Wo Milch und Honig fließen - Grace McCleen

  • Originaltitel The Land of Decoration
    übersetzt von Barbara Heller
    Deutsche Verlags-Anstalt
    ISBN-13: 9783421045461
    ISBN-10: 3421045461
    Belletristik
    Ausgabe 03/2013
    Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 384 Seiten


    Verlagsseite
    Autorenseite englisch


    Gestern Abend begann ich ein Buch und konnte es nicht mehr aus der Hand legen, bis ich (viel zu schnell) auf der letzten Seite ankam. Viel Schlaf bekam ich in der vergangenen Nacht also nicht. Zu verdanken habe ich dies dem Debütroman von Grace McCleen, in dem sie eine ebenso wundervolle wie erschreckende Geschichte erzählt.


    Die in Wales geborene Autorin lebt heute in London. Ihr Roman Wo Milch und Honig fließen erscheint in über 20 Ländern und wurde mit dem Desmond Eliot Prize ausgezeichnet. Mir hat er so gut gefallen, dass ich hoffe, dass der zweite in Arbeit befindliche Roman bald auf den Markt kommt. McCleen studierte Englische Literatur und bereits ein flüchtiger Blick auf ihre Homepage verrät ihre Vielseitigkeit. Neben dem Schreiben betätigt sie sich auch als Sängerin, Songwriterin und Malerin. Und wie Judith, ihre 10jährige Hauptfigur in Wo Milch und Honig fließen, fertigt sie kleine Figuren an.


    Die von Judith leben in einer Welt, die das Mädchen aus Dingen gefertigt hat, die für andere allenfalls Müll sind. Häuser aus Keksschachteln, Wolken aus Watte, das Meer besteht aus einem alten Spiegel. Das Mädchen hat viel Fantasie. Doch trotz dieser Fantasie ist Judiths Welt wenig freudvoll. Durch den Tod ihrer Mutter muss sie nicht nur auf diese verzichten, sondern lebt von klein auf mit dem Schuldgefühl, für eben diesen Tod verantwortlich zu sein. Ihr Vater, in seinem Schmerz gefangen, scheint sie nicht lieben zu können. Viel zu sehr ist er auch mit seinem Dienst für den Glauben verwachsen. Der drohende Weltuntergang lässt ihn zusammen mit Judith und anderen Glaubensgenossen von Haustür zu Haustür ziehen, in der Hoffnung so viele Menschen wie möglich zu retten.


    Bereits dabei hatte ich schwer zu schlucken, denn Judith lebt quasi von Geburt an in dem Glauben an das baldige Ende. Erschwerend hinzu kommt, dass ihre Lebensweise sie zur Außenseiterin (nicht nur) in der Schule macht. Permanent drangsaliert und zu häufig sich selbst überlassen, zieht sie sich so oft sie kann in das Land der Zierde zurück. Jene Welt, von ihr selbst erschaffen, in der sie die Kontrolle über alles hat und etwas bewirken kann. Doch bald scheint sie direkt mit Gott kommunizieren zu können und das, was sie in ihrem Land der Zierde erreicht, scheint überaus reale Auswirkungen zu haben.


    Gleichermaßen faszinierend wie beklemmend offenbart sich Stück für Stück die Welt, in der Judith und ihr Vater leben. Faszinierend im Bezug auf Judiths Gedankenwelt und ihre Kreativität. Beklemmend, weil nicht nur ihr Alltag erschreckend reale Vorkommnisse beinhaltet, die überall und allzeit gleich in unserer unmittelbaren Umgebung geschehen (können). Emotionen und Schutzmechanismen treten zutage, die nicht immer hilfreich, aber absolut nachvollziehbar sind. Beklemmend auch, weil von allen Erwachsenen, die Judith umgeben, einzig eine Lehrerin willens scheint genauer hinzusehen und zu helfen. Weil Judith aufgrund ihrer Geschichte gar nicht in der Lage ist, einfach auf kindliche Weise Hilfe anzunehmen.


