• Unschlüssig steht Ulrike in der Küche. Auf der Arbeitsplatte vor ihr sind mehrere Dosen Katzenfutter und eine angebrochene Schachtel Trockennahrung aufgereiht, daneben liegen zwei Futternäpfe aus Edelstahl.
    Sandra kommt erst Montag Abend zurück. Vielleicht sollte sie die Sachen doch schon wegbringen? Über das Futter freut man sich sicher im Tierheim, auch wenn es nur ein paar Dosen sind. Aber was soll sie mit der Katzentoilette anfangen? Und was ist mit dem Kratzbaum und diesem fürchterlichen Gummitier, das ständig im Weg zu liegen scheint, egal wohin man geht - haben die Katzen im Tierheim überhaupt Spielzeug?
    Ulrikes Finger spielen nervös mit dem rosa Gummitierchen. Sandra, ihre Tochter, ist so fürchterlich sentimental. Ständig sammelt sie irgendwelchen Krimskrams als Andenken. Sie fährt für zwei Wochen an die Ostsee und kommt mit einer Tasche voller unsinniger Dinge zurück: eine zerknüllte Eintrittskarte, ein Beutelchen voller Sand oder eine Serviette aus irgendeinem Café. Sicher wird sie auch das lächerliche Gummispielzeug aufbewahren wollen, jetzt, wo die Katze tot ist. „Papas Abschiedsgeschenk", so hat Sandra die schwarze Katze immer genannt. Sandras heiß und innig geliebte Rabenschwarze – 17 Jahre hat das Kind die Katze überall mit hin geschleppt. Sogar ins Studentenwohnheim! Nun ist die Katze also fort. Ulrike seufzt und legt das rosa Schweinchen zurück neben die Näpfe. Es ist kühl in der Küche und sie fröstelt.
    Das Telefon klingelt, und Ulrike geht rasch in die Diele. Doch als sie vor dem Apparat steht, nimmt sie nicht ab. In der dämmrigen Diele wartet sie, bis das Klingeln verstummt. Wenn der Anruf von Sandra kam, hätte sie es ihr erzählen müssen. So hat sie noch 3 Tage Zeit, das Unsägliche in Worte zu kleiden. Die Erleichterung, die sie bei diesem Gedanken empfindet, lässt sie verächtlich auflachen.
    „Herrje, Ulrike. Nun wirst du schon genau so gefühlsduselig wie das Kind!" Der Klang ihrer eigenen Stimme, nicht laut aber energisch, beruhigt sie. Morgen Nachmittag wird sie das Katzenfutter zum Tierheim bringen. Kratzbaum und Katzentoilette kommen in den Keller, beschließt sie. Vielleicht fände sich später noch eine Verwendung dafür.
    Mit wenigen Handgriffen sammelt Ulrike ihre Habseligkeiten zusammen und zieht sich ihre Jacke über. Neben dem Schirmständer am Fuß der Treppe steht der leere Transportkorb. Der Geruch nach Erbrochenem hängt noch immer in der Luft. Vermutlich hat die Tierarzt-Helferin den Korb nicht ganz ausgewischt. Ulrike behagt die Vorstellung keineswegs, das Erbrochene einer Katze aus dem Plastik-Gitter zu wischen.
    „Weg mit dem Ding in den Müll", murmelt sie halblaut und hält den Korb so weit wie möglich von sich weg. Sie will sich auf keinen Fall ihr Kostüm bekleckern. Die ganze Geschichte ist auch ohne ruinierten Rock unerfreulich genug.
    Zum Glück ist Sandra in Dresden und weiß von nichts.



    Samstag Morgen fährt Ulrike zurück zum Haus ihrer Tochter. Sie hat unruhig geschlafen. Der unappetitliche Vorfall mit Sandras Katze hat alles wieder aufgewühlt. Hans Tod und Sandras Anschuldigungen. Sie, die Mutter, sei Schuld am Unfalltod des Vaters. Die Worte ihrer Tochter hatten Ulrike damals tief verletzt. Ihre eigene Trauer ließ es nicht zu, ihrem Kind den nötigen Trost zu spenden. Freunde versicherten Ulrike, Sandra wäre zu jung, um den Verlust des geliebten Vaters anders zu überwinden. Käme sie erst einmal in ein vernünftiges Alter, sähe sie ein, wie unhaltbar ihre Vorwürfe tatsächlich waren. Sandra jedoch blieb auch nach Hans' Tod ein Vaterkind, unerreichbar für Ulrike. Zwei lange Monate sprachen beide kaum das Nötigste miteinander, dann kam Sandras zwölfter Geburtstag.
    Auf dem Küchentisch lagen glänzend im Licht der Kerzen zwei Edelstahlnäpfe und daneben eine Spielzeugmaus. Sandra hatte erst ungläubig auf den Tisch gestarrt und sich dann urplötzlich in die Arme ihrer Mutter geworfen.
    „Papa hat es dir doch versprochen!", hatte Ulrike gestammelt und ihre Tochter endlich in den Arm genommen.



