• Poll


    Kinostart: 3.Februar 2011


    Regisseur:Chris Kraus


    Literarische Vorlage: Oda Schaefer


    Schauspieler: Edgar Selge, Paula Beer, Tambet Tuisk, Richie Müller, Jeanette Hain


    Trailer:
    Filmtrailer


    Über den Film:
    Sommer 1914 an der baltischen Küste.
    Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges überführt die 14-jährige Oda ihre in Berlin verstorbene Mutter an die estnische Küste, wo Odas Vater, Professor von Siering, inzwischen neuverheiratet in einer ins Meer gebauten Chaosvilla lebt.
    Von Siering, Mediziner und spezialisiert auf Hirnforschung, hat sich auf das Gut Poll zurückgezogen, nachdem er keine Lehraufträge mehr in Deutschland erhält. Dort forscht der Deutsche zurückgezogen an Präparaten von Anarachisten, deren Leichen ihm die zarentreuen Offiziere liefern.
    Die junge Oda, die sich in ihrer neuen Familie kaum aufgenommen fühlt und dem Tod ihrer Mutter nachtrauert, findet in einer Ruine auf dem Gut einen verletzten estnischen Anarchisten, den sie versorgt und versteckt und mit dem sie bald eine Seelenverwandtschaft verbindet.


    Meine Meinung:
    Der Regisseur Chris Kraus hat ein Stück deutscher Geschichte filmisch inszeniert, die lange in Vergessenheit geraten war.
    Anhand des Schicksals der jungen Oda erzählt er die Geschichte der Deutschbalten und ihrer Verbindung zu den zarentreuen Russen, die die
    Esten jahrelang unterdrückten. Die 14-jährige Oda, gespielt von einer überragenden Paula Beer, lebte mit ihrer Mutter allein in Berlin
    und zieht nach deren Tod zu ihrem Vater auf ein baltisches Gut namens Poll. Der Vater (Edgar Selge), ein der Forschung verhafteter Mann und
    unglücklich über seine Lage, keine Anstellung mehr an einer Universität zu finden, kann seiner Tochter nur wenig Trost spenden.


    Auch seine zweite Frau (Jeanette Hain), die die Tätigkeit ihres Mannes ausblendet und mit dem an den politischen Zuständen zweifelnden Gutsverwalter (Richie Müller) eine Affäre hat, kümmert sich nicht um das trauernde Mädchen.
    So verbringt Oda schreibend die Tage am Grab ihrer Mutter oder in den Wäldern umherstreunend bis sie auf einen von den zarentreuen Truppen verletzten Anarchisten trifft, den sie Herrn Schnaps nennt.
    Seine Pflege und die Sorge um ihn werden alsbald zur Tagesbeschäftigung für die junge Frau, die sich allein fühlt und das Schreiben erlernen möchte.
    Auf sehr behutsame Weise erzählt der Film die auf Tatsachen basierende Geschichte der Oda Schaefer nach, die sich allmählich zu einer Freundschaft,
    wenn nicht gar Liebe zwischen Oda und Herrn Schnaps entwickelt und von den politischen Zuständen im Baltikum der Vorkriegszeit berichtet.
    Über allem schwebt die in einem anderen Handlungsstrang erzählte Geschichte von der Anfertigung der Präparate des Vaters, die den Freunden des Anarchisten entnommen wurden und deren Tod Oda ihrem Gefährten verschweigt.


    Vor diesem Hintergrund erfährt der Zuschauer etwas vom Leben einer wohlständigen deutschen Familie auf einem estnischen Gut, das sich so wesentlich von dem der estnischen Landbevölkerung unterscheidet, stark geprägt durch die Pflege kultureller Abende ist, an denen musiziert und vorgelesen wird und die Nähe zu den zarentreuen Offizieren sucht.


    Doch die beworbene Sommeridylle des Films und auch das an die typische Bäderarchitektur erinnernde Filmplakat trügen, wenn sie dem Zuschauer weismachen wollen, einen beschaulichen Kinoabend zu erleben.
    Tatsächlich erlebt der Kinobesucher eine Familie von Siering in einer protzig erscheinenden, ins Wasser gebauten und mit Holzpfählen gestützten Villa,
    die unvollständig und chaotisch erscheint und sich dennoch von den einfachen Bauernhäusern abhebt. Zugleich erhält der Zuschauer einen Einblick in ein mit Präparaten gefülltes Laboratorium, in dem die Kamera einmal mehr den Fokus auf die unappetitliche Arbeit des Professors lenkt.
    So sehr sich die Filmemacher bemüht haben eine ungewöhnliche Geschichte auf die Leinwand zu bringen, so sehr müssen sie sich letztlich eingestehen,
    zuviel gewollt zu haben. Oftmals sind die Szenen zu verklärt, die Landschaft zu romantisiert, die Einfärbung der Szenen zu antiquiert, dann wieder schlägt in einzelnen Szenen die brachiale Gewalt durch, werden Kampfszenen gezeigt oder die Sezierung von Leichenteilen.