    Judith offenbart sich als sehr tiefgründig, stellenweise auch humorvoll, dann wieder leicht ironisch, hilfsbereit und bescheiden, altklug und manchmal philosophisch. Ihre Gedanken sind einerseits sehr erwachsen, da ihr Tagesablauf ihr wenig Zeit lässt, Kind zu sein. Von einem fröhlichen Kind ganz zu schweigen. Andererseits hat McCleen einen sehr gelungenen Übergang zu Judiths naivem, kindlichen Blick geschaffen. Beispielsweise als sie beim Predigen an einer Tür klingeln und eine junge drogensüchtige Frau öffnet. Judith selbst bemerkt die Drogensucht an sich nicht. Aber durch ihre Augen bemerken sie McCleens LeserInnen sehr wohl. Etwa durch die Erwähnung von Blutspuren und Stichstellen zwischen den Zehen. Genauso gekonnt formuliert die Autorin die Repressalien, die Judith und ihr Vater bald tagtäglich erleben. Sie spricht sie an, ohne sie konkret zu erwähnen und doch kann man sich als LeserIn genau vorstellen, was in diesem Moment passiert. Ängste und Nöte spürt man ebenso deutlich wie Hilflosigkeit und Wut. Man leidet (nicht nur) mit Judith mit. Doch bei allem was sie erleben, hebt das junge Mädchen seinen Blick auch auf einfühlsame Weise. Bemerkt die eventuellen Hintergründe für bestimmte Verhaltensweisen anderer. Versucht Verständnis zu empfinden und Wutgedanken zu kontrollieren. In Wo Milch und Honig fließen ist Judiths Welt also nicht einfach nur schematisch schwarz-weiß gezeichnet, nicht willkürlich in gut und böse geteilt. Vielmehr wird sehr deutlich, dass eine Medaille immer zwei Seiten hat.


    Der Glauben spielt in diesem Buch eine große Rolle. Wer bis jetzt noch nicht viel über Jehovas Zeugen weiß, wird nach der Lektüre von McCleens Roman mit Sicherheit schlauer sein. Die Autorin baut Bibelzitate ein, die Argumentations-, Sicht- und Lebensweise dieser Glaubensgemeinschaft. Was anfangs fast zu viel wirkt, bildet jedoch eine wichtige und stimmige Grundlage für die eigentliche Geschichte.


    Die handelt von Mobbing und Psychoterror. Von Einsamkeit, Duldsamkeit und Hilflosigkeit. Von einem tiefgläubigen Menschen, der seinen Glauben zu verlieren droht. Von täglicher Gewalt und den Verlierern moderner Gesellschaften. Gleichzeitig hält man jedoch auch einen Roman in Händen, der leisen Humor, Ironie, Fantasie und Hoffnung enthält. Der eloquent aber niemals belehrend Dinge anspricht, die wie bereits erwähnt direkt um uns herum geschehen (können). Der von Mut handelt und davon, bestimmte Vorgänge nicht einfach so hinzunehmen. Von eigenständigem Denken und was die Kraft der Gedanken bewirken kann.


    Vollbringt tatsächlich Gott Wunder durch Judith? Oder kommen hier nur einige Zufälle zusammen und ihre Gespräche mit Gott entspringen einer Psyche, die unter dem Druck des Erlebten zusammenbricht? Die Interpretation bleibt McCleens LeserInnen letztlich selbst überlassen, denn das Ende der Geschichte hat sie genauso überraschend wie passend gestaltet.


    Fazit:
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    Wo Milch und Honig fließen - ungewöhnlich, aber empfehlenswert. Ein leicht lesbares, aber keineswegs einfaches Buch. Eine Geschichte, die berührt und überzeugt. Mit authentisch wirkenden Charakteren in einer vielleicht fremd wirkenden aber durchaus echt anmutenden Welt. Eine, die LeserInnen mitfiebern und -fühlen lässt. Eine, die nachdenklich macht. Von einer Autorin, die es versteht, vieles anzusprechen, ohne es explizit zu erwähnen. Ein sehr gelungenes Debüt, das die volle Punktezahl verdient.


    Copyright ©, 2013 Antje Jürgens (AJ)

    Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.
    Mark Twain

  • Mensch, diese tolle Rezi ist völlig an mir vorüber gegangen! Erst jetzt, nachdem mich eine Rezi in der neuen bücher neugierig gemacht hat, hab ich sie hier entdeckt. Das hört sich toll an!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Das titelgebende ‚Land of decoration’, das ‚Land von allen Ländern’, wie es in der älteren Luther-Übersetzung heißt, ist ein Spielzeugland aus Eierkartons und Bonbonpapier, Teppichresten, Plastikstengeln von Eis am Stiel, Kronkorken und leeren Erbsenschoten. Seine BewohnerInnen bestehen aus Knet und Ton und Pfeifenreinigern in Stoffrestchen. Die Schöpferin dieses Landes ist die zehnjährige Judith.


    Judith lebt mit ihrem Vater, einem Fabrikarbeiter, in einer kleinen Stadt. Sie leben für sich, da sie einer strengen christlichen Sekte angehören. Ihrem Glauben nach steht der Weltuntergang kurz bevor, ihre Aufgabe ist, die Menschen aufzuklären und sie zu Gott zu führen, der allein sie vor dem endgültigen Ende retten kann. Dieses Leben macht aus Judith ein einsames Kind. Sie hat keine FreundInnen, in der Schule wird sie gemobbt. Ihr Vater spricht wenig mit ihr, wichtig ist nur die gemeinsame Bibellektüre und der regelmäßige Besuch des Versammlungshauses der Sekte. Als der Junge aus der Klasse, der Judith am schlimmsten quält, sie mit einer Drohung in Todesangst versetzt, kann Judith nur noch ein Wunder helfen, davon ist sie überzeugt.


