Kains Opfer - Alfred Bodenheimer

  • Alfred Bodenheimer: Kains Opfer – Kriminalroman, München 2014, Nagel & Kimche im Hanser Verlag, ISBN 978-3-312-00628-1, Hardcover mit Schutzumschlag, 223 Seiten, Format: 13,4 x 2,3 x 21 cm, Buch: EUR 18,90, Kindle Edition: EUR 14,99.


    „Ich will vor allem die Wahrheit über Nachum Berger herausfinden.“
    „Du meinst die Wahrheit über seinen Tod.“
    „Womöglich ist das miteinander verbunden. Wenn Bergers Leben anders verlief, als wir gemeint haben, könnte es auch mit seinem Tod so sein.“
    (Seite 142)


    Rabbiner Gabriel Klein von der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich arbeitet gerade an seiner Schabbatpredigt, als ihn ein Anruf der Stadtpolizei stört: Ein Mitglied seiner Gemeinde, der aus Israel stammende Lehrer Nachum Berger, ist tot in seiner Wohnung gefunden worden. „Unter Gewaltanwendung verstorben“, wie Kommissarin Bänziger sagt. Und weil die Hebräisch-Übersetzerin, die sonst für die Polizei arbeitet, derzeit im Krankenhaus liegt, wird jetzt dringend jemand gebraucht, der die Papiere es Opfers sichten kann. Ob nicht vielleicht Herr Klein …?


    Erschüttert sagt der Rabbiner zu. Berger, ein Mann Mitte 50, war ein Lehrer seiner beiden Töchter und oft in seinem Haus zu Gast. Wer sollte einen Grund gehabt haben, dem freundlichen und beliebten Pädagogen etwas anzutun? Dessen Schriftverkehr gibt dem Rabbiner allerdings zu denken. Offenbar hatte Berger ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau aus der orthodoxen Gemeinde von Rabbi Goldfarb, was ihren Ehemann zu Morddrohungen veranlasst hat. Klein ringt mit sich: Soll er der Polizei wirklich davon erzählen? Hilft er damit, ein Tötungsdelikt an einem seiner Gemeindemitglieder aufzuklären oder liefert er nur einen möglicherweise Unschuldigen ans Messer?


    Nachdem er sich dazu aufgerafft hat, Kommissarin Bänziger die Wahrheit zu sagen, wird der gehörnte Ehemann verhaftet. Klein hat so seine Zweifel: Zwischen den wütenden Drohungen des Verdächtigen und der offensichtlichen Affekttat sind Wochen vergangen. Das passt nicht!


    Zum Verdruss der Polizei uns Kleins Familie beginnt der Rabbiner nun, auf eigene Faust zu ermitteln. Er stellt das Leben des Opfers auf den Prüfstand und stößt auf ein paar merkwürdige Ungereimtheiten. Dort könnte seiner Meinung nach der Grund für die Tat weit eher zu suchen sein als bei einem betrogenen Ehemann.


    Mit demselben Eifer, mit dem Rabbiner Klein die Wahrheit zu finden trachtet, versuchen seine Gegenspieler, diese zu verschleiern. Wer denkt und handelt schneller? Bringt der Rabbi die Leute zum Reden, ehe seine Widersacher das verhindern können? Die, die Nachum Bergers Tod zu verantworten haben, sind bei diesem Wettlauf im Vorteil: Sie kennen ihren Gegenspieler, sie wissen, was sie vor ihm verbergen müssen und sie leiden nicht die gleichen Gewissensqualen wie der Rabbiner, wenn sie zu unlauteren Mitteln greifen müssen.


    An Kain und Abel erinnert ihn diese Bluttat und immer wieder gerät er ins Philosophieren. Auch über Hiob. Wer ging am Schluss wirklich siegreich aus der Wette zwischen Gott und Satan hervor? Und war’s ein Ehrentitel oder eine Beschimpfung, als Gott Hiob „einen schlichten, geraden Mann“ nannte? Hat Hiob Mist gebaut? Und ist Gabriel Klein gerade im Begriff, dasselbe zu tun?


    Eine Spur führt Klein nach Jerusalem. Dort lässt man ihn gemein auflaufen. Der Rabbiner schäumt, aber wenn er schon mal im Lande ist, kann er ja wenigstens Freunde und Verwandte besuchen. Das hätte er vielleicht ein bisschen früher tun sollen, denn nach ein paar Gesprächen sieht er klarer.


    Statt mit seinen neuen Erkenntnissen zu Kommissarin Bänziger zu gehen, lässt Klein sich zu einem riskanten Täuschungsmanöver hinreißen. Die Kommissarin hat ihn aber nicht umsonst davor gewarnt „sein eigenes Polizeibüro zu eröffnen“ …


    Am Schluss bleibt die Frage, ob Rabbiner Klein in seinem Bemühen, sämtliche Beweggründe zu verstehen und die bestmögliche Lösung für alle Beteiligten zu finden, etwas Gutes getan oder die Sache noch verschlimmert hat. Wäre der Gerechtigkeit besser gedient gewesen wenn er einfach nur seine Übersetzungen abgeliefert und den Ermittlungen ansonsten ihren Lauf gelassen hätte? Genau das aber ist ihm nicht gegeben. Er muss den Dingen immer auf den Grund gehen. Hätte die Kommissarin ihn gekannt, hätte sie ihn sicher niemals in die Polizeiarbeit hineingezogen.


