'Die Stadt der Blinden' - Seiten 143 - 227

  • Plötzlich gibt es für kurze Zeit einen Wir-Erzähler, der aber gleichzeitig ein Berichterstatter ist, der korrigierend eingreift, S.150 :gruebel


    Die Zustände sind wirklich ekelhaft. Kein Wunder, dass die Frau des Arztes blind werden möchte. Sie steckt in einem großen Dilemma: sie möchte zu gern helfen, hat aber Angst, dass die Situation sie völlig überfordern könnte.


    Erstmalig erhalten die Blinden der Anstalt Nachrichten von der Außenwelt. Das ist alles andere als ermutigend. Aber jemand bringt ein Radio mit, ein Hoffnungsschimmer.


    Sehr gelungen fand ich auf S.152 die Metapher der Infiltration tausender Bäche als Verdeutlichung der Ausbreitung der Krankheit.


    Nachdenkenswert sind auch folgende Sätze:
    S.158 Wahrscheinlich sind nur in der Welt der Blinden die Dinge das, was sie wirklich sind ... auch die Menschen


    S.162 Die Angst macht blind.


    S.165/166 ... glaub doch nicht, dass die Blindheit uns besser gemacht hat, Aber auch nicht schlechter ... (Arzt/Frau)
    Gleich anschließend folgt die Schilderung von Anarchie. Die einzige Schlussfolgerung, die ich daraus ziehen kann, ist, dass alle die Eigenschaften, die sich in der Anarchie zeigen, bereits vorher im Menschen vorhanden sind.

  • made, so kann man es wohl sagen, dass in jedem Menschen die Möglichkeit zu allen Handlungen steckt. den besten und den schlechtesten. Was zum Vorschein kommt, wird zu einem großen Teil von den Umständen bestimmt.


    Interessant finde ich, dass so langsam jegliches Zeitgefühl abhanden kommt, auch für den Leser. Jedenfalls ist inzwischen einige Zeit vergangen und nichts spricht dafür, dass sich die Lage irgendwie verbessert.
    Jetzt rächt sich für alle, nicht nur die Eingeschlossenen, dass es erst viel zu spät Bemühungen gab, etwas über das Phänomen herauszufinden.


    Ich bin mit dem Abschnitt durch und es ist schließlich nicht Anarchie, die sich ausbreitet, sondern der nackte Terror. Bei einigen Stellen bleibt mir schlicht die Luft weg, so unglaublich ist es, wie sich die Situation entwickelt.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Jetzt rächt sich für alle, nicht nur die Eingeschlossenen, dass es erst viel zu spät Bemühungen gab, etwas über das Phänomen herauszufinden.


    Das scheiterte ja daran, dass auf den einberufenen Konferenzen die Fachleute reihenweise erblindeten (vor laufenden Kameras).


    Ich bin noch nicht fertig mit dem Abschnitt. Aber es schaut so aus, als ob sich zwei Gruppen bilden, jeweils mit einer Waffe und einem Sehenden, d. h. die Frau des Arztes mit Schere einerseits und der "echte" Blinde und somit fast so gut wie Sehende und eine Pistole. Es tun sich Abgründe auf.

  • Zitat

    Original von made
    Ich bin noch nicht fertig mit dem Abschnitt. Aber es schaut so aus, als ob sich zwei Gruppen bilden, jeweils mit einer Waffe und einem Sehenden, d. h. die Frau des Arztes mit Schere einerseits und der "echte" Blinde und somit fast so gut wie Sehende und eine Pistole. Es tun sich Abgründe auf.


    Während sich außerhalb der Anstalt die Gesellschaftsschichten auflösen, scheinen sie sich innerhalb der Anstalt neu zu bilden. Eine neue Gruppe hat sich zusammengerauft, die das Essen beschlagnahmt und es an die anderen Blinden verkauft. Und als da nichts mehr zu holen ist, fordern sie Frauen an, um ihnen sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Wie tief kann man eigentlich sinken? Ich frage mich, wie weit das noch gehen wird und wann wir an die Grenzen des Erträglichen stoßen?

  • Ich frage mich, wie die Blinden den Tag verbringen. Was können sie in ihrem Zimmer schon unternehmen? Miteinander sprechen? Ich habe nicht den Eindruck. Sie scheinen keine Beziehungen aufzubauen oder sich kennenzulernen. Als Leser hat man den Eindruck, alles ist genauso unpersönlich wie zu Beginn. Es findet keine Grüppchenbildung statt, keine Reibereien, wie sie entstehen müssten, wenn so viele Menschen auf so engem Raum zusammenleben müssen.

