David Mitchell:
Number9Dream
Rowohlt 2011. 544 Seiten
Originalausgabe erschien 2001
ISBN 978-3498045135. 24,95€
Übersetzer: Volker Oldenburg
+++++ Zwischenmeldung +++++
Zum Inhalt:
Der junge Eiji Miyake ist von der Insel Yakushima nach Tokio gekommen, um seinen Vater zu suchen, der Eijis unverheiratete Mutter schon früh verlassen hat. Eiji fühlt sich in Tokio als würde er Urlaub auf dem eigenen Planeten machen. Für Eiji riecht die Luft in Tokio wie eine Hosentasche von innen; das Gewimmel von Geschäftsleuten in Nadelstreifen wie in einem Ameisen-Staat erzeugt eine klaustrophobische Atmosphäre. Die U-Bahn wird für den Besucher zum U-Boot, wenn sie in den Untergrund abtaucht; die Fuji-Reklame taktet die Uhrzeit, so dass Eiji selbst keine Uhr benötigt.
Für einen Jungen vom Land, der bisher auf einer Orangenplantage gearbeitet hat, zeigt sich der Neunzehnjährige in der Großstadt ungewöhnlich ausgebufft. In seinen Träumen mit besten Beziehungen zur Hacker-Szene ausgestattet, fantasiert sich Eiji gleich zu Beginn in eine Rolle, in der er das Sicherheitssystem des 81-stöckigen Panopticon-Hochhauses überlistet, um dort die Rechtsanwältin seines Vaters, Akiko Kato, zu treffen. In der Realität hat Eiji einen Job im Bahnhofs-Fundbüro angenommen und haust mit Katze und Kakerlake in einem winzigen kapselartigen Zimmer. Ein Brief der Mutter beantwortet einige von Eijis Fragen und meldet, dass sie gerade eine Entziehungskur absolviert. In Gedanken ist Eiji mit seiner Kindheit bei den Großeltern auf Yakushima beschäftigt und mit Erinnerungen an seine Zwillingsschwester, die als Kind ertrank.
Eiji jobt als Küchenhilfe bei einem Pizza-Service und in der Videothek seines Vermieters. Er mäandert durch ein unordentliches Leben, das ihm von seinem Kumpel Daimon aufgezwungen wird. Weiter verstrickt Eiji sich in die Beziehung zum Yakuza-Boss Morino, der ihm Informationen über seinen Vater im Austausch gegen Loyalität ihm gegenüber anbietet. Wenn der Chef der Ykuza Vater genannt wird, könnte Eiyis Vater selbst Yakuza sein?
Auf Eijis Zeitungs-Anzeige meldet sich ein Mann, Takara Tsukiyama , der sein Großvater sein könnte. Der Großvater hat für den Fall seines Todes sein Tagebuch aus dem Jahr 1944 dabei, in dem es um den neuen Torpedo-Typ Kaiten geht, der dem U-Boot-Krieg eine entscheidende Wende geben sollte. Während er im Haus seiner Großmutter auf der Insel ist, hört Eiji die Nachricht von einem starken Erdbeben in Tokio. Das letzte, neunte Kapitel im Buch und in Eijis Leben ist noch leer. Für Eiji ist auf seiner Vatersuche der Weg das Ziel gewesen, womöglich war es für den jungen Mann wichtiger, sich mit der Trauer um seine Schwester auseinanderzusetzen und mit seinen Schuldgefühlen wegen der damaligen Ereignisse.
Realität und PC-Spiel, Realität und Traum verschwimmen in Number9Dream miteinander. Im Traum erlebt Eiji seine eigene Begräbnis-Zeremonie mit, im PC-Spiel wird er von einem virtuellen Vater auf die Probe gestellt. Die Schwester von Eijis Vermieter Sasaki hat eine fantastische Geschichte verfasst, in der ein Goatwriter, das strickende Huhn Mrs. Comb, Gott persönlich mit einem abnehmbaren Heiligenschein, sowie eine Ratte im Qiuzmaster-Jackett vorkommen.
Mitchells Thema ist die Ordnung unter dem Chaos. Er legt mit Träumen, Fantasien und Schlafwandeleien falsche Fährten, weckt falsche Hoffnungen beim Leser. Als Naturgewalten holen sintflutartige Monsunregenfälle Eiji wieder in die Realität zurück. Man muss die Götter höflich behandeln, damit sie einen beim nächsten Tsunami nicht ertrinken lassen, ist Eijis Devise. Buntaro, Eijis Vermieter und Boss, erdet seinen Mieter mit der Bemerkung neu: Junge, du bildest dir das ein, was nicht in den Nachrichten kommt, ist nicht passiert.
Fazit:
Mit diesem verschachtelten Roman wird nur Freude haben, wer Murakami gelesen hat und sich für Musik interessiert. Mitchell knüpft Bezüge zur Pop-Musik und Murakamis Mister Aufziehvogel. Das Buch liegt als Fundstück in Eijis Spind im Fundbüro, auch der Mann aus dem Brunnen (eine Figur aus dem Buch) taucht in Eijis Gedanken auf. Eiji fragt sich sogar, ob er selbst ein Buch ist. Karo 9 ist die Spielkarte, mit der Eiji gegen die Yakuza um sein Leben spielt, Number9Dream stellt einen Bezug zum Beatles-Song Norwegian Wood her, Norwegian Wood ist Murakamis Buch, das wir in Deutschland als Naokos Lächeln kennen. Mich hat die Anspielung des Übersetzers auf Ton, Steine Scherben erfreut.
Mit Sicherheit habe ich beim ersten Lesen noch nicht alle Bezüge im Roman entdeckt. An Number9Dream hat mir gefallen, dass es ausschießlich in Japan spielt und Eiji sich nur zwischen Tokio, der Insel und der Kurklink bewegt. Dass ein japanisches Kind 17 Minuten am Tag mit dem Vater verbringt, aber 95 Minuten mit Videospielen, wie Eiji herausfindet, mag einige der uns befremdenden Ereignisse im Buch erklären.
Mitchells Text wirkt wie Textilkunstwerk, in dem man einzelne Fäden und Farben zu erkennen sucht, die sich beim Betrachten jedoch ständig anders ordnen und selbstständig neu miteinander verknüpfen.
+++++ Vielleicht melde ich mich wieder, wenn ich das Buch zum zweiten Mal gelesen habe +++++