg aus der Stadt gelingt ihm leicht, schließlich ist er unsichtbar. Und dann trifft Jumar im Dschungel Christopher.


    Das ist der bereits sehr dicht gesponnene Anfang einer langen Geschichte, in der Bruderliebe, Weltrettungsmotive und farbige Märchen aufeinandertreffen. Erzählt ist es sehr, sehr spannend, konsequent in der Zeichnung der beiden Teenager und in der Ausgestaltung der Märchenmotive. Bemerkenswert neben der Idee, eine über weite Strecken der Handlung unsichtbare Figur als Protagonisten mitzuführen, sind die Bilder, die Michaelis zu fantastischen Gestaltung der herrschenden realen Armut im Land benutzt. Einzigartig ist ihre Schöpfung der titelgebenden Feuerdrachen. Ihre Entstehung und Bedeutung ist eine erzählerische Schöpfung, die in der internationalen Fantasy ihresgleichen sucht.


    Schwierig wird die Geschichte da, wo Michaelis versucht, mit Landesgeschichte und aktuelle Politik einzuflechten. Der Anlaß für die Geschichte überhaupt scheint eine Reise der Autorin nach Nepal gewesen zu sein. Sie ist der Realität aber noch zu nah, so manches ist noch nicht in Fiktionales umgesetzt. Was Christopher erlebt, etwa in puncto Essen, gleicht eher einer Reisebeschreibung als einem Roman. Das gilt auch für die eine und andere Landschaftsbeschreibung. Michaelis ist versiert genug, daß es nicht übermäßig langweilig wird, aber man merkt den Unterschied bei der Lektüre.


    Was die politischen Verhältnisse Nepals angeht, bemüht sie sich ehrlich, gut und böse nicht allzu schlicht einzuteilen, stolpert aber letztlich über die üblichen Vorurteile. Politik ist ihr sichtlich fremd, komplexe Ideen, wie z.B. der Kommunismus und dann noch maoistischer Prägung, grundsätzlich. Das führt – sicher ungewollt – zu zusätzlicher Mythenbildung bzw. der unsinnigen Verbreitung uralter alberner Legenden über den Kommunismus – etwa: alle Menschen seien gleich - in diesem Roman.
    Am Ende verpaßt sie deswegen auch, den vielen neuen Ansätzen und Möglichkeiten ihrer Geschichte das dazu passende mögliche originelle Ende zu geben. Statt einer Synthese von Neu und Alt und einem offenen Schluß, setzt sie auf das Alte. Blaues Blut weiß es eben am besten. Zuletzt wird alles rundum ins Reich der Träume und der Phantasie verwiesen. Ein langweiliger Abschluß eines groß angelegten Abenteuerromans.


    Am besten liest man diesen Roman als die Geschichte einer Bruderliebe mit Märchenelementen. Dann ist er wunderbar. Als Beitrag zur politischen Situation, auch nur als Metapher dafür, verursacht er eher Zahnweh. In diesem Zusammenhang wirken dann auch einige moralische Zwickmühlen, wie sie Michaelis ihre Helden und Heldinnen gern durchleiden läßt, aufgebauscht und wenig überzeugend.


    Spannende Lektüre, die eine aber mit äußerst zwiespältigen Gefühlen zurückläßt.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus