Die toten Seelen - Nikolai Gogol

  • Nach Jahren lese ich dieses Buch zum zweiten Mal. Ich bin erst auf der zweiten Seite und habe schon mehrmals über lustige Formulierungen schmunzeln müssen.


    Zitat: Die Außenfassade des Gasthauses entsprach genau seinem Inneren: sie war sehr lang und hatte zwei Geschoße.

  • Ich glaube, mir ist es bisher noch nicht untergekommen, dass ein Autor ein eigenes Werk kommentiert. Er macht sich Sorgen, wie die Leser die Figur des Kollegienrats aufnehmen.
    Er weist auch den Leser darauf hin, wie schwer es ist, manche Personen zu charakterisieren.


    Manchmal habe ich das Gefühl, der Autor ist selbst als unsichtbare Person in seiner eigenen Erzählung anwesend und kommentiert die Handlung.


    Das ist doch auch eine gelungene Formulierung:
    Kakerlaken, die wie Dörrpflaumen aus allen Ecken hervorgucken

  • Tschitschikow ist schon eine verdächtige Type. Zuerst spioniert er die Leute aus, aalgatt und überhöflich. Der höchst oberflächliche, schmeichlerische smaltalk lässt viel mehr vom Charakter erkennen als die nichssagenden Äußerungen.


    Schließlich lässt er die Katze aus dem Sack. Doch wozu das ganze?


    Was ist das überhaupt für ein Name: Tschitschikow! Mich erinnert das an das Zirpen einer Grille. Ob das im russischen auch so empfunden wird?


    Und dann die zwei Kinder Themistoklus und Alkides.
    Themistokles war ein griechischer Feldherr und Staatsmann und Alkides war wohl eine andere Bezeichnung für Herakles. Das ist doch bestimmt kein Zufall.
    Der Wunsch der Eltern, mit der Namenswahl etwas besonderes auszudrücken, ist wohl keine Neuerscheinung der heutigen Zeit. :lache

  • Ich bin jetzt mit dem 3. Kapitel durch.


    Hier zeigt Gogol wirklich typisch menschliche Charaktereigenschaften:


    Dem ersten Geschäftspartner schmiert Tschitschikow Honig ums Maul, so dass er weich wie Butter und vertrauensseelig wird und sogar von einer edlen Freundschaft mit Tschitschikow träumt. Hier hat wohl auch die Einsamkeit nachgeholfen.


    Die zweite ist zwar wesentlich misstauischer als der erste, doch bei ihr ist die Gier das geeignete Mittel, sie zu umgarnen.
    Und das ist gerade so aktuell. Wie viele sind in letzter Zeit bei Geldgeschäften hereingefallen, weil sie auf hohe Renditen hofften.


    Eine Lehrstunde für Verkäufer!

  • Nosdrjow ist ja ein sehr liederlicher Bursche. Warum hat sich Tschitschikow bloß mit ihm eingelassen? Anscheinend trieb auch ihn die Gier, und er wollte diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen.
    Wenn das mal nicht nach hinten losgeht.


    Aber noch weiß ich immer nicht, was er genau vorhat.

  • Diese Kutschfahrten sind köstlich: erst wird erzählt, was der Insasse denkt, dann was der Kutscher denkt und zu guter letzt, was die Pferde denken.


    Und dann verheddern sich zwei Kutschen ineinander. Das ganze Dorf, außer Alte und Kinder, kommt dahergelaufen, steht grübelnd drumrum, gibt "gute" Ratschläge, mischt sich ein und macht alles nur noch schlimmer.


    Und kurz darauf nach einer flüchtigen Begegnung mit einer jungen Frau folgt dieser wunderschöne Satz:
    "Überall, allen Leiden zum Trotz, aus denen unser Leben gewebt ist, fliegt plötzlich eine schimmernde Freude vorbei, wie eine glänzende Equipage, mit goldenem Geschirr, herrlichen Rossen und funkelnden Spiegelscheiben, die unerwartet an einem entlegenen armen Dörfchen vorüberjagt, das außer den Bauernwagen nie etwas gesehen hat: lange stehen die Bauern mit weit aufgerissenen Mündern und entblößten Köpfen da, obwohl die wunderbare Equipage schon längst ihren Blicken entschwunden ist."
    Hat der Autor hier womöglich absichtlich etwas übertrieben? Denn eigentlich passt so viel Poesie gar nicht zum Rest.


    Tschitschikows nächster Geschäftspartner hat eins der Gesichter, "bei deren Vollendung sich die Natur nicht allzu viel Mühe machte ... sondern einfach mit einer Axt ausholte". :rofl


    Ist das nicht gemein! Jetzt lässt der Autor einen Bauern ein Schimpfwort sagen, will es aber dem Leser nicht sagen, weil es gar zu derb ist. Aber er hält uns an der Angel, in dem er genüsslich beschreibt, wie dem anderen ein Grinsen ewig lang nicht vom Gesicht weicht. Danach lässt er sich noch lange über die Qualität der russischen Schimpfwörter im Vergleich zu deutschen und französischen aus.

  • Im 6. Kapitel trifft Tschitschikow eine seltsame Type, ganz heruntergekommmen, geizig in Vollendung. Das ist schon kein Mensch mehr, eher eine Karikatur. Am Ende verlässt Tschitschikow fast fluchtartig den Hof und seinen äußert unappetitlichen Besitzer.


