Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht

  • Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht
    Fischer 12. August 2011. 416 Seiten
    ISBN 978-3100751362. 19,95€


    Verlagstext:
    Antje Rávic Strubel erzählt von einer ungewöhnlichen und unabwendbaren Liebe und von den langen Schatten eines untergegangen politischen Systems.
    Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche Vogelforscherin Inez. Aber die beiden werden beobachtet. Ohne es zu ahnen, sind sie längst in eine politische Intrige verstrickt. Die geschützte Insel wird zum schutzlosen Ort. Ein Roman, der von einer großen Liebe erzählt, von den Erinnerungen, Legenden und Lügen unserer Gegenwart, aber auch vom Glück, das im Vergänglichen liegt.


    Über die Autorin:
    Antje Rávic Strubel wurde 1974 geboren und lebt in Berlin. Sie veröffentlichte die Romane Offene Blende (2001), Unter Schnee (2001), Fremd Gehen. Ein Nachtstück (2002), Tupolew 134 (2004) und Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest (2007). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, Kältere Schichten der Luft (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit weiteren Preisen ausgezeichnet.


    Zum Inhalt:
    Der Prolog hat mich sofort eingefangen. Ein Mann reist per Fähre ab, während eine Frau sich der Insel zuwendet, auf der sie lebt. Dass Mann und Frau einen unterschiedlich großen Anteil am Prolog haben und das Meer hier Raum für sich beansprucht, macht neugierig auf die Beziehung zwischen Erik und Inez. In Rückblicken spult Erik sich zu Ereignissen des gerade vergangenen Sommers zurück, sortiert Erinnerungen, um sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Dabei steuert er Situationen auch mehrmals an - ein Schritt vor - zwei Schritte zurück.


    Nach einem Wechsel seines Studienfachs unternimmt Erik im Sommer vor Semesterbeginn einen Zelturlaub auf die schwedische Insel Gotland. Bei einem Tagesausflug auf die vorgelagerte Vogelschutzinsel Stora Karlsö lernt er die Ornitholgin Inez kennen. Inez hat sich bewusst an den Rand der Zivilisation und von anderen Menschen zurückgezogen. Obwohl er längst auf der Heimreise nach Deutschland sein sollte, mietet Erik sich im Gästezimmer des Leuchtturms ein. In Eriks Leben gibt es eine verbotene Schublade mit Informationen über seine Herkunft. Inez arbeitet seit mehreren Jahren als Ornithologin auf der Insel und bestreitet ihren Lebensunterhalt aus einem Promotionsstipendium. Zu den Touristen, die täglich mit der Fähre eintreffen, wahrt sie Distanz und delegiert die Führungen möglichst an ihren Mitarbeiter Guido. Inez war immer zurückhaltend. Bei Erik macht sie zunächst keine Ausnahme, warnt ihn sogar davor, sich einer Eremitin wie ihr zu nähern. Mit Anfang vierzig gehört Inez deutlich einer anderen Generation als Erik an. Zwischen den extrem zurückhaltenden Personen entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Beide kommunizieren auf unterschiedlichen Ebenen - Inez antwortet Erik häufig auf einer ganz anderen Ebene als der seiner Frage. Angezogen von der spröden Inez verlängert Erik seinen Aufenthalt von Tag zu Tag. Die Anwesenheit von Menschen auf der Vogelschutzinsel ist mit Rücksicht auf den Naturschutz streng reglementiert. Damit Erik länger auf der Insel bleiben kann, muss er pro forma zum Praktikanten ernannt werden und mit Inez ein paar Vögel beringen.


