Das wilde Kind - T. C. Boyle

  • Das wilde Kind
    T. C. Boyle
    Hanser Verlag
    HC mit 106 Seiten
    ISBN: 9783446235144


    Über den Autor erzählt Wikipedia ziemlich viel.


    Das Wild Kind ist Teil einer Sammlung von Kurzgeschichten (The Wild Child), die in den USA im Januar bei Viking erschienen ist. Hanser ließ die Titelgeschichte übersetzen und hat sie als eigenständige Erzählung herausgebracht.
    Boyle erzählt hier die Geschichte des Wolfskindes Victor von Aveyron nach. In den Wäldern von Frankreichs Süden macht im 18. Jahrhundert ein Junge von sich reden, der wie ein Tier lebt. Nach etlichen Beobachtungen, Gefangennahmen und mehrmaliger Flucht, landet er in Paris bei einem Naturwissenschaftler, der ihn für geistig behindert erklärt.
    Einzig Itard, ein Arzt in einer Taubstummenanstalt, glaubt nicht daran und bemüht sich, ihm über viele Jahr der Zivilisation näher zu bringen. Von den Erfolgen und vor allem auch den Misserfolgen handelt diese Erzählung.


    Die Sprache bleibt dabei immer sehr nüchtern und distanziert. Es fühlt sich so an, als würde man einen längeren Zeitungsartikel in einer populärwissenschaftlichen Zeitung lesen, weniger einen Roman. Boyle scheint sich dabei auch stark an die Quellen zu halten, jedenfalls habe ich kaum Abweichungen zu dem gefunden, was ich im Internet lesen konnte. Gut finde ich, dass Boyle keine romantisch verklärte Story mit Happy End draus macht.


    Fazit: ganz interessant, zumal es sich nicht um eine fiktive Erzählung handelt, aber man sollte auch nicht zu viel erwarten. Die gut 100 Seiten sind schnell weggelesen und werden wohl keinen allzu bleibenden Eindruck hinterlassen.

  • Das ist dann wohl mal Boyle ganz anders, nicht schräg und fabulierend mit einem echt guten Auge für verschrobene Charaktere, sondern schnörkellos und mit Sachbuchcharakter erzählend :-]



    interessierte Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

  • Boyle ist eigentlich immer einen Buchkauf wert. Herzlichen Dank für diese sehr schöne Rezi. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Danke für die Rezi, Queedin. Ich hatte auch überlegt, es mir zu kaufen, habe mich dann aber für "Zähne und Klauen" entschieden.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Das wilde Kind von T.C.Boyle ist von der Seitenzahl nur ein Happen, aber inhaltlich doch eine fast klassische Novellenform, in der sich Boyle als Meister erweist. Er verarbeitet einen wahren Fall eines verwilderten französischen Kindes aus dem Jahr 1798, der neben Kaspar Hauser als exemplarischer Fall bekannt ist.


    Boyle beeindruckt durch die Sprache, schafft es gleichzeitig auch den Figuren Profil zu geben. Es wird jedoch nie aus der Sicht des Kindes erzählt. Stattdessen zeigt Boyle die Reaktionen der übrigen Beteiligten auf den Jungen. Das beginnt von den Bauern, die den 5jährigen anfangs einfangen über einen Kommissar und dann einem Arzt, Jean Itard, der sich dem Kind annimmt und ihn über Jahre versucht zu unterrichten und zu erziehen. Erst spät bekommt der Junge den Namen Eric, doch er schafft es nie, so richtig mit den Menschen zu kommunizieren oder Beziehungen aufzubauen. Rudimentäre Ansätze dazu bleiben stecken, letztlich fehlt es an Akzeptanz. Jean Itard ist der Meinung, dass der Zustand des Jungen keine biologische sondern eine kulturelle Ursache hat. Auch der moderne Mensch wird in Frage gestellt.


    Zivilisation und Wildheit stehen im Wettstreit miteinander und mit Boyles erklärtem Ziel das Thema zu überhöhen, bringt er es in eine literarische Form.
    Interessant auch, wie er mit der sprachlichen Haltung einer vergangenen Zeit spielt.


