OT: Het boek van alle dingen 2004
Das Buch von allen Dingen gehört dem neunjährigen Thomas. Er notiert darin alles, was ihn bewegt. Das ist nicht wenig, denn zum einen sieht Thomas Dinge, die sonst niemand wahrnimmt. Zum anderen leidet er unter einer bösen Familiensituation. Sein Vater ist ein strenggläubiger Christ, der seinen Überzeugungen regelmäßig mit Prügel Nachdruck verleiht. Gott, den Thomas um Hilfe anfleht, bleibt stumm. Und Thomas sieht wunderschöne tropische Fische in der Gracht schwimmen und hört, wie die Engel weinen.
Eines Tages erlebt er auch die Magie der Nachbarin, Frau Van Amersfoort. Sie zähmt einen großen, fremden Hund, der Thomas immer Angst einjagt. Daß sie das kann, liegt daran, daß sie eine Hexe ist. Das jedenfalls behauptet Thomas’ Vater. Er hat dem Jungen verboten, mit der Nachbarin zu sprechen. Nach der Sache mit dem Hund weiß Thomas aber, daß Frau Van Amersfoort eine gute Hexe ist. Deswegen trägt er auch ihre Einkaufstasche nach Hause. Dort geschehen merkwürdige Dinge. Es gibt rote Limonade, und wenn sie eine Schallplatte auflegt und der Musik lauscht, erhebt sich ihr Sessel in die Luft. Frau Van Amersfoort scheint es überhaupt nicht zu stören, wenn Thomas von den seltsamen Dingen spricht, die er sieht. Selbst als er ihr gesteht, daß ihn Jesus gelegentlich besucht und sich mit ihm unterhält, sagt sie nur: „Da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt.“
Daß Thomas die ägyptischen Plagen herbeirufen kann, wenn er will, hat sie aber bestimmt noch nicht erlebt. Denn das tut er, als sein Vater immer häufiger seine Mutter schlägt. Das Wasser im Aquarium färbt sich rot, und eines Nachts tauchen Tausende von Fröschen auf. Gut, daß Frau Amersfoort inzwischen die Geschichte mit den Prügeln aus Thomas herausgelockt hat und eigene Maßnahmen ergriffen. Jesus sagte ja nur: „Mein Name ist Hase.“ Obwohl er wirklich großes Verständnis für Thomas hat, bekanntlich hat er selbst beträchtliche Probleme mit seinem Vater.
Am Ende gibt es einen Vorleseclub, in der Wohnung von Thomas Eltern, egal, was sein Vater sagt. Die Frauen, seine Mutter, seine Tanten, Nachbarinnen, Freundinnen haben sich zusammengetan. Sie haben keine Angst mehr. Man kann handeln, das hilft gegen die Angst. Wenn man keine Angst mehr hat, kann man glücklich werden. Glücklich sein ist Thomas größter Wunsch für die Zukunft. Und so, wie es aussieht, hat er die besten Chancen, es zu werden.
Dieses sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland mehrfach preisgekrönte Kinderbuch gehört zu den eigenartigsten, die ich je gelesen habe. Die Geschichte ist schlicht und geradlinig erzählt, aber so vielschichtig, daß sie beim Lesen geradezu schillert. Die eigentliche Handlung spielt 1951. Es gibt auch eine Art Rahmenhandlung dazu. Der Autor berichtet, daß er eigentlich ein anderes Buch habe schreiben wollen, als ihn ein Mann besuchte, der ihm von seiner Kindheit erzählte und von seinem Bedürfnis, glücklich zu werden. Dieser Mann stellt sich als der erwachsene Thomas heraus.
Angesprochen werden in der Geschichte neben häuslicher Gewalt auch Behinderung, die Besetzung der Niederlande im Krieg (der Mann von Frau Van Amersfoort war im Widerstand und wurde von den Nazis ermordet), den Umgang mit Feinden, die Bedeutung von Literatur (ist die Bibel das einzige Buch?) und Wahrheit, Liebe, die Rolle des christlichen Glaubens, das Verhältnis unter Geschwistern (Thomas hat eine ältere Schwester, Margot, die eine wichtige Rolle spielt), das Verhältnis von Männern und Frauen, die Frage von ‚Schönheit’ und die Bedeutung der Phantasie. Und noch einiges mehr. Das Buch von allen Dingen eben.
Nacheinander aufgezählt klingt es schwerfällig, aber das ist das Buch in keiner Weise. Es ist eine bunte, phantasievolle und phantastische Fabel, die zugleich völlig realistisch ist.
Sie enthält eine der abstoßendsten Prügelszenen, die je formuliert wurden. Ihr Gegenstück, das radikale Eingreifen von Thomas’ Schwester in der zweiten Hälfte des Romans, ist gleichermaßen grausam. Der Einsatz der Plagen Ägyptens erzeugt einen erstaunlichen Gruseleffekt, weil man ganz in Thomas’ Gedankewelt eingetaucht ist. Die Auftritte von ‚Jesus’ sind voller Witz und zugleich anrührend, weil er so sehr Thomas ist.
Es gibt literarische Querverweise auf Erich Kästner und ‚Heimatlos’, den französischen Kinderbuchklassiker von Hector Malot (erstmals erschienen 1878) sowie auf die witzigen Gedichte der niederländischen Kinderbuchautorin Annie M.G. Schmidt (1911 - 1995).
Überzeugend ist neben der Grundaussage, daß Angst am Glück hindert, vor allem die Einstellung, daß die Verantwortung, für das, was geschieht, im Diesseits, bei den Menschen liegt. So entschwindet am Ende auch ‚Jesus’ wieder in den Himmel, Thomas braucht ihn nicht mehr.
Zuweilen wird die Frage gestellt, ob das wirklich ein Kinderbuch ist. Diese Frage ist bei Büchern von Kuijer selten eindeutig zu beantworten. Erwachsene LeserInnen können sich von der Komplexität überraschen lassen und sie in vollen Zügen genießen. Kinder werden eine phantasievolle Geschichte finden, die wunderschön formuliert und auf den Punkt gebracht ist. Die Botschaft gegen die Angst, für Schönheit, Liebe und ein harmonisches Miteinander ist auch für sie verständlich.
Die verrückten Einfälle Kuijers sind für jedes Alter ein Genuß.
Das magische Schillern der ganzen Geschichte bei gleichzeitigem Realismus kommt im Titelbild von Michael Sowa nahezu perfekt zum Ausdruck. Die Übersetzung von Sylke Hachmeister hat einen wunderbaren Ton, zwischen frech und lyrisch, der das Buch unvergeßlich werden läßt.