    Warum ist "Poll" dennoch sehenswert?
    Der Regisseur Chris Kraus erinnert mit hervorragenden Schauspielern an ein Stück deutsche Geschichte, in deren Mittelpunkt das Handeln einer jungen Frau steht, die sich nicht an politischen Zuständen orientiert, sondern aus reiner Menschlichkeit handelt.

  • "Es gibt keine Untergänge - nur Übergänge. Unter diesem Credo erlebt die junge, künstlerisch hochbegabte Oda von Siering das Ende einer Epoche: Im Sommer 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, steht der Zerfall des deutsch geprägten, zum russischen Kaiserreich gehörenden Baltikums unmittelbar bevor. Ein Zerfall, der Odas Leben, ihre aristokratische Familie und alle Gewissheiten bedroht – und der sie dennoch zu ihrem Glück zwingt. Die Begegnung mit einem estnischen Anarchisten und Schriftsteller wird Odas Schicksal bestimmen. Die Geschichte einer alles wagenden Liebe. Ein historisches Drama vor den Flächenbränden Europas. Großes Kino aus Deutschland. Das alles ist POLL."


    Der Trailer hat wirklich nicht zu viel versprochen - im Gegenteil, meine Erwartungen wurden noch übertroffen.


    Ich bin bestimmt kein Filmsachverständiger und habe auch noch nie eine Rezi zu einem Film geschrieben ;-), aber es war unglaublich fesselnd und mein Mann und ich (Freundin hatte keine Zeit) saßen über zwei Stunden wie gebannt vor der Leinwand.


    Die Romanvorlage kenne ich (noch) nicht, glaube aber, dass sie sehr authentisch und stimmig umgesetzt wurde. Zauberhafte Bilder von Land und Leuten, interessante Kameraführung, häufig wie in Sepia getaucht und leicht verschwommen, eigenwillige Charaktere, von den Schauspielern exzellent dargestellt ... machen diesen Film zu einem kleinen Kunstwerk, das die Preise zurecht eingeheimst hat.


    Die schauspielerische Leistung von Paula Beer war umwerfend, von ihr hatte ich bisher noch nie gehört, was allerdings bei mir nichts heißen muss.


    Von mir gibt es eine absolute "Guck-Empfehlung"! Auch für Männer! Der meine ist nämlich nicht unbedingt ein Fan von historischen Literaturverfilmungen und er wusste im Vorfeld auch nicht so genau wohin er mich da begleitet ;-), aber auch er war begeistert!

  • O denk daran! Der Tod ist wie ein Kern
    In dir und deinem Tagewerk verborgen,
    Wie Haselnuss und heller Apfelstern,
    Wie Pflaumensamt ihn einhüllt bis zum Morgen,
    O denk daran, es nützt dir keine Flucht,
    Er lebt in dir wie in der süßen Frucht.


    aus: „Gedenke des Todes“ von Oda Schaefer



    Poll


    B, R: Chris Kraus
    D: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Richy Müller, Jeanette Hain




    Glück braucht der Mensch: ich hab's doch heute wirklich noch in die allerletzte Vorstellung hier am Ort geschafft .... :-]



