'Der Turm' - Seiten 797 - 890

  • Ich lese mittlerwile über die Verhandlung mit Christian und Pfannkuchen. Christian scheint seine Lage noch immer nicht richtig einschätzen zu können, er glaubt zumindest noch daran, freigesprochen zu werden und zu studieren. Ich bin gespannt, wie es weitergehen wird.


    Es war auch interessant wieder auf die "Kohleninsel" zu treffen, die auch in diesem Abschnitt eher einen kafkaesken Eindruck macht, da ich mir nicht vorstellen kann, dass die verhältnisse damals wirklich so waren.


    Was mich aber wirklich irritiert hat, war das Kapitel 57 mit dem (scheinbaren) Gespräch zwischen Richard und Reina. Das beide wohl eine Verbindung haben, wird auch im Verhör mit Christian erwähnt, aber ich möchte es noch nicht ganz glauben, denn so hatte ich Richard nicht eingeschätzt.

  • Zitat

    Zitat buzzaldrin:
    Was mich aber wirklich irritiert hat, war das Kapitel 57 mit dem (scheinbaren) Gespräch zwischen Richard und Reina. Das beide wohl eine Verbindung haben, wird auch im Verhör mit Christian erwähnt, aber ich möchte es noch nicht ganz glauben, denn so hatte ich Richard nicht eingeschätzt.


    Da sind meine Symphatien auch geschrumpft..


    übrigens finde ich es ziemlich "hart", dass Christian angeklagt wird, weil er "Scheißstaat" sagt. Das war doch wohl situationsbedingt.

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Zitat

    Original von Conor
    Da sind meine Symphatien auch geschrumpft..


    übrigens finde ich es ziemlich "hart", dass Christian angeklagt wird, weil er "Scheißstaat" sagt. Das war doch wohl situationsbedingt.


    Ich finde es auch sehr hart, da es sich ja wirklich um eine Ausnahmesituation gehandelt hat.


    Das Richard und Reina aber wohl eine Affaire haben/hatten, hat mich wie gesagt gleichermaßen schockiert. Und ich hab hier noch geschrieben, dass Richard mir Leid tun würde ... hmpf, da sind die Sympathien jetzt aber wirklich geschrumpft. ;-)

  • Ja, die ganze Verhandlung und Anklage war insgesamt wirklich sehr seltsam.


    Jetzt muss Christian 12 Monate in dieser Einrichtung in Schwedt verbringen, aber nach den ersten Seiten dieses Kapitels habe ich nicht mal den Eindruck, er würde sich besonders unwohl fühlen dort. An einer Stelle behauptet er ja sogar, endlich seinen Platz im Leben gefunden zu haben.

  • Dieses Schwedt ist ein unangenehmer Ort. (S. 823 "Schwedt. Schreckensname, hinter vorgehaltenen Händen gemurmelt in der Armee...")


    Christian scheint erst jetzt wirklich zu realisieren, was mit ihm passiert, was seine nahe Zukunft ist.
    (S. 825: "Jetzt erst begriff Christian, was geschehen war, und daß dies für ihn die absehbare Zukunft war: Schwedt...")


    Diese Stelle fand ich beeindruckend:
    S. 827
    "Die Idee, dass er nun im Innersten des Systems angekommen sein mußte, ließ Christian eine lange Zeit in der noch längeren Dunkelheit der Zelle nicht los. Er war in der DDR, die hatte befestigte Grenzen und eine Mauer. Er war bei der Nationalen Volksarmee, die hatte Kasernenmauern und Kontrolldurchlässe. Er war Insasse der Militärvollzugsanstalt Schwedt, hinter einer Mauer und Stacheldraht. Und in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt hockte er im U-Boot, hinter Mauern ohne Fenster. Jetzt war er also ganz da, jetzt mußte er angekommen sein. Er mußte, dachte Christian, er selbst sein. Er mußte nackt sein, das bare, blanke Ich, und er dachte, daß nun die großen Erkenntnisse und Einsichten kommen müßten, von denen er in der Schule und zu Hause geträumt hatte. Er hockte nackt auf dem Fußboden, aber die einzige Erkenntnis, die kam, war, daß man fror,wenn man einige Zeit nackt auf Steinen hockte. Daß man Hunger und Durst hatte, daß..., daß man eine Weile nichts hören kann außer dumpfer Stille, und daß das Ohr beginnt, selbst Geräusche herzustellen,.... Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand."


    Wie muss sich Christian gefühlt haben...

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Auf Seite 840 heißt es:
    " Etwas Seltsames geschah: Der Widerstand, den Christian lange in sich gespürt hatte - gegen die Gesellschaft, den Sozialismus, wie er ihn erlebte und sah - schwand, wich einem Gefühl des Einverstandenseins mit allem. Es war richtig, dass er hier war. Er war ein Gegner der Armee und des Systems, und deshalb wurde er bestraft."


    zu dieser Passage habe ich gegoogelt und Folgendes gefunden:
    http://www.literaturkritik.de/…ezension.php?rez_id=12380


    Dort heißt es, dass diese perverse Identifizierung des Opfers einen Umschlagpunkt bilde, welcher bei Christian wohl ausgeprägter sei.
    Dieser Umschlagpunkt kündige einen Einstellungswandel an, der auch Teile der Türmer dazu bringe, sich im Sommer 1989 in der Bürgerbewegung zu beteiligen.

