Martin Horvath - Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten

  • Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten
    Autor: Martin Horvath
    Verlag: DVA
    Erschienen: August 2012
    Seitenzahl: 345
    ISBN-10: 42104547X
    ISBN-13: 978-3421045478
    Preis: 19.99 EUR


    In diesem wunderbaren Roman von Martin Horvath begegnen wir Ali. Nach eigenem Bekunden spricht Ali so um die vierzig Sprachen, er kann alles und er weiß natürlich auch alles. Ali ist 15 Jahre alt – so sagt er wenigstens – und lebt in einem Wiener Asylbewerberheim. Dort sieht er seine Aufgabe darin, seine Mitbewohner zu beschützen, ihnen die schlimmen Erinnerungen erträglich zu machen – ihnen einfach immer und überall zur Seite zu stehen. Und Ali weiß wie man am besten helfen kann. Durch das Erzählen. Er ist ein großer Erzähler und schafft es ohne Mühe, stets die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu gewinnen.


    Über seinen Aufenthalt in dem Asylbewerberwohnheim sagt Ali selbst: „Ich bin hier in diesem Haus gelandet, um die Geschichten meiner Mitbewohner der Finsternis zu entreißen“.


    Nach dem Lesen der ersten Seiten vermutet man, einen modernen Schelmenroman zu lesen. Doch dieses Buch ist weitaus mehr als ein Schelmenroman. Dieses Buch ist so facettenreich, dass eine genaue Einordnung in ein Genre, eine richtige Klassifizierung, kaum möglich ist. Denn dieses Buch ist auch eine fundamentale Kritik an der westlichen Gesellschaft, es ist eine Bestandsaufnahme vom Stand der Fremdenfeindlichkeit, es entlarvt die Figuren, die sich selbst als Gutmenschen bezeichnen, deren Handlungen dazu aber in einem krassen Widerspruch stehen, das Buch zeigt auf, dass Bürokratie offenbar immer noch einen höheren Stellenwert hat als die schlichte Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit.


    Dieses Buch bettelt nicht um Verständnis, es fordert Verständnis geradezu ein. Dieses Buch wirkt wie ein Spiegel den man den Menschen vors Gesicht hält. Und nun liegt aber die Entscheidung bei den Menschen, ob sie in diesen Spiegel auch hinein schauen wollen.


    Dieses Buch ist voller tragisch komischer Geschichten, von lustigen Begebenheiten und von Schilderungen die einfach nur unfassbar traurig und tragisch sind. So erzählt beispielsweise einer der ehemaligen Kindersoldaten darüber, wie er von seinem Kommandanten gezwungen wurde ein Mädchen zu vergewaltigen und wie man ihn dann auch noch zwang, dieses junge Mädchen zu töten. Und als Leser sieht man auch in die vor Angst geweiteten Augen des Mädchens, man sieht in ihnen das Begreifen ihrer hoffnungslosen Lage. Die Schilderung dieser Begebenheit ist in meinen Augen eine schriftstellerische Meisterleistung, eine schriftstellerische Leistung von einem wirklichen Könner.


    Dieser Roman weicht nicht aus, er beschreibt durch den Mund des Ich-Erzählers Ali. Es werden auch keine Problemlösungen angeboten – denn die dürften auf der Hand liegen. Dieser Roman ist in jedem Fall ein Glücksfall für unsere immer niveauloser werdende Literatur. Martin Horvath ist einer der neuen Autoren die Mut machen, die hoffen lassen, dass auch die Literatur wieder Fuß fasst, dass sie (die Literatur) auch irgendwann die Nase von diesem teilweise peinlichen Bestsellergeschreibsel voll hat.
    Martin Horvath wurde 1967 in Wien geboren, studierte dort Musik und darstellende Kunst und lebt seit 1988 als freischaffender Musiker.


    Fazit: Ein wirklich großartiger Roman, unbedingt lesenswert. 10 Eulenpunkte

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Danke für deine aufschlußreiche Rezension, Voltaire! :wave Das Buch stand schon auf der Wunschliste und wird nun ein paar Plätze nach oben wandern :grin

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • Soeben beendet und... Der positiven Meinung von Voltaire kann ich mich im Großen und Ganzen anschließen, wenn auch mit kleinen Abstrichen....