    Dafür beginnt das nächste Kapitel als völliges Kontrastprogramm. Gogol beschreibt schon fast in heroischen Worten das edle Bild eines glücklichen Familenvaters.
    Da werde ich das Gefühl nicht los, dass der Autor den Leser auf den Arm nehmen möchte und absichtlich etwas übertreibt.


    Der Grund wird dann offensichtlich. Gogol beklagt sich über den Lesegeschmack seiner Zeit, die wohl genau diese edlen Gestalten bevorzugt. Hier beweist er, dass er durchaus in der Lage ist, solches zu Papier zu bringen, es aber nicht möchte.
    Also kehrt er anschließend wieder zu Alltagssituationen zurück, die ihm genauso wichtig sind und genauso viel Tiefgang haben wie höchst lyrische Regungen der Helden, nicht ohne seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass die Nachwelt ihn besser zu würdigen weiß.

  • Jetzt habe ich aber ein Verständnisproblem.
    Tschitschikow studiert die Listen der toten Seelen, d. h. der in letzter Zeit verstorbenen Leibeigenen. Dabei malt er sich aus, was für Menschen das waren. Er stellt sich vor, dass der eine ein Schreiner auf Wanderschaft war, ein anderer ein Fuhrmann oder einer mit eigenem Laden.
    Aber das waren doch alles Leibeigene. Ich dachte, die wären aus ihrem Dorf nur kurzfristig mit Zustimmung ihres Besitzers herausgekommen. Oder waren sie vielleicht nicht von Anfang an Leibeigene? Oder waren sie so weit frei, nach ihren Fähigkeiten Geld zu verdienen, solange sie einen bestimmten Anteil bei ihrem Herrn ablieferten?


    Um wieder auf die Sprache zurückzukommen:
    Der Autor übertreibt und überspitzt, so dass seine Gestalten zu Karikaturen werden.
    Gogol hat es nicht nötig, zu erwähnen, dass seine Figuren sternhagelvoll sind. Er sagt lediglich, dass sie eine Viertelstunde brauchen, um die Treppe hochzukommen. Den Rest erledigt die Vorstellungskraft des Lesers.
    Ach, und was meint er mit einem "schottischen Kostüm"? Etwa ein Nachthemd? :rofl


    Es macht richtig Spaß, so etwas zu lesen.

  • Ja, so ist nun die bessere Gesellschaft. Erst jubeln sie einen hoch und dann lassen sie ihn tief fallen. Dabei kann er gar nichts dafür. Alles nur wegen der Gerüchte und Vorstellungen, die die Runde machen.
    Tschitschikow gelangt in den Ruf ein Millionär zu sein. Er wird von allen Seiten hofiert. Doch eine junge Frau bringt ihn völlig aus dem Konzept, und er blamiert sich tüchtig.


    Gogol beobachtet hier genau, was auf so einem Ball alles vorgeht. Er hält der Gesellschaft einen Spiegel vor. Oberflächlich, überkanditelt, falsch, neidisch.


    Und natürlich gehören zu so einer Gesellschaft Gerüchte. Das ganze 9. Kapitel widmet Gogol diesem Phänomen. Schon die Einleitung zu diesem Thema ist einfach genial. Wenn eine Frau aus ihrem Haus "flattert", um ihre beste Freundin zu besuchen, weiß der Leser schon, was folgen wird: Geschnatter!
    Dann folgt der übliche Ablauf, Einzelheiten werden kombiniert und so zu festen Überzeugungen. Innerhalb einer halben Stunde ist die ganze Stadt in Aufruhr, und das ganz ohne Telefon. Die Frauen reagieren mit Empörung, die Männer mit Verunsicherung, weil sie selbst Dreck am Stecken haben.

  • Da ich immer noch nicht weiß, was genau Tschitschikow mjt den toten Seelen vorhat, ob er wirklich nur seinen gesellschaftlichen Status verbessern will, kann ich mich noch nicht entscheiden, ob ich mich auf seine Seite schlagen soll oder nicht.
    Auf jeden Fall habe ich doch eine Erleichterung verspürt, als es ihm gelungen war, die Stadt zu verlassen.


    Jetzt zu Beginn des 11. Kapitels erfährt man zum ersten Mal etwas über seine Biographie.

  • Ich lese die kostenlose kindle-Version. Da gibt es keine Angabe zum Übersetzer.
    Allerdings ist die Leseprobe der unten stehenden, recht neuen Ausgabe identisch mit meiner.


    edit: Ich habe soeben festgestellt, dass diese Ausgabe eine Wiedergabe einer alten Übersetzung von Alexander Eliasberg (1878 - 1924) ist.

  • Zitat

    Original von made
    Ich habe soeben festgestellt, dass diese Ausgabe eine Wiedergabe einer alten Übersetzung von Alexander Eliasberg (1878 - 1924) ist.


    Alexander Eliasberg war mit Thomas Mann befreundet. In Manns Tagebüchern 1918-1921 wird er oft erwähnt, fast immer in Zusammenhang mit russischer Literatur! Einige Passagen aus den Tagebüchern habe ich gerade nachgeschlagen!

  • Zitat

    Original von Karthause
    Das wäre doch auch ein gutes Buch für eine Leserunde. Es birgt bestimmt ausreichend Potential für Diskussionen. Ich wäre, so der Termin passt, dabei.


    Vom Prinzip her wäre ich dabei, es gibt bei nur grooooße Terminprobleme :chen