  • Die letzten Seiten dieses Abschnitts empfand ich ganz besonders intensiv:
    als die zwei Männern sich auf den Weg machen, um das Essen abzuholen, und als die Frau des Arztes Wasser holte und zuerst die Tote und dann die anderen Frauen und sich selbst wusch.
    Es steht da, dass die schlaflose Blinde "so sauber wie nie zuvor in ihrem Leben" war. :gruebel
    Reinigt der Tod die Menschen?




    (Es gab also doch Wasser, um sich zu waschen?)

  • made, ich denke, die sind alle in einem permanenten Schockzustand. Zuerst von einem Tag auf den andern blind zu werden, dann werden sie in eine Hölle verfrachtet. Nur unregelmäßiges Essen, wenn überhaupt. Himmelschreiende hygienische Zustände. Terror.
    Da hilft nur eine Art Abstumpfung.
    Oder eben Kampf. Wie Christine bin ich gespannt, wann die Mehrheit diese Alternative wählt. Denn tatsächlich haben sie nicht mehr viel zu verlieren. Gerade die Frauen nicht.


    Noch immer denke ich, dass die getroffenen Maßnahmen das Problem nur verschlimmert haben. Es ist richtig, dass das keiner wirklich vorhersehen konnte. Allerdings hätte es schon nahegelegen, sich Gedanken zu machen, was getan werden kann, wenn die Isolierung der Blinden nicht weiterhilft.


    Immer noch beeindruckt mich der wechselnde Abstand des Erzählers. Mal macht er sich eher allgemeine Gedanken über die Situation. Dann ist er wieder mittendrin in der Handlung.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Noch immer denke ich, dass die getroffenen Maßnahmen das Problem nur verschlimmert haben. Es ist richtig, dass das keiner wirklich vorhersehen konnte. Allerdings hätte es schon nahegelegen, sich Gedanken zu machen, was getan werden kann, wenn die Isolierung der Blinden nicht weiterhilft.


    Vermutlich hast du recht. Ich habe das Problem, das du oben schon erwähnt hast, Verlust des Zeitgefühls. Gerade in den ersten zwei Abschnitten hatte ich das Gefühl, dass erst wenige Tage vergangen sind. Deshalb tue ich mich schwer, die fehlenden Maßnahmen der Regierung zu werten.


    Jetzt kann man nichts mehr erhoffen. Ich gehe davon aus, dass mittlerweile maßgebliche Leute der Regierung und Verwaltung geflohen sind.


    Abstumpfung oder Kampf. Es gibt wohl keine Alternative.

  • Eigentlich glaube ich, dass inzwischen alle blind geworden sind.


    Ich habe nochmal ein wenig zurückgeblättert. Es gab ja immer mal wieder Versuche, sich auszutauschen oder Gespräche zu führen, zB der Versuch des Mannes mit der Augenklappe, alle erzählen zu lassen, wo genau sie erblindet sind. Interessant, die Beschreibung des Museumsbesuchers.
    Und gleich darauf wieder die unerträglichen hygienischen Zustände.


    Es gab schon Wasser. Offenbar wollte die Frau des Arztes nicht in den Waschraum gehen, weil da alles von Exkrementen schwamm. Sie ist in den von den "niederträchtigen Blinden" besetzten Speisesaal gegangen.
    Der Tod ist es nicht, der die Menschen reinigt, dann hätte sie kein Wasser holen müssen. Es ist für sie wohl eher ein symbolischer Akt, die erfahrene Erniedrigung und Beschmutzung abzuwaschen.
    Es ist in vielen Kulturen üblich, die Toten zu waschen und es ist für mich eine der anrührendsten Gesten bisher, dass die sehende Frau die Tote nicht für immer beschmutzt begraben wollte.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Es ist in vielen Kulturen üblich, die Toten zu waschen und es ist für mich eine der anrührendsten Gesten bisher, dass die sehende Frau die Tote nicht für immer beschmutzt begraben wollte.


    Geht mir auch so. In dieser Situation so viel Respekt vor der Toten aufzubringen, ist wirklich bewunderswert.
    "so sauber wie nie zuvor in ihrem Leben" bezieht sich vielleicht auf ihre Seele. :gruebel




    Ein Roman mit einer sehr starken Frauenpersönlichkeit (genau passend für einen anderen thread hier).

  • An den (Thread) hatte ich auch schon gedacht.