    Meine Meinung:


    In "Mohr im Hemd" (übrigens eine österreichische Süßspeise) erzählt der nach eigenen Angaben 15-jährige Ali von seinem Leben und dem der anderen Bewohner im Asylbewerberheim in Wien. Durch Ali und dessen Fabulierkunst bietet Autor Martin Horvath dem Leser ein präzises, erschreckendes, nüchternes und zugleich tief berührendes Bild von den Schicksalen jener Menschen, die nach Westeuropa kommen, um dem Elend, Krieg und der Verfolgung in ihrem Heimatland zu entgehen. Dass ihre Hoffnung auf ein besseres Leben nur allzuoft an den westlichen Gesetzen und der allgegenwärtigen Bürokratie scheitert, wird hier so plastisch dargestellt, dass dem Leser trotz der liebevollen Erzählweise nur allzu oft ein Kloß im Halse steckt. Doch nicht nur die großen, sondern auch die ganz alltäglichen Dramen und die Diskriminierung auf der Straße werden thematisiert und als "normal" geschildert, was nicht nur betroffen macht, sondern auch zum Nachdenken über die eigenen Einstellungen und mögliche Vorurteile anregt. Mit der Figur des Ali hat Horvath einen Protagonisten erschaffen, der viel zu erzählen weiß, der die Schicksale seiner Mitbewohner auf ganz eigene Weise bewältigt, doch selbst eher diffus bleibt. Erst nach und nach erfährt man mehr über ihn selbst, wobei Fakten und Fiktion zunehmend mehr verschwimmen und fast schon ins Surreale abdriften, was mir persönlich nicht so gut gefallen hat, auch wenn es zu der Figur des 15-Jährigen, der mühelos 40 Sprachen beherrscht und aus den Gesichtern seiner Mitmenschen deren Schicksale abliest, vielleicht passen mag. Nichtsdestotrotz überzeugt Horvath mit seiner Geschichte, die in anspruchsvoller und fesselnder Sprachgewalt mit bittersüßer Leichtigkeit den Finger in die Wunde legt und so Schmerz und Wut erzeugt.


    Von mir 8 Punkte!


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    P.S.: Da fällt mir ein: @ Voltaire: Wie hast du den Epilog empfunden?

  • Von mir nur eine ungewöhnlich kurze Meinungsäusserung. Mit fehlt im Moment die Zeit eine längere Rezi zu schreiben.


    Wenn Herr Voltaire 10 Punkte für ein Buch vergibt ist das für mich wie ein Kaufbefehl. Nicht nur das, ich habe das Buch dann auch gleich gelesen und nicht den Umweg über den SuB machen lassen.


    Die Geschichte handelt von jugendlichen Asylbewerben die in Wien untergebracht sind. Sie stammen aus verschiedenen Kontinenten und werden durch die Umstände zu einer Schicksalsgemeinschaft. Während die einen sich schnell eingliedern sind andere eher der Typ Einzelgänger und versuchen sich abzusondern. Aber die räumliche Enge und mangelnde Privatsphäre lässt dies nicht zu und so kommen sich die jungen Leute zwangsmässig näher. Ali übernimmt die Rolle des allwissenden Erzählers. Der 15-jährige ist klug, spricht unzählige Sprachen und fungiert zugleich als Bindeglied zwischen den Protagonisten wie auch zum/zur Leser/-in und erweist sich als umfassender Kommentator. Ich verstehe warum der Autor die Figur so angelegt hat, auch in Anbetracht des Schlusses, aber mir hat Ali des öfteren die Grenze zum nervigen, altklugen Besserwissers überschritten. Sprachlich gewiss versiert und gewitzt aber manchmal einfach übers Ziel hinausgeschossen. Hier ziehe ich einen Eulenpunkt ab.


    Die Geschichten der Figuren gehen unter die Haut. Teilweise lakonisch erzählt entwickeln sie nach und nach den ganzen Schrecken den die Menschen erfahren mussten und erzeugen Emotionen beim Leser. Diese Menschen verdienen wohl alle zu 100 % Asyl gewährt zu kriegen. Andere Flüchtlinge die aus wirtschaftlichen Gründen um Asyl nachsuchen und nur eine geringe Chance haben welches gewährt zu kriegen bleiben aussen vor und so kann der Autor, natürlich in der Figur von Ali, Kritik an der Politik, den Beamten und dem Asylwesen als Ganzes äussern. Hier fehlt mir die Objektivität und dafür ziehe ich einen weiteren Eulenpunkt ab.


    Aber lesenswert ist dieser Roman ganz gewiss und er regt zum nachdenken an. Der Autor spielt über den ganzen Roman hinweg mit der Sprache und erweist sich als wortgewandt. Zudem macht er mir deutlich was für ein privilegiertes Leben ich hier in der Schweiz führen darf. 8 Eulenpunkte von mir.