Carol Birch: Der Atem der Welt

  • Carol Birch: Der Atem der Welt
    Insel Verlag 2012. 395 S.
    ISBN-13: 978-3458175445. 19,95€
    Originaltitel: Jamrach’s Menagerie
    Übersetzerin: Christel Dormagen


    Verlagstext
    Jaffy Brown wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Londons Docklands im Jahr 1857 stinken nach Moder und Unrat, sind bevölkert von Matrosen und Huren. Eines Tages begegnet Jaffy einem aus einer Menagerie entlaufenen Tiger, einem herrlichen Geschöpf auf geschmeidigen Pfoten. Eine Begegnung, die ihn in eine fremde, verheißungsvolle Welt voll exotischer Schönheit, wilder Tiere und wundersamer Geschöpfe versetzt. Und die in Jaffy Sehnsucht nach der Weite des Meeres weckt. Mit seinem besten Freund Tim heuert er auf einem Walfänger an, der sie auf eine abenteuerliche Reise führt, tief hinein in die Stürme des Indischen Ozeans. Und schließlich an die Grenzen der Welt und ihres Menschseins. Carol Birch erzählt ihren aufwühlenden Roman mit herausragender Erfindungsgabe, gepaart mit einer leuchtenden sprachlichen Kraft – im Kopf das wogende Meer. Ein Gesang der Geister über den Wassern, von der Verlorenheit auf hoher See und von einer bewegenden Freundschaft, die selbst das Unfassbare überdauert.


    Die Autorin
    Carol Birch, geboren 1951, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht und wurde unter anderem mit dem David Higham Award ausgezeichnet. Mit Der Atem der Welt stand Birch auf der Shortlist des Man Booker Prize 2011. Birch lebt in Lancaster.


    Inhalt
    Kinder wie Jaffy Brown lernen im London des 19. Jahrhunderts auf der Straße fürs Leben. Der Achtjährige teilt sich mit seiner Mutter ein Zimmer mit zwei Prostituerten, für die er gegen Bezahlung Botengänge übernimmt. Schmutzig, hungrig und barfuß sucht der Junge in den offenen Abwasserkanälen nach Penny-Stücken. Über dem Viertel nördlich der Themse, das später East End genannt wird, hängen die Gerüche der Gerbereien wie eine Glocke. Jaffy wird mitten auf der Straße von einem gewaltigen bengalischen Tiger geschnappt und ein Stück mitgeschleift. Dieses (historisch belegte) Ereignis führt zur Bekanntschaft des Jungen mit dem Tierhändler Mr Jamrach, der Jaffy Arbeit in seiner Menagerie verschafft (die ebenfalls ein historisches Vorbild hat). Das Mistschaufeln übernimmt Jaffy zusätzlich zu seinem Job als Schankjunge im Spoony Sailor. Vom Besitzer des Pubs erhält Jaffy ein Paar Schuhe - vermutlich die ersten seines Lebens. Jaffys Kollege in Jamrachs Menagerie ist Tim Linver. Vom ersten Tag an kann der Junge sich darüber aufregen, dass Tim nur arbeitet, wenn der Chef gerade hersieht und trotzdem von beiden den besseren Job im Büro ergattert. Jaffy hegt erbitterte Eifersucht gegen Tim und ist dennoch fasziniert von dessen Entschluss zur See zu fahren wie seine Brüder.


    Charles Jamrach stattet im Auftrag eines betuchten Kunden die "Lysander" für eine Expedition aus, auf der einer der letzten Wale gefangen und aus Indonesien ein "Drache" nach England gebracht werden soll. Noch niemand hat das Tier, eine Art Waran, gesehen, aber Seeleute berichten, dass sie jemanden getroffen haben, der jemanden kennt, der das unheimliche Wesen gesehen hat. Jaffy heuert als Fünfzehnjähriger auf der Lysander an und entdeckt, dass er sich wohl schon seit der Zeit im Mutterleib nach dem Meer gesehnt haben muss. Voller Bewunderung sieht er zu den wenigen erfahrenen Seeleuten an Bord auf, wie zu Dan, der sich auf den Azoren in einer fremden Sprache verständigen kann. Die Beziehung zu Tim bleibt von Jaffys Eifersucht geprägt, der überzeugt ist, der bessere Seemann zu sein. Die Jagd auf den Waran ist kaum weniger gefährlich und blutrünstig als der Fang des Wals. Auf der Heimreise gerät die Lysander in einen heftigen Sturm, und die Mannschaft erlebt einen Schiffbruch, der den Erlebnissen der Besatzung des Walfängers Essex (1820) nachempfunden ist. In dieser Geschichte gibt es keine Helden, es geht nur darum zu überleben, ohne dabei wahnsinnig zu werden. "Alldies ist schon sehr lange her ...", mehrere kurze Einschübe verdeutlichen, dass der Erzähler Jaffy inzwischen am Ende seines Lebens seine Erinnerungen zum Besten gibt. Nach seiner Rettung hat er schließlich in relativer Sicherheit in London sein Auskommen als Zeichner gefunden.