    Nun liegen Wunder für Kinder durchaus im Bereich des Möglichen, umso bei einem kleinen Mädchen mit Judiths Erziehung. Die Drohung und ihr Glaube an die Möglichkeiten des Glaubens öffnen Judith an einem Wochenende die Augen für wahre Wunder. Genauer gesagt, die Ohren, denn Gott beginnt mit ihr zu sprechen. Noch ein Wunder geschieht, das Judith den Schulbesuch und damit das drohende Treffen mit dem Jungen erspart. Damit ist die Sache klar. Es gibt Wunder. Und Judith kann sie bewirken. Allerdings hat Gott sie gewarnt. Wenn man selbst etwas unternimmt, kann Gutes daraus entstehen, aber das muß nicht so sein. Dinge aber ungeschehen zu machen, Entwicklungen rückgängig, das geht nicht. So groß ihr Glaube auch ist, eben das wollte Judith nicht glauben. Die Folgen von Wundern, so stellt sich heraus, sind bald nicht mehr beherrschbar. Der Weltuntergang droht allen Ernstes.


    McCleens Szenario und ihre Geschichte scheinen geradewegs aus der christlichen Tendenzliteratur plattester Sorte zu stammen. Tatsächlich ist dieser Roman ein Fall genialer Mimikry. McCleen spielt höchst gewandt mit den Versatzstücken des Genres. Sie ist selbst unter christlichen FundamentalistInnen aufgewachsen und weiß exakt, wovon sie erzählt. Wie sie das macht, ist eine besondere Kunst. Schon auf den ersten Seiten, in der Beschreibung der Entstehung von Judiths Miniatur-Bastelland, liegt die Lösung. Weitere Fingerzeige gibt es im Verlauf der Geschichte. Magisches Denken eines Kindes und die vertrauten Bestandteile und Bruchstücke aus dem Bereich des christlichen Glaubens werden geschickt ineinander gewoben. Der rote Faden des Verstehens, wie alles zusammenhängt, ist für aufmerksame Leserinnen immer sichtbar. Das hier ist kein metaphysischer Roman, im Gegenteil verläßt hier gar nichts den festen Erdboden.


    Was sich hinter dem Ganzen verbirgt, ist eine wunderschöne, sehr traurige und emotionale Geschichte über eine Vater-Tochter-Beziehung, die im Keim angelegt war, sich aber nie entfalten konnte. Die Gründe liegen im Menschlichen, auch wenn die Ursache Forderungen des behaupteten Glaubens sind. McCleen ist eine der Autorinnen, die ihren Figuren, gleich, wie unmenschlich sie handeln, immer mit Respekt und Menschenliebe begegnet. Nicht eines der Klischees z.B. über Sektenmitglieder begegnet einer hier. Ähnlich ist es mit den Szenen des Mobbing, dem Judith ausgesetzt ist. McCleen bliebt hierbei kurz, beschreibt prägnant, aber ohne, wie es so häufig vorkommt, die Leserin wie das Opfer auf den Buchseiten gleichfalls ihrer Würde zu berauben, indem sie zur Voyeuerin gemacht wird. Hier wird Mitgefühl evoziert, nicht unterliegender allgemeiner Sadismus behauptet.


    Die Erzählstimme ist die der zehnjährigen Protagonistin, ein Kind, das zu Frühreife und Altklugheit tendiert. Das ist insofern stimmig, da Judith vornehmlich mit Erwachsenen Umgang hat und ihre Hauptlektüre die Bibel und sektengemäße Exegese ist. Ein philosophischer Schlagabtausch mit ‚Gott’ über Schuld und Unschuld ist so gesehen durchaus im Bereich des Möglichen. Kindliche Rechthaberei, Unsicherheit und Witz schließt das alles nicht aus. Judith legt mitunter eine geradezu tödliche Logik an den Tag, vor allem, wenn sie langsam anfängt, Selbstbewußtsein zu entwickeln. Dann ist auch ‚Gott’ nicht mehr vor bissigen Antworten sicher.
    Am Ende gibt es tatsächlich das gefürchtete Harmagedon. Aber auch ein Wunder. Das hat alles mit Magie oder Glaube gar nichts mehr zu tun. Nur mit Liebe. Die ist entschieden von dieser Welt.


    Dieses Buch ebenso. Und das ist auch ein Wunder, aber echt!

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich kann Atis und magalis Rezensionen nichts hinzufügen und hätte es auch nie so auf den Punkt bringen können. Ein wunderbares Buch, dass man nicht mehr aus der Hand legen kann und dem ich wirklich sehr sehr viele Leser wünsche.