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

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  • Für mich steckt da System hinter. Die Fabriken hatten alle billige Arbeiter. Statt die Strafe im Gefängnis abzusitzen, haben sie für einen Hungerlohn dieselbe Arbeit verrichten müssen, wie die fest Angestellten.


    Also durfte man sich wirklich nicht die kleinste Kleinigkeit erlauben, geschweige denn, etwas Negatives über die Republik sagen. Sofort war man verurteilt und zur Zwangsarbeit gezwungen.


    Und die Karriere war für den Rest des Lebens auch versaut.


    Echt gemein so was.


    Mir fehlen da etwas Christians Gefühle. In vielen Abschnitten hätte der Autor die noch besser ausarbeiten können. Für mich geht er zu schnell zur Tagesordnung über und fügt sich immer wieder seinen Schicksalen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, richtig, aber wie geht es ihm dabei, innerlich?


    Ruhrmaus

  • Zitat

    Original von Ruhrmaus
    Mir fehlen da etwas Christians Gefühle. In vielen Abschnitten hätte der Autor die noch besser ausarbeiten können. Für mich geht er zu schnell zur Tagesordnung über und fügt sich immer wieder seinen Schicksalen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, richtig, aber wie geht es ihm dabei, innerlich?


    Damit hast du sicherlich Recht. Vor allem als er im Verhör erfährt, dass Richard wohl eine Affaire mit Reina hat, reagiert er überhaupt nicht darauf (bisher). Weder sagt er etwas, noch erfährt man etwas über seine innere Lage.


    Conor
    Die beiden Abschnitte die du zitierst, waren auch für mich zwei Stellen, die mich sehr berührt haben :-)

  • Ich habe gerade das Kapitel über Sperber und Anne gelesen und bin jetzt doch einigermaßen verwirrt. Schläft Anne wirklich (vielleicht aus Rache?) wirklich mit Sperber, als sie mit ihm in den Keller geht? Als beide nach oben kommen, sagt Sperber dann ja auch, dass Christian doch wieder Chancen auf einen Studienplatz hat.


    Diese ganze Episode hat mich einfach ein wenig erstaunt :wow

  • Ich habe die Stelle gerade gefunden und nochmal nachgelesen. :-)


    Ich denke, Anne hat sich auf Herrn Sperber eingelassen, um Christian zu helfen.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Conor ()

  • Zitat

    Original von Conor
    Ich habe die Stelle gerade gefunden und nochmal nachgelesen. :-)


    Ich denke, Anne hat sich auf Herrn Sperber eingelassen, um Christian zu helfen.


    :wave


    Ah okay, dann betrachte meine PM als erledigt :grin


    Wahrscheinlich hat sie es wirklich für Christian getan, schockiert hat es mich dennoch. Die Ehe von Anne und Richard scheint auch nicht mehr wirklich das zu sein, wofür ich es zumindest am Anfang noch gehalten habe.

  • @buzzaldrin:Meine PM hatte sich ja auch schnell erledigt :knuddel1


    Was Judith Schevola anbelangt - ihr scheint es gar nicht gut zu gehen, sie fängt mit dem Trinken an.
    (Kap. 66, ab S. 867)


    S. 869:
    Der Abschnitt "Immer dichter wurden die Kokons, immer tiefer die Jahre. Wen riefen die Jahre? Abends war das mutabor gesprochen, Stadt und Land stellten Puppen auf, die nach außen blickten, die Türmer aber waren längst die Treppen zu ihren Interessen hinabgestiegen..." macht mich gerade nachdenklich.
    Wie deutet ihr das?


    Dann habe ich ein wenig gegoogelt, was diese Namen bedeuten: S. 870
    [URL=http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/geschichte/index,page=1052954.html]Assurbanipal[/URL]
    Hammurabi

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Zitat

    Original von Conor
    Was Judith Schevola anbelangt - ihr scheint es gar nicht gut zu gehen, sie fängt mit dem Trinken an.
    (Kap. 66, ab S. 867)


    Das Kapitel habe ich heute morgen gelesen und war sehr erschrocken, da ich Judith Schevola bisher immer als sehr starke Persönlichkeit wahrgenommen.


    Mit dem Abschnitt den du zitiert hast, hatte ich auch etwas Schwierigkeiten und ich habe ihn mehrmals lesen müssen und dennoch leider nicht ganz verstanden, was Tellkamp uns damit sagen möchte (vor allem was mit sie "waren längst die Treppen zu ihren Interessen hinabgestiegen" gemeint ist).