    Fazit
    Die Welt der Seefahrt und des Walfangs lässt Carol Birch ihren Jaffy sehr nüchtern und in drastischem Jargon schildern. Die Fabulierlust der Autorin hat mich beeindruckt, mit der sie auf nur zwei Seiten die Atmospähre im London des Jahres 1857 hervorzaubert. Jaffys Reise verläuft längst nicht so exotisch wie das Abenteuer mit dem Tiger vermuten lässt, auch die erneute Aufarbeitung des Untergangs der Essex konnte mich nicht besonders fesseln. Dennoch war Jaffys Entwicklung vom barfüssigen Kind, das durch die Fussbodenritzen des Hauses die Themse blitzen sieht, zum weitgereisten Seemann die passende Unterhaltung für ein gemütliches Lesewochenende.


    Textauszug
    "Mittlerweile war es dunkel, und das Feuer unter den Trankesseln brannte schon. Rainey und Comeragh standen auf dem Schneidgerüst, der so genannten Flennstelling, und befestigten einen Haken hinter der Vorderflosse. Die Winde wurde in Gang gesetzt, und er wurde wie ein Apfel geschält, wurde langsam, wie ein Schwein am Spieß, solange gedreht, bis das Decksstück, breit wie ein Doppelbett und so lang, wie ein Haus hoch ist, bluttropfend von der Takelage hing." (S. 134)


    9 von 10 Punkten

  • Ihr wollt eine aufregende Geschichte? Vielleicht etwas Grauenerregendes das euch an einen Schauerroman des vergangenen 20. Jahrhunderts erinnert? Ich hätte da was ganz Spezielles für euch. In diesem Buch mit dem wunderschönen Umschlagbild, das unterschwellig an ein Jugendbuch erinnert, habe ich einen spannenden Abenteuerroman gefunden der vom Leben und den Abenteuern von Jaffy Brown erzählt. Zu Beginn reizvoll geschriebene Passagen die das vergangene London von anno 1857 aufleben lassen und vom alltäglichen Leben der ärmlichen Bewohner des Stadtteils Bermondsay berichten. Der legendäre und beinahe unmenschliche Mief den verkrusteter Dreck und labbriger Modder verbreiten und den Leser die Nase rümpfen und manchen sogar die Augen tränen lassen folgen Abschnitte vollendeter Schönheit wenn es um die Beschreibung exotischer Tiere geht um dann von schrecklichen Szenen abgelöst zu werden dass sich mir sämtliche Nackenhaare gesträubt haben und mich dazu gebracht haben, über die Grenzen die ein Mensch körperlich und geistig erleiden kann, nachzudenken.


    Ein bengalischer Tiger entkommt auf dem Transport seinem Käfig und streunt durch London. Ein kleiner Dreikäsehoch namens Jaffy fühlt sich magisch von diesem ebenso gefährlichen wie anmutigen Geschöpf angezogen und tätschelt ihm die Nase als wäre es eine kleine Miezekatze. Als der Tiger den Jungen umwirft und im Maul davon trägt wird er in letzter Sekunde durch einen Sprung von Mr Jamrach auf den Rücken des Tigers gerettet. Der erfolgreiche Importeur und Händler von wilden Tieren jeglicher Art stellt Jaffy, dessen furchtlose Tat natürlich DAS Tagesgespräch war, ein und er kümmert sich fortan um das Wohl der aus fernen Ländern stammenden Tiere. Mit fünfzehn Jahren heuert Jaffy auf einem Walfänger an dessen Kapitän nebst dem Walfang den Auftrag hat einem reichen Londoner einen lebendigen Drachen heimzubringen. Die lange Seereise findet ihr Ziel an der Indonesischen Küste auf einer der kleinen Sunada-Insel auf dem die Drachen leben sollen. Es gelingt der Crew tatsächlich einen wahrhaft riesigen Komodowaran zu fangen! Aber von nun ändert sich alles. Die Stimmung kippt und der Aberglaube, der den Seefahrer seit jeher eigen ist, hält in übermässigen Masse Einzug auf dem Schiff...