    Ohne den Originaltext zu kennen, habe ich das Gefühl das Dirk van Gusterens Übersetzung T.C.Boyles kräftigen Stil vollständig erhalten hat. Ein Stil, der mich als Leser gefesselt hat.
    Ursprünglich hatte der Autor diesen Stoff als einen Teil seines Romans Talk Talk geplant, doch seine Entscheidung ihn als eigenständige Novelle zu schreiben, erwies sich als richtig.

  • Eigentlich eine Frechheit


    Das neue Buch von T.C. Boyle ist keines, sondern nur ein Auszug aus dem Erzählungsband "The Wild Child", der in der amerikanischen Originalfassung 320 Seiten umfasst. Wer glaubt, für fast 13 Euro die deutsche Fassung hiervon zu kaufen, irrt - ein kurzer Hinweis auf Seite 3 klärt diesen Irrtum auf: Dort ist davon die Rede, dass die Übersetzung der anderen Geschichten "in Vorbereitung" ist.


    Es handelt sich also lediglich um die auf 105 Seiten sehr großzügig gesetzte Titelgeschichte, für die ein durchschnittlicher Leser etwa zwei Stunden veranschlagen muss, jene um Victor von Aveyron, das französische "Wolfskind", das im späten 18. Jahrhhundert gefunden wurde. Diese weitgehend reale Geschichte erzählt der amerikanische Romancier relativ boyle-untypisch, denn anders als bei seinen bisherigen fiktiven Biographien realer Personen ist das Personal von "Das wilde Kind" durch die Bank - bis hin zu den Nebenfiguren - ebenfalls echt. Im Fokus steht der Arzt Jean Itard, der sich jahrelang damit abmüht, dem Kind Verständnis von der zivilisierten Welt, von sozialer Interaktion, menschlichen Bezugssystemen, Moral und Sprache zu vermitteln - woran er scheitert.


    Im Jahr 1797 entdecken französische Bauern ein verwildertes Kind mit einer Narbe in Höhe der Kehle - es ist also vermutlich, wie damals offenbar üblich, von seinen Eltern ausgesetzt worden, die es aber nicht geschafft oder ernsthaft versucht haben, den Jungen zu töten. Einige Versuche, das Kind zu fangen, misslingen, bis es einem Färber glückt, es in einem besonders kalten Winter mit Nahrung zu locken. Der "Wolfsjunge" wird schließlich nach Paris in eine Taubstummen-Schule gebracht, der kleingewachsene und zu den einfachsten "menschlichen" Tätigkeiten unfähige Junge wird zur Sensation im Frankreich der Nachrrevolutionszeit. Victor hört nur die Dinge, die ihn interessieren, also etwa das Geräusch von aufknackenden Eicheln, während er für Musik und Sprache taub bleibt. Er weiß nicht, was Türen sind, kann mit Kleidung nicht umgehen und fäkaliert, wo er gerade geht oder steht - später versucht er dann, seinen aufkeimenden Sexualtrieb nach Belieben zu befriedigen. Auch nach Jahren der intensiven Betreuung gelingt es dem Arzt Jean Itard nicht, Victor mehr als ein paar rudimentäre Worte zu entlocken; selbst am Ende der ermüdenden, von vielen Rückschlägen durchsetzten "Therapie" ist er noch immer nicht dazu in der Lage, einfache zwischenmenschliche Verhaltensweisen zu verinnerlichen. Das Umfeld und die Öffentlichkeit stempeln ihn schließlich als Idioten ab, während Itard immer noch glaubt, eine Chance zu haben - bis sein persönlicher Ruhm so groß wird, dass er Interesse am "Experiment" verliert.


