'Krieg und Frieden' - Band 3, Teil 2 - Kapitel 01 - 09

  • In diesem Abschnitt gewinnt das Buch für mich zusehends an Tiefe. Die Begründung, die Tolstoi für den Ausbruch des Krieges (oder eigentlich für so ziemlich alles, was passiert) liefert ist einfach genial - und entspricht eigentlich dem was heute so oft gesagt wird: alles ist komplex. Wobei man natürlich über den vom Autor verwendeten Begriff der „geschichtlichen Notwendigkeit“ diskutieren kann.


    Kapitel II: „(...) ich schreibe ihnen russisch, weil ich alle Franzosen hass und mein Haß ebenso ihrer Sprache gilt, (...)“

    Da fällt mir ein, daß ich einmal irgendwo gehört oder gelesen habe, daß das Deutsche in den USA bis zum 1. Weltkrieg eine weit verbreitete Sprache war, aber im Zuge eben dieses Krieges dort nahezu verschwunden ist.


    „Mein armer Mann erträgt allerhand Strapazen und Hunger in jüdischen Kneipen, ...)“

    So einen Satz dürfte heute wohl auch kein Autor mehr schreiben.


    Im Kapitel IV dann das übliche Vorgehen der „Verantwortlichen“: Smolensk steht zwar kurz vor dem Fall, aber die Behörden verbreiten immer noch, daß überhaupt keine Gefahr bestehe. Wie soll man da Vertrauen haben? Und auch heute heißt es ja bei jedem irgendwie gearteten Unfall, daß für die Bevölkerung zu keiner Zeit Gefahr bestanden habe. Solchen Äußerungen vertraue ich schon lange nicht mehr.


    Grinsen mußte ich (Kapitel VI) über den Fürsten Wassilij (ich mußte erst mal überlegen, wer das eigentlich ist, so lange war von dem keine Rede mehr) und dessen sich je nach Großwetterlage verändernde Meinung. :grin


    Dann (Kapitel VIII) stirbt der alte Fürst Bolkonski. Das war dann eine der ersten Stellen, an denen ich emotional wirklich mit ging, noch stärker als „vor Ewigkeiten“ beim Tod der kleinen Fürstin.


    In dem Abschnitt ist ja von der Politik der verbrannten Erde die Rede. Da, bei diesen recht anschaulichen Schilderungen, habe ich mich gefragt, wie es mir wohl in so einer Situation erginge, wenn man von jetzt auf gleich alles zurücklassen und am Ende noch das eigene Haus anzünden müßte. Ich möchte lieber nicht so genau darüber nachdenken. :yikes

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ein toller Abschnitt! Mir gefällt der Wechsel zwischen weltanschaulichen Gedanken, genauer Beschreibung von Personen und Vorgängen und ironischen Einflechtungen.

    In diesem Abschnitt gewinnt das Buch für mich zusehends an Tiefe. Die Begründung, die Tolstoi für den Ausbruch des Krieges (oder eigentlich für so ziemlich alles, waspassiert) liefert ist einfach genial

    Wäre schon interessant zu wissen, was jetzt wirklich die Pläne Napoleons oder der Russen waren.

    Gerade das 4. Kapitel scheint mir Tolstois Beweis zu sein, dass die Aufgabe und der Brand Smolensk nicht geplant war, sondern durch viele andere Umstände einfach "passiert" ist.

    Das war überhaupt ein so großartiges Kapitel, nach dem ich erstmal eine Pause brauchte.

    Grinsen mußte ich (Kapitel VI) über den Fürsten Wassilij (ich mußte erst mal überlegen, wer das eigentlich ist, so lange war von dem keine Rede mehr) und dessensich je nach Großwetterlage verändernde Meinung.

    Und dann der "Mann von großen Verdiensten"!:lache Was das wohl für Verdienste waren, dass er in den Kreis aufgenommen wurde?

  • Das Verhalten des alten Fürsten Bolkonski ist schon seltsam. Was treibt ihn so um, dass er nachts nicht schlafen kann? Oder sind es rein körperliche Ursachen wie hoher Blutdruck, dass er so unruhig ist. Er lebt phasenweise ganz in der Vergangenheit. Oder ist das so etwas wie Demenz? Oder ahnt er, dass er bald sterben wird?
    Ich vermute, dass er sehr wohl begreift, dass die Situation durch den Krieg gefährlich ist. Und gerade deshalb blendet er die Gegenwart aus, bis es nicht mehr geht. Er nimmt seine letzten Kräfte zusammen, aber es ist zuviel.

    Immerhin schafft er es noch, Maria um Verzeihung zu bitten. Was in ihr vorgeht, ist auch keine Kleinigkeit.

  • Er lebt phasenweise ganz in der Vergangenheit. Oder ist das so etwas wie Demenz? Oder ahnt er, dass er bald sterben wird?
    Ich vermute, dass er sehr wohl begreift, dass die Situation durch den Krieg gefährlich ist. Und gerade deshalb blendet er die Gegenwart aus, bis es nicht mehr geht. Er nimmt seine letzten Kräfte zusammen, aber es ist zuviel.

    So habe ich das angenommen.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Und auch heute heißt es ja bei jedem irgendwie gearteten Unfall, daß für die Bevölkerung zu keiner Zeit Gefahr bestanden habe. Solchen Äußerungenvertraue ich schon lange nicht mehr.

    Seit Thomas de Maizière heißt es doch heutzutage "Ein Teil dieser Antworten würde Bevölkerung verunsichern". :grin Ob das besser ist?


    Wassilij und der "Mann von großen Verdiensten": Menschliche Verhaltensweisen haben sich über Jahrhunderte und über Kulturgrenzen hinweg nicht verändert. Das verblüfft mich am meisten. Und Tolstoi seziert dieses Verhalten und diese Widersprüche so wunderbar. Ein perfekter Beobachter und Analyst.

  • Seit Thomas de Maizière heißt es doch heutzutage "Ein Teil dieser Antworten würde Bevölkerung verunsichern". Ob das besser ist?

    Na, der war vielleicht der erste, der das ausgesprochen hat. Nur danach handeln tun Politiker und Behörden, seit ich mich entsinnen kann.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")