Milena Michiko Flašar: Ich nannte ihn Krawatte

  • Tiefbewegt habe ich gerade dieses Buch zugeschlagen und möchte eigentlich euren treffenden Rezensionen nicht mehr viel hinzufügen.
    Mich hat die Beschreibung der Isolation sehr ergriffen, genauso wie die zartfühlige Annäherung der beiden Protagonisten. Zerbrechlich erschien mir dieser Roman beim Lesen. Am Ende bin ich froh über die hauchdünn gewebten Erzählfäden, die zugleich durch unglaubliche Stärke ihre Figuren am Leben erhalten und mich beim Lesen berührt haben.


    Ich vergebe selten Punkte, aber hier muss ich einfach 10 Punkte vergeben.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Das Buch ist mir aufgefallen, als es 2012 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand.


    Da ich meistens reine Unterhaltungsliteratur lese, war ich gespannt, ob das Buch überhaupt etwas für mich ist und tatsächlich hatte ich Anlaufschwierigkeiten. Dadurch dass die Autorin in einem kurzen Satz oft eine wichtige Aussage auf den Punkt bringt, habe ich manche Sätze mehrfach gelesen und auf mich wirken lassen. Ich hatte das Gefühl, der Autorin und ihrer Sprache nicht gerecht zu werden, wenn ich das Buch einfach so schnell weglese.


    Doch irgendwann wurde die präzise Sprache von den Ereignissen in den Hintergrund gedrängt. Zum ersten Mal habe ich von „Hikikomori“ gehört, ein Phänomen in Japan, bei dem vor allem junge Menschen ihr Zimmer nicht mehr verlassen, weil sie das Gefühl haben, den Erwartungen der Gesellschaft und ihrer Familie nicht mehr gerecht zu werden. Sie verweigern sich und ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück, oft Monate oder Jahre.


    Taguchi ist ein solcher Hikikomori und als er sich nach über zwei Jahren wieder vor die Tür traut, trifft er auf einer Parkbank einen älteren Mann mit Anzug und Krawatte. Die beiden sitzen sich von da an täglich schweigend gegenüber, bis sie eines Tages ins Gespräch kommen. Da es einfacher ist, sich einem völlig Fremden anzuvertrauen, erzählen sie sich gegenseitig von den Dingen, die sie aus der Bahn geworfen haben und zeichnen dabei ein Bild des heutigen Japans, ein Land, in dem das gesellschaftliche Ansehen von größter Wichtigkeit ist. Doch hinter der Fassade der lächelnden Gesichter lauern manchmal Abgründe, Grausamkeit, Verzweiflung, Sehnsucht und vieles mehr.


    Immer wieder habe ich während des Lesens die Lektüre unterbrochen um zu googeln und mehr über die Auswüchse von sozialen Fehlentwicklungen in Japan zu erfahren.


    Am Ende habe ich tief bewegt das Buch zugeschlagen und über die Kunst der Autorin gestaunt, mit wenigen Worten und einer präzisen Sprache viel auszudrücken und auf 136 Seiten mehr zu erzählen als so mach anderer Autor in einem dicken Buch.


    10 von 10 Eulen