    Eigentlich ist das eine Frechheit, was der Hanser-Verlag mit diesem Bändchen praktiziert, nämlich den Auszug aus einer Anthologie als "Erzählung" als teures Hardcover-Bändchen an das deutsche Publikum zu verkaufen. Für besagte dreizehn Euro erhält der geneigte Leser zwar eine vergleichsweise interessante Story, die aber auf ironische Zwischentöne und die sonst bei Boyle übliche Sichtweise (zumeist sind die biographischen Romane aus Sicht erfundener Randfiguren erzählt) verzichtet. Es bleibt eine mehr oder weniger faszinierendes Schlaglicht auf die Frage, welche Rolle jene ersten Lebensjahre für die Entwicklung eines Menschen spielen, was Zivilisation und Sozialverhalten ausmacht, aber hierzu liefert die moderne Psychologie weitaus spannendere Informationen. Im Abgang ist "Das wilde Kind" nicht viel mehr als eine routinierte und fraglos brillant verfasste Fingerübung, eigentlich also Autoren-Merchandising. Falls geplant ist, den gesamten Erzählband zu publizieren, lohnt es sich vermutlich, auf diese Fassung zu warten.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Erst spät bekommt der Junge den Namen Eric


    Gibt es mehrere Übersetzungen oder so? Bei mir hieß der Junge "Victor".


    Das Buch gibt es inzwischen als Taschenbuch für 7,90. Akzeptabel, finde ich. Ich habe es gerade gelesen und den Kauf nicht bereut - ich mag die Sprache einfach sehr sehr gerne, und auch wenn das Buch recht kurz ist hat es mir doch große Freude bereitet. Trotz der wenigen Seiten schafft es Boyle, vielschichtige Hauptcharaktere zu schaffen. Vor allem die Beschreibung des Arztes Itard hat mir sehr gut gefallen.

    In der Einsamkeit wird Liebe entstehen.

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  • Worum es geht
    Ende des 18. Jahrhunderts wird in einem Wald in Frankreich ein sogenanntes "Wolfskind" beobachtet und kurze Zeit später gefangen genommen. Dem Buben gelingt die Flucht, und er lebt mehr als ein Jahr weiter in der Wildnis, wo alle seine Instinkte auf die Suche von Nahrung und einen Schlafplatz ausgerichtet sind. Andere Interessen kennt er nicht.
    Als er abermals eingefangen wird, bringt man ihn nach Paris in ein Taubstummeninstitut, wo alle Versuche ihn zu "zivilisieren" fehlschlagen.

    Wie es mir gefallen hat

    Mich hat diese Kurzgeschichte schon vom Inhalt sehr angesprochen, T.C. Boyle macht sie als großartiger Erzähler zu einem beeindruckenden Stück Literatur. So wie er vom Überlebenskampf des ausgesetzten Kindes erzählt, meint man den verwilderten Knaben leibhaftig vor sich zu sehen. Trotz aller Versuche, ihn zu einem zivilisierten Wesen zu machen, das der Gesellschaft vorgeführt werden kann, sind die Erfolge mehr als bescheiden. Immer wieder verfällt Victor, wie man ihn genannt hat, in alte Verhaltensmuster, lebt ganz durch seine Sinne, lehnt sich gegen seinen Lehrer auf, das Eingesperrtsein, die Bekleidung, und nimmt auch die menschliche Sprache kaum wahr. Dennoch macht er Fortschritte und kann schließlich in die Obhut eines Ehepaares übergeben werden, das ihn betreut.
    Besonders gut gelingt es dem Autor herauszuarbeiten, wie unmöglich es dem einst aus der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßenem und dann wieder Zwangsintegrierten es war, die feinen Zwischentöne menschlichen Zusammenlebens wahrzunehmen. Alle seine Sinne sind auf die Geräusche ausgerichtet, die Gefahr bedeuten oder Nahrung versprechen. Alles, was Victor später noch lernt, hat immer den schalen Beigeschmack von Dressur. Eindeutig geht auch nicht hervor, ob er nicht womöglich doch von Geburt an schwachsinnig war, und deswegen ausgesetzt wurde.
    Einerseits fand ich die Geschichte um dieses verwilderte Kind sehr interessant, andererseits konnte T.C.Boyle mit dieser kurzen Erzählung einmal mehr beweisen, welch großartiger Schriftsteller er ist. Eine unbedingte Leseempfehlung meinerseits!