    Ach und danke für die Links, die schaue ich mir gleich mal an :-)

  • Zitat

    Zitat buzzaldrin:
    Das Kapitel habe ich heute morgen gelesen und war sehr erschrocken, da ich Judith Schevola bisher immer als sehr starke Persönlichkeit wahrgenommen.


    Es ist sicher für eine Autorin schwer, nicht schreiben zu können, tun zu können, was man mag.
    Und sie leidet sicher darunter, ausgeschlossen worden zu sein.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Wiederaufnahme der LR ab 3.1.2013


    Ganz durch bin ich noch nicht durch den Abschnitt, aber wieder schon ein paar Bemerkungen.


    Christians Inhaftierung, das Warten auf den Haftrichter, die Verhandlung und seine Inhaftierung waren für mich schwer zu lesen. Die bedrückende Stimmung kam nur allzu intensiv rüber. Zentraler Punkt, vielleicht Wendepunkt für Christian, ist dabei seine Zeit im U-Boot, in der Einzelhaft im Dunklen, wo er sich angekommen fühlt im Bauch des Systems. Hat er bisher noch gehofft, gebangt, an Zukunft gedacht, so ist das ab da irgendwie vorbei. Erleichterung schafft die Verlegung nach Halle/Leuna/Buna-Schkopau, wo er zur Arbeit in der Chemieindustrie herangezogen wird - billige, willige Arbeitskraft, die kaum aufmucken wird, weil ja bereits im Knast.
    Der "Orient" weckt erst recht Erinnerungen. Die Bezeichnung hatte ich zwar noch nie gehört, aber die Gegend kenne ich, weil ich von September 1989 bis Februar 1990 ein Semester Chemie in Merseburg studiert habe.


    Amüsant fand ich die Episode in der Badeanstalt. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, und bei uns gab es das nicht, nur in der Stadt.


    Dass Richard nun auch etwas mit Reina etwas hatte, von der er wusste, dass sie so etwas wie die Freundin seines Sohnes war, geht ja nun gar nicht. Er weiß gar nicht, was er hat, weiß es nicht zu schätzen.
    Anne weiß alles und spricht es auch an. Dass sie sich gerade die Hand verletzt, wo ihr Mann Handspezialist ist, hatte schon etwas symbolisches. Aber er kann ihr nicht helfen, menschlich verständlich, aber wenn man es aus dem anderen Blickwinkel sieht schon typisch für ihn.
    Und Anne hat sich Anwalt Sperber, sagen wir mal, hingegeben, um Christian zu helfen. Anne? Passt das zu ihr?
    Ob Christian ihr Opfer etwas nutzen wird, weiß ich nicht. Ich glaube kaum, dass er noch Medizin studieren will, auch wenn er noch die Möglichkeit hätte.


    Ich lese mal weiter.

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    Ich lese mittlerwile über die Verhandlung mit Christian und Pfannkuchen. Christian scheint seine Lage noch immer nicht richtig einschätzen zu können, er glaubt zumindest noch daran, freigesprochen zu werden und zu studieren.


    Das hat mich auch extrem überrascht, dass er vor dem Richter immer noch so verpeilt ist. Eigentlich hatte er doch sonst immer sehr treffsicher beobachtet. :gruebel



    Zitat

    Original von buzzaldrin
    Was mich aber wirklich irritiert hat, war das Kapitel 57 mit dem (scheinbaren) Gespräch zwischen Richard und Reina. Das beide wohl eine Verbindung haben, wird auch im Verhör mit Christian erwähnt, aber ich möchte es noch nicht ganz glauben, denn so hatte ich Richard nicht eingeschätzt.


    Ich dachte zunächst an eine Lüge der Stasi und dachte, dass Reina Christian in einem Gespräch nur aufgezogen hat mit der Ähnlichkeit seiner Stimme zu seinem Vater. :rolleyes



    Zitat

    Original von Conor
    übrigens finde ich es ziemlich "hart", dass Christian angeklagt wird, weil er "Scheißstaat" sagt. Das war doch wohl situationsbedingt.


    Nö, kein bißchen. Das war ideologisch völlig korrekt. Es gibt (nach der Ideologie und dem Selbstverständnis) einfach keine Situation, in der man den Staat verunglimpfen und herabwürdigen kann. Der Staat ist perfekt, die Partei hat immer Recht und der Sozialismus wird siegen.



    Zitat

    Original von buzzaldrin
    Jetzt muss Christian 12 Monate in dieser Einrichtung in Schwedt verbringen, aber nach den ersten Seiten dieses Kapitels habe ich nicht mal den Eindruck, er würde sich besonders unwohl fühlen dort. An einer Stelle behauptet er ja sogar, endlich seinen Platz im Leben gefunden zu haben.


    Er ist nicht mehr der Christian aus Waldenbuch und aus dem Turm. Er wurde völlig von seiner intellektuellen Art abgetrennt und ist ein funktionierender Arbeitsroboter (siehe Orwell "1984"). Zur Erinnerung: Hat er seine Bücher, wird er überleben. Aber die wurden ihm abgenommen.