    Der Roman wurde für den Man Booker Preis nominiert und das es ein spezielles Buch merkt man beim lesen. Der erste Abschnitt strotz nur so von Adjektiven und Beschreibungen und nach drei Seiten hatte mich die Autorin mit ihrem Stil am Haken. Ein stimmungsvolles, wenn auch eher stinkendes Ambiente breitet sich aus und die Geschichte vom kleinen Jaffy liest sich flüssig herunter. Mit der Heuer auf dem Schiff ändert sich die Grundstimmung des Romans. Er wird zunehmend düsterer und mit dem Erlegen des ersten Wals wird es erstmals blutig und eklig. Mit dem Ankern vor den Inseln Indonesien verschärft sich dieses zwiespältige Gefühl und schlägt definitiv in eine finstre Atmosphäre um. Der Roman ist nun alles andere als Vergnüglich zu lesen und schlägt mir auf den Magen. Der Stil der Autorin ändert sich mit und trägt zu dieser schwer verdaulichen Stimmung bei. Ich lese zügig und will gewisse Szenen nicht bewusst wahrnehmen, doch ich nehme sie auf dumpfe und geradezu lethargische Art auf. Meine Gedanken strömen in alle Richtungen wie das Wasser im Meer. Eingeklemmt zwischen einem wahnsinnigen Gott und einer erbarmungslosen Natur habe Zeit zum Nachdenken. Das Verstehen der Geschichte steigt und fällt wie die Wellen und um meine Ohren pfeift der gnadenlose Atem der Welt...


    7 bis 8 Eulenpunkte von mir für diesen erbarmungslosen und eher deftigen Roman.

  • Meine Meinung: Ich hatte noch nichts über dieses Buch gehört als es mir aufgrund des interessanten Covers ins Auge fiel. Auf dem meiner Meinung nach wunderschönen Bild ist im Vordergrund ein Tiger zu sehen und mit dem Auftauchen dieses Tieres beginnt sich im Leben Jaffys, des Erzählers, alles zu ändern. Jaffy ist noch ein Kind und hat noch nie einen Tiger gesehen und so spürt er keine Angst, als das entlaufene Tier auf ihn zu kommt. Er will ihm unbedingt über die Nase streicheln, was ihm auch gelingt, doch dann wirft ihn die satte Riesenkatze um und schleift ihn einige Meter mit sich. Der Tierhändler Mr. Jamrach wird dadurch auf ihn aufmerksam und so kommt Jaffy an den ersten Job seines Lebens, lernt seinen zukünftigen Freund Tim kennen und erhält eine schulische Ausbildung, die im London des Jahres 1857 nicht unbedingt üblich war.


    Mit fünfzehn Jahren entdeckt Jaffy seine Liebe zur See und als Tim auf dem Walfänger Lysander anheuert, geht auch er auf das Schiff. Ziel ist eine Inselgruppe bei Indonesien, auf der es Drachen geben soll – einen solchen Drachen sollen sie fangen und mit nach London bringen.


    Dieses Buch besteht für mich aus drei wichtigen Abschnitten. Der erste Teil befasst sich mit Jaffys Leben im damaligen London. Bunt und üppig beschreibt Carol Birch hier die Stadt und lässt sie mit all ihren Bewohnern, Farben und Gerüchen lebendig vor dem Auge des Lesers erstehen. Ich konnte fast nicht genug bekommen von all den eindrucksvollen Schilderungen und wäre gern noch etwas länger in dieser Stadt geblieben, doch es ist ja Jaffys Lebensgeschichte und so muss man ihm hinaus auf das Meer folgen.