    Über den Film


    Sommer 1914. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs reist Oda (Paula Beer), „so jung wie das Jahrhundert“, von Berlin an die Ostseeküste Estlands. Auf Poll, dem Besitz ihres Vaters Ebbo von Siering (Edgar Selge), soll Oda von nun an leben. Mit ihr reist der Sarg, in dem ihre gerade verstorbene Mutter, von Ebbo geschieden, liegt, die in Estland bestattet wird.
    Es ist eine seltsame Welt, die Odas neues Zuhause sein soll. Eine betörend schöne, aber auch auf wilde Art eintönige Landschaft, ein Landstrich, der zwar russische Provinz ist, in dem aber eine teilweise deutschstämmige und deutschsprachige Bevölkerung lebt und in dem russische Soldaten Jagd auf estnische Anarchisten machen. Seltsam ist vor allem Poll selbst: ein Haus im Wasser, die Anbauten auf Pfählen ruhend, trutzig und zerbrechlich zugleich. Im ehemaligen Sägewerk hat sich Ebbo von Siering ein Laboratorium eingerichtet, in dem er Leichen, die er von den russischen Soldaten kauft, seziert, Schädel vermisst und sammelt und in Einweckgläsern allerlei gruselige Absonderlichkeiten der Natur hortet. Wenig Verständnis für seine Forschung zeigt Ebbos zweite Frau Milla (Jeanette Hain), von porzellanener, ein wenig der Welt entrückter Schönheit, die erst in der Musik zu leidenschaftlicher Lebendigkeit erblüht. In diese Ehe hat Milla einen Sohn mitgebracht, Paul, dem Ebbo ein ebenso strenger Vater ist wie er Oda gegenüber Nachsicht zeigt.
    Oda fühlt sich in Poll, obwohl von Menschen umgeben, isoliert; die meiste Zeit verbringt sie damit, in ihr Tagebuch zu schreiben (oder wie sie es nennt: „zu schreien“) und wehrt Pauls zögerlich-unbeholfenes Werben um Freundschaft, vielleicht mehr, grob ab.
    In einer verfallenen Kapelle in der Nähe des Friedhofs, begegnet sie einem verwundeten estnischen Anarchisten (Tambet Tuisk), den sie „Schnaps“ nennt. Mit dem Wissen, dass sie sich von ihrem Vater angeeignet hat, verarztet Oda ihn und versteckt ihn auf dem Dachboden des Laboratoriums. Eine zaghafte, zarte Liebe keimt zwischen ihnen auf, umso mehr, als Oda ihm entlockt, dass er Schriftsteller ist, und als bei Ausbruch des Krieges „Schnaps“ schließlich von Poll fliehen will, wird daraus ein unheilbringender Funke …


    Meine Meinung


    In den Besprechungen und Ankündigungen zum Film wurde er als „Historiendrama“ bezeichnet; ein Etikett, das meiner Meinung nach auf „Poll“ nur bedingt zutrifft. Er ist zweifellos historisch, aber er hat darüber hinaus auch eine schauerliche, fast surreale Qualität. Es ist eine besondere Liebesgeschichte, die er erzählt, eine Coming-of-Age-Geschichte – und dennoch habe ich das Gefühl, dass keine dieser Bezeichnungen ihm wirklich gerecht wird.
    Von den ersten Bildern an liegt über diesem Film eine morbide Atmosphäre, der durch die Kuriositätensammlung und die Experimente Ebbo von Sierings noch verstärkt wird. Die Farbtöne des Films sind blass, fast ein bisschen ausgewaschen oder wie verblichene Photographien und erstaunlicherweise bewirkte gerade diese Farbwahl bei mir, dass mir die Szenen zum Greifen nah vorkamen. Von Anfang an war für mich spürbar, dass ich eine Welt sehe, die dem Untergang geweiht ist; Bedrohung, Gefahr, Unheil und Tod lauern die ganze Zeit über am Rande des Gesichtsfelds und stellen grundlegende Themen des Films dar.
    Und mittendrin Oda, früh gereift, die zwar schroff sein kann, aber auch mutig, die lügt und stiehlt und die trotzdem nichts anderes ist als die Verkörperung der Unschuld. Vielleicht hat mich dieses Thema des Films am meisten bewegt: wie Oda mit ihrer Unschuld in den Strudel aus Grausamkeit und Gewalt hineingezogen und schließlich selbst unwillentlich schuldig wird. Ein Strudel, der sowohl aus den Konflikten auf der Bühne der Weltpolitik besteht, zwischen Deutschland und Russland und Estland, der Armee und den Anarchisten, aber auch aus den Konflikten auf Poll selbst, allen voran dem zwischen ihrem Vater und Milla, die eine Art von Doppelleben führt.


    Mindestens ebenso berührt hat mich die zarte Liebe zwischen Oda und „Schnaps“, die eine so ungleiche, unmögliche Liebe ist und dennoch so stark, so zärtlich ist; die eine sinnliche Komponente enthält und dennoch nichts anderes ist als rein und einmal mehr voller Unschuld. Diese Liebe darzustellen – das hätte gehörig schief gehen können, aber Regisseur Chris Kraus und vor allem Paula Beer und Tambet Tuisk ist dieser schwierige Balanceakt großartig gelungen.


    Ich kann einfach nur schwärmen von diesem Film, angefangen vom Szenenbild und den Kameraeinstellungen, der Musik, der Geschichte an sich, dem Drehbuch inkl. der Dialoge, den Darstellern, die allesamt ihre Rollen mit Leben füllen und über den Film hinweg so viele Facetten aufzeigen.
    Ganz, ganz großes Kino, in jeder Hinsicht; für mich persönlich einer der besten Filme, die ich in meinem Leben gesehen habe. :anbet