    Krachende Action kann man in so einer Geschichte natürlich nicht erwarten. Rabbiner Gabriel Klein löst den Fall wie sein berühmter amerikanischer Amtskollege, Harry Kemelmans Rabbi David Small, durch Fragen und Denken. Ob es Zufall ist, dass die Familiennamen der beiden ermittelnden Rabbiner dieselbe Bedeutung haben: small = klein?


    KAINS OPFER ist intelligente Unterhaltung in einem ungewöhnlichen Umfeld. Neben der Krimihandlung erfährt man noch so einiges über Traditionen und Glauben. Unter anderem darüber, wer aus welchen Gründen zum Judentum konvertieren kann und wer nicht … und noch so allerhand.


    Im Anhang befindet sich ein zweiseitiges Glossar, das die weniger gängigen religiösen Begriffe kurz erklärt. „Insider“ mögen diese Auflistung bitte erst anschauen, nachdem sie den Kriminalroman gelesen haben. Zwei Stichwörter daraus genügen nämlich, um einen ahnen zu lassen, wohin hier der Hase läuft.


    Erfreulich zu sehen, dass der kluge Rabbiner, der ein paar sympathische menschliche Schwächen zeigt, in weiteren Fällen ermitteln wird.


    Lebt eigentlich Gabriel Kleins Vater noch, den er immer wieder mit diesen herrlich lästerlichen Kommentaren zitiert? Wenn ja, dann würde ich ihn zu gerne in einem der Folgebände kennenlernen. :grin


    Der Autor
    Alfred Bodenheimer, geboren 1965 in Basel, erhielt eine traditionelle jüdische Ausbildung und leitete Talmudhochschulen in Israel und den USA. In Basel studierte er Germanistik und Geschichte und promovierte 1993 mit einer Arbeit über die Emigration von Else Lasker-Schüler nach Palästina. Nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Israel und an der Universität Luzern und einer Habilitation an der Universität Genf kam er 2003 als Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an die Universität Basel zurück. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Publikationen.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Bodenheimers Geschichte nennt sich Kriminalroman, er handelt von der Aufklärung eines Verbrechens. Der Autor aber schreibt über viel mehr.


    Ein äußerst beliebter Primarschul-Lehrer und Angehöriger einer jüdischen Gemeinde Zürichs wird tot aufgefunden, ein Verbrechen ist nicht auszuschließen. Den Rabbiner der Gemeinde, Gabriel Klein, trifft der Tod Nachum Bergers hart, er war befreundet mit ihm. Als er von der ermittelnden Kommissarin gebeten, hebräische Notizen ins Deutsche zu übersetzen, fühlt Rabbiner Klein sich aufgefordert, Detektiv zu spielen. Das geschieht keineswegs uneigennützig noch aus der Überzeugung, einen Täter stellen zu müssen. Klein hat seine Probleme mit Nicht-Jüdinnen und –Juden. Sie verstehen nicht, was für Menschen jüdischer Prägung wichtig ist. Sie denken nicht scharf genug. Eigentlich, so seine uneingestandene Überzeugung, geht sie das gar nichts an.


    Kleins Nachforschungen und Überlegungen führen ihn zur jüdisch-orthodoxen Gemeinde Zürichs und bis nach Israel, vor allem aber immer wieder zu ihm selbst zurück. Sein Selbstverständnis als Mann, als Rabbiner steht bei diesem Fall immer wieder zur Disposition. Eitelkeit, Rechthaberei, Selbstgerechtigkeit trennt oft nur ein kleiner Schritt von echtem Können, scharfer Kritikfähigkeit und Gerechtigkeitsgefühlt. Klein überschreitet die Grenze viel zu häufig, auch die Grenze zwischen Vertrauen und Vertrauensseligkeit. Seinen Fehler bezahlt er teuer. Seine Sicht auf die Dinge ist oft so trüb und vernebelt wie der November in Zürich.


    Bodenheimer schildert einen unsicheren Mann, der sich gern in Gedankenspielen ergeht, weil ihm das erspart, Konsequenzen zu ziehen. Muß er sie ziehen, wählt er in der Regel die falsche, weil ihm das Philosophieren näher ist als die Bedürfnisse der Menschen. Er ist eher schüchtern, freundlich, aber eher gehemmt im Umgang mit anderen. Er hat Schwierigkeiten Prioritäten zu setzen vor lauter Skrupeln, andere zu behelligen und in einen wie auch immer gearteten Verdacht zu bringen. Er ist ein sperriger Held, der mehr Fehler macht, als der Sache guttut.