    Und damit beginnt der zweite wichtige Abschnitt in Jaffys Leben. Nun ist es nicht mehr die große und bunte lebendige Stadt, in der man immer wieder neue Bilder entdeckt – jetzt steht der kleine Kosmos des Walfangschiffes im Mittelpunkt. Eindrucksstark werden auch hier die einzelnen Personen gezeichnet und erschreckend detailreich ergeht sich die Autorin nun in der Beschreibung des Walfanges. Immer intensiver wird das Buch und nach dem auch noch der gesuchte Drache an Bord ist, überschlagen sich die Ereignisse. Es beginnt dann leider eine über 100 Seiten lange Phase, in der die äußeren Umstände keine Rolle mehr spielen und nur noch die innere Entwicklung der einzelnen Personen im Mittelpunkt steht, das auf so grausame Weise, und so quälend lang, dass ich bei diesem Teil hin- und hergerissen war zwischen Faszination und dem Widerwillen weiter zu lesen.
    Im letzen Abschnitt dann ist es, als sei die erzählerische Kraft der Autorin ein wenig verpufft, doch das mag auch daran liegen, dass es sich eher um eine Art Abspann handelt.


    Fazit: Nach dem eindrucksvollen Beginn hatte ich einen spannenden (und gefälligen) Abenteuerroman erwartet, der sich aber nach und nach in eine Art düsteren Albtraum verwandelte. Ich habe das Buch über eine ganze Strecke nicht gern gelesen und doch gibt es so viele faszinierende Bilder und Szenen, die das große Talent der Autorin zeigen, dass es auf jeden Fall 8 Eulenpünktchen verdient hat.

  • Zusammenfassung:
    1857 London: Die Menschen sind arm und das bisschen Geld, das sie verdienen wird direkt investiert. Der kleine Jaffy wird von einem Tiger "gegessen". Er stirbt nicht, der Tiger spielt nur mit ihm. Charles Jamrach, Besitzer eines Tierhandels, bietet ihm einen Job bei ihm an. Später wird Jaffy mit seinem Kumpel Tim auf einem Walfänger namens Lysander angeheuert. Das Schiff gerät in einen Sturm, jetzt zählt nur noch das pralle Überleben.


    Meine Meinung:
    Es handelt sich hierbei um keinen normalen Abenteuerroman. Es ist blutrünstig und an manchen Stellen sogar richtig eklig. Carol Birch hat alles detailgetreu beschrieben, was einem bei der Beschreibung von London richtig gut tut. Man kann sich fast selber an Ort und Stelle versetzen. An manchen Stellen fand ich das Buch dann doch ein bisschen langweilig. Es war aber garnicht so schlecht und es war mal etwas anderes.

  • Das hört sich ganz danach an, dass ich mir dieses Buch nun bestellen werde ...Der Inhalt liest sich unglaublich spannend. Was für ein außergewöhnliches, dramatisches Thema. Ich habe große Lust bekommen, es zu lesen. :danke

  • London, 1859: Jaffy Brown, ein Junge wie jeder andere, der in der unfreundlichen Welt der Londoner Docks aufwächst, erlebt eine magische Begegnung. Aus Mr. Jamrachs Menagerie ist ein Tiger ausgebrochen – und steht plötzlich vor dem Jungen. Doch statt den Jungen zu töten oder zu fressen trägt der Tiger ihn in seinem Maul. Für Jaffy ist dieses Erlebnis der Startschuss für ein abenteuerreiches Leben: ein Leben, das ihn zunächst in die Menagerie und später auf einen Walfänger bringen wird, der ihn zu den schönsten Orten der Erde und zu den tiefsten menschlichen Abgründen führen wird …


    Ein klassischer Abenteuerroman in modernem Gewand! „Der Atem der Welt“ erzählt von großen Seefahrergeschichten, von Freundschaft und vom Erwachsenwerden. Eine Geschichte, die mit einem großen Paukenschlag startet und mit einem großen endet. Dazwischen entfaltet sich eine Geschichte, die mit großer Farbenvielfalt und viel Liebe zum Detail erzählt wird. Eine Geschichte, die eine ungeheuer dramatische Entwicklung nimmt, manchmal gar Entsetzen beim Leser hervorruft. Aber „Der Atem der Welt“ will – so mein Eindruck – an mancher Stelle zu viel. Die doch überschaubare Seitenzahl verhindert, dass sich Autorin und Leser an mancher Stelle ausführlicher mit dem Thema aussetzen. Ein gewisses Gefühl der Überfrachtung lässt sich nicht vermeiden. Doch der intensive, lebendige Stil und die tolle Sprache reißen einiges wieder heraus und machen „Der Atem der Welt“ zu einem tollen Leseerlebnis!


    8/10 Eulenpunkten

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)