    Merkwürdig, dass für Feldberg, den rotblonden Mann, der ebenfalls im Leuchtturm wohnt, diese Regeln nicht gelten. Zwei Männer auf einer Insel, die aus unterschiedlichen Motiven Interesse an einer Frau haben. Feldberg beruft sich auf "höhere Stellen". Er hat sich offenbar selbst beauftragt, Inez Arbeit zu kontrollieren und ihr Unregelmäßigkeiten anzuhängen. Dieser Mann wirkt so verdächtig konspirativ, dass man sich spontan Schlapphut und Fernglas dazu denkt. Für Feldberg sind Menschen Objekte; sein unpersönlicher DDR-Jargon verbirgt umso mehr, je mehr Feldberg spricht. Feldberg und Inez haben sich in ihrer Jugend in der damaligen DDR gekannt. Ein Zeitungsbericht über Felix Ton, der in seinem brandenburgischen Wahlkreis für den Bundestag kandidieren will, stellt die Verknüpfung zwischen Feldberg und Inez her. Ton hat sich in der Nachwendezeit schnell angepasst und gemeinsam mit Wendeprofiteuren aus dem Westen an den wirtschaftlichen Umbrüchen gut verdient. Seine wenig schmeichelhafte Vergangenheit soll nun für Tons mediale Neuinszenierung zurechtgebogen werden. Dem karrierefördernden Weichspülvorgang, für den Ton ein medienwirksames Thema aufgetan hat, steht offenbar Inez im Weg.


    Fazit:
    "Sturz der Tage in die Nacht" habe ich zunächst als Ostseeroman gelesen und mich von der Figur der Inez einfangen lassen, die an der Grenze zwischen Zivilisation und Meer arbeitet. Inez scheint eins mit dem Meer und ihrer Tätigkeit zu sein. Inez und Erik hätte ich noch über ein paar hundert Seiten weiter bei ihrer täglichen Arbeit zusehen können. Auch beziehungsreiche Details wie Plinthosella squamosa, der Klapperstein, haben mich gefreut. Mit Feldbergs Auftreten dringt die Zeitgeschichte der Nachwendezeit in die Beziehung des Paars ein. Mir bisher unbekannte Floskeln aus Feldbergs Stasi-Jargon wie "ausbaufähige Legendierung" oder auch Tons "Grüne Elefanten" markieren eine äußerst bedrohliche Wendung. Die DDR-Realität öffnet sich eindrucksvoll durch ihr charakteristisches Vokabular. Die Nickis, Klettis und Pfeffis aus Inez Kindheit vermitteln mir ein starkes Gefühl der Heimeligkeit, obwohl ich diese Kindheitserinnerungen nicht teile.


    Am Ende der Geschichte bleiben noch viele Fragen offen. Wer sich auf die DDR-Vergangenheit der spröden Figuren und ihre jeweilige persönliche Wahrheit einlassen kann, wird mit einem großartigen Roman belohnt, der die DDR-Jugend seiner Figuren nicht verklärt - und von dem ich ihnen noch seitenlang vorschwärmen könnte.


    Text-Auszug:
    Sie sah auf einmal das Wohnheim in Einzelheiten vor sich, sie sah die gefliesten, schmutzigen Geimeinschaftsduschräume, die Flure im Neonlicht, sie sah die wackligen Möbel mit aufgeklebtem Holzfurnier, das abblätterte oder abgepult worden war von all den Mädchen, die vor ihr dort eingezogen waren, die ihre Kluft in dieselben Schränke gehängt hatten wie sie, ihre Dederonstrümpfe, ihre Manchesterhosen, die glänzenden Nylonanoraks, die Parkas und Römerlatschen, mit den Bildern kamen die Worte, altes vergessenes Vokabular, das das Fieber aufspürte, die Klammeraffen und Filzstifte, die in der Assiette gebackenen Kuchen, die Pfeffis, die sie gelutscht, die Plempe, die sie getrunken, die Lippenpomade und die Frommse, die sie unter der Matratze versteckt hatten, die blau-weißen Essengeldturnschuhe, der Muckefuck, die Nickis, die Klettis, die Abende, an denen sie mit den anderen übelst einen drauf gemacht, die Morgen, an denen sie blau gefeiert hatte, ohne für einen Moment zu vergessen, dass sie nicht in einem Lehrlingswohnheim sondern an einer erweiterten Oberschule mit Abitur hätte sein sollen. (S. 158/159)


    10 von 10 Punkten