    Bodenheimer läßt eine beim Lesen breit am inneren Disput Kleins über bestimmte Tanach-Stellen teilnehmen. Klein beschäftigen Kains Brudermord und die Hiob-Geschichte, es ist ziemlich spannend zu verfolgen, wie durch die Einkreisung des Problems langsam der Fokus dahin verschoben wird, wo es tatsächlich liegt. Zunächst passen die Ansätze nämlich nicht zusammen. Dazu gibt es eine Handvoll der üblichen Seitenhiebe liberaler eingestellter Rabbiner gegen orthodoxe, ein bißchen Klatsch aus der Züricher Gemeinde, der verräterisch realistisch klingt und einige recht kritische Beobachtungen aus dem modernen Israel, darunter die, daß das Land eben kein säkularer Staat ist mit entsprechenden Folgen für die Menschen.


    Mit einem Protagonisten, der deutlich die Menschenfeindlichkeit der eigenen Traditionen sieht, als Überzeugter aber nicht dagegen angeht, ist ‚Kains Opfer‘ eine recht ungewöhnliche Geschichte, die nicht einfach als eine Neuauflage der Ethno-Krimis abgetan werden kann. Hier wird eine sehr fremde Welt präsentiert, mit sehr eigenen religiös bedingten Wertvorstellungen.
    Figuren sind meist nur angerissen, eher Skizzen. Bodenheimers knapper Stil paßt dazu, er konzentriert sich auf das Wesentliche, die Leserin ergänzt, sacht geleitet, den Rest. Vieles kommt mit Witz daher, aber es hat auch einen Stachel und den spürt man.
    Oft genügt ein Satz, um die Atmosphäre fühlbar zu machen, egal, ob in Zürich am See, in der Synagoge oder in Israel in einem kleinen staubigen Park kurz vor Beginn des Herbstregens.
    Und natürlich ist man am Ende auch allein aufgefordert, das moralische Dilemma zu akzeptieren. Ob man es zu klären versucht oder abtut, die Auseinandersetzung damit ist unausweichlich.
    Kein einfacher Krimi.


    Ich wünsche mir eine TB-Ausgabe davon, weil der Preis für das gebundene Buch doch abschreckt.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Vandam


    ich hatte den Eindruck, daß Kleins Vater schon tot ist. Seine giftigen Bemrkungen werden ihr Teil zu Kleins etwas angeknackstem Selbstbewußtsein beigetragen haben.
    Ich schätze, man wird auch in weiteren Bänden - gerade erschien der zweite - noch einiges davon hören.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich habe es befürchtet. Im Teil 2 wird's dann klar ausgesprochen.


    Schade eigentlich. Ich fand den ollen Giftnickel interessant. Er erinnert mich an jemanden.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Zitat

    Original von magali


    Ich wünsche mir eine TB-Ausgabe davon, weil der Preis für das gebundene Buch doch abschreckt.


    Die Taschenbuchausgabe des ersten Bandes erscheint im Frühjahr 2016.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übrsihd

    :lesend Claire Winter Die geliehene Schuld :lesend Kirk A. Denton The Columbia Companion to modern Chinese Literature

  • Vandam


    :lache




    beowulf


    Danke. Hatte ich tatsächlich nicht entdeckt.


    Ich hoffe auf viele Leserinnen.
    Leser auch. Aber es hat seinen Grund, daß ich das Buch besodners Leserinnen empfehle.


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ich mache mich gerade an die Erforschung, warum magali das Buch besonders den Leserinnen empfiehlt.


    Einfach lesen, dann kommst du drauf. Ich freu mich auf die TBausgabe, denn das Buch ist schon seit Vandams Rezi auf meiner WL


    Die sind immer besonders interessant.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ich habe im Juli überhaupt keine Bücher gekauft und dachte mir, ich darf mich dafür mit ein paar Hardcovern belohnen. :-]


    OT Ich war vorhin bei rebuy und hab mir den Korb voll gemacht, Kains Opfer haben sie nicht vorrätig. Leider fiel mir dann ein, dass ich nächste Woche nicht da bin und kein Paket annehmen kann.
    Hatte schon über 10 Bücher von meiner WL im Korb :rolleyes Naja, übernächste Woche dann.

  • Eine Geschichte zum mit- und weiterdenken. Ich erhalte Einblicke in eine sehr stark von Religion geprägte Welt, die mir sehr fern ist.
    Trotzdem sprechen mich die bekannten Geschichten des Alten Testaments und die neuen Gedanken dazu sehr an. Sowohl Kains Brudermord als auch Hiobs Prüfungen sind schließlich Themen, die sehr menschlich sind und in immer neuen Kontexten auftauchen.


    Mir erscheint übrigens Rabbi Kleins Vater als rechtes Schlitzohr. Teilweise sicher auch bitter und zynisch, hat mir ein Spruch sehr gut gefallen:
    "Der liebe Gott weiß alles und kann alles sehen - und er weiß auch, wann er mal wegsehen kann." (S. 178)