    Nein, die Reinheit der Seele ist nicht gemeint, wird gleich vorher in der Szene gesagt, in der sie sich entschließt, Wasser zu holen "denn zur Reinheit der Seele, wie man weiß, gelangt keiner von uns.
    Vielleicht ist sie so sauber wie nie im Leben, weil sie von anderen gewaschen wurde, vielleicht auch wegen der Art ihres Todes?
    Es klingt ja paradox, aber ich meine, sie ist mitgegangen, freiwillig, damit die anderen essen konnten.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Vielleicht ist sie so sauber wie nie im Leben, weil sie von anderen gewaschen wurde, vielleicht auch wegen der Art ihres Todes?
    Es klingt ja paradox, aber ich meine, sie ist mitgegangen, freiwillig, damit die anderen essen konnten.


    Du meinst, weil sie sich sozusagen geopfert hat?

  • Zitat

    Original von made


    Du meinst, weil sie sich sozusagen geopfert hat?


    Vielleicht wollte sie auch sterben? Weil die Situation für sie im Grunde schon unerträglich war, als sie noch nicht blind war, aber nun erst recht?



    Meine Eindrücke zu diesem Abschnitt:
    Die Frau ist eine ganz besondere, fast wäre ich geneigt zu sagen, von einiger Weisheit, mindestens aber von immensem Einfühlungsvermögen. Wäre sie, unterstützt von ihrem Mann, so unglaublich tätig, wären die humanen Strukturen wahrscheinlich schon eher zusammengebrochen. „Wenn wir nicht in der Lage sind, ganz wie Menschen zu leben, dann sollten wir wenigstens versuchen, nicht ganz wie Tiere zu leben“ (Seite 144), sagt sie und mir kommt es hin und wieder so vor, und nicht ganz ohne Bitterkeit, dieser Satz sollte nicht nur für die Blinden gelten.
    Sie sorgt für die Ihren, wozu in diesem Fall fast der ganz Saal gehört, in dem sie ist. Mich verwundert, dass nicht häufiger die Frage aufkommt, warum sie sich so gut bewegen kann, noch mehr aber, warum nicht häufiger die Frage gestellt wird, woher sie ihre Unermüdlichkeit nimmt.


    Im Grund genommen bin ich jetzt an einem Punkt angekommen, an dem ich am liebsten nicht weiterlesen würde, zu sehr schmerzt mich die Unerbittlichkeit des Erzählten, auch der Sarkasmus, mit dem es teilweise vorgetragen wird. Was mich weiterlesen lässt, ist im Moment die Fähigkeit Saramagos, diese Unerbittlichkeit in Worte zu fassen (wozu hier für mich auch die unterschiedlichen Stimmen gehören).
    Denn was ist eigentlich so neu an dem, was erzählt wird? Was muss man kennenlernen? Für mich: Nichts. Ist es genau das, was schon wiederholt erzählt wurde, mündlich oder schriftlich, es sind die Momente, die früher oder später in solchen Situationen auftreten, egal, ob es das Verhalten innerhalb der Gruppe oder der außerhalb stehenden Menschen betrifft. Das Herausbilden der kriminellen Strukturen, die „Unterwerfung“ in jedweder Hinsicht (als wenn nicht zumindest zu ahnen war, wohin es führen würde, wenn keine materiellen Güter zur Essensbeschaffung mehr vorhanden waren!) die immer und immer weitergehende Aufgabe moralisch/ethischen Verhaltens, die Angst, die das Verhalten des Einzelnen, der Gruppe usw. bestimmt.
    Mir kam kurz der Gedanke, ob Saramago auch Warlam Schalamow gelesen hat. Auch einer, dessen Unerbittlichkeit schmerzt, wie Eiseskälte mir fast Haut und Herz zerschnitt.


    „Die Angst macht blind... Das sind die richtigen Worte, wir waren schon blind in dem Augenblick, in dem wir erblindet sind.“ Deutlicher kann man wohl nicht werden. Blindheit als Metapher. Diese Blindheit ist keine Krankheit, trotzdem ist sie ansteckend, so wie Angst sich verbreiten kann, zur Panik wird.


    Seite 165 gibt es wieder einen Hinweis auf die Augen, in denen „vielleicht noch eine Seele existiert“ - blinde Augen, keine Seele? Herrschaft der (oder besser: einiger) Blinden, seelenlose Herrschaft? Rückverweis zu dem „Leben wie die Tiere“ und Hinweis auf die kriminelle Energie, die sich mehr und mehr aufbaut, das zumindest.

  • Lipperin, vielleicht wollte sie das wirklich. Wir haben von ihr außer ihrer Schlaflosigkeit nichts erfahren.


    Für mich neu war das Verhalten der Frauen angesichts der Zumutung durch die "niederträchtigen Blinden" in der Auseinandersetzung mit den Männern. S.205ff, das habe ich so noch nicht gelesen.