    Um die Tür zu öffnen, muss sie den Karton absetzten. Als sie sich wieder aufrichtet, ist ihr plötzlich elend zu Mute. Immer wieder muss sie an Hans auf der Intensivstation denken. Sie hätte Sandra damals ins Krankenhaus mitnehmen können. Sie hätte lügen können. Wer hätte Sandra denn angesehen, dass sie noch keine 12 Jahre alt war?
    Und sie hätte Sandra vom Tierarzt aus anrufen können.
    Ulrike kommen die Tränen, ohne dass sie weiß, warum. Jetzt wünscht sie sich, sie hätte den Transportkorb nicht in den Müll geworfen.
    Sie sitzt auf der Treppe, den Karton Katzenfutter auf dem Schoß, und weint.
    Die Katzentür klappert und eine Katze kommt herein. Sie setzt sich aufrecht in den Flur und blickt lange zu Ulrike herüber. Gelassen blinzelt sie und beginnt, sich das schneeweiße Fell zu putzen.
    Ulrike wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie starrt die Katze verwundert an. Sandra hätte niemals eine zweite Katze verschwiegen. Und die Rabenschwarze hätte sowieso keinen zweiten Artgenossen mehr in ihrer Nähe geduldet.
    Nachdem die Katze mit der Fellpflege fertig ist, sieht sie wieder zu Ulrike herüber. Dann steht sie auf und läuft in die Küche.
    Ulrike hört ein forderndes Miauen. Nachdenklich schaut sie auf die Dosen im Karton. Auf eine mehr oder weniger kommt es dem Tierheim sicher nicht an. Sie geht in die kleine Küche, wo die Katze erwartungsvoll vor der Arbeitsplatte sitzt und miaut. Mit ungeübten Handgriffen öffnet Ulrike eine Dose und füllt das Futter in den Napf. Die Katze streicht schnurrend um ihre Beine. Ulrike stellt den Napf auf den Boden. Die weiße Katze beschnuppert das Futter und beginnt schnell, aber nicht gierig zu fressen.
    Ulrike betrachtet das Tier neugierig. Das Fell glänzt und wirkt weich. Vorsichtig streicht sie der Katze über den Rücken. Ja, das Fell ist weich und gepflegt.
    „Ein Streuner bist du nicht."
    Als Ulrike spricht, sieht die Katze kurz zu ihr auf und leckt dann weiter den Napf aus.
    Nach der Mahlzeit streckt sich sie sich und läuft zielstrebig in das Wohnzimmer. Ulrike geht ihr neugierig nach. Die Katze sitzt vor der Terrassentür und schaut zum Griff hoch. Als sie Ulrike bemerkt, miaut sie.
    Ulrike spürt, wie ihr kalt wird. „Genau wie die Rabenschwarze", denkt sie. Langsam geht sie zur Glastür. Die Katze bleibt sitzen und beobachtet die Hand, mit der Ulrike zögernd den Türgriff dreht.
    Sobald die Tür weit genug geöffnet ist, windet sich die weiße Katze durch den Spalt und läuft unruhig maunzend auf der Terrasse umher.
    Fröstelnd verschränkt Ulrike die Arme vor der Brust. Sie sieht die weiße Katze und denkt an die schwarze ihrer Tochter, die sich in den letzten elf Tagen genau so verhalten hat. Selbst das leise gurrende Miauen, mit der die weiße Katze nun den Garten absucht, klingt in Ulrikes Ohren wie die Laute von Sandras Katze.
    „Sandra ist nicht da, du brauchst sie nicht zu suchen", ruft Ulrike leise. Die Katze bleibt stehen und sieht zu ihr herüber. Der kurze Schwanz zuckt unruhig hin und her. Dann springt das Tier plötzlich mit langen Sätzen zur Hecke und verschwindet.
    Ulrike schließt die Glastür, wäscht das Futterschälchen aus und fährt nach Hause.



    Am Sonntag fährt Ulrike erst am Abend zum Haus ihrer Tochter. Sie will das Katzenfutter holen, das sie am Vortag vergessen hat. Insgeheim weiß sie, dass dies nur ein Vorwand ist. Die weiße Katze will ihr nicht aus dem Sinn.
    Als sie vom Carport zur Haustür geht, sieht sie sich verstohlen um, kann die Katze aber nirgends entdecken.
    Im Haus ist es still. Ein kleines Lämpchen am Anrufbeantworter blinkt.
    Sie hat Sandra noch nicht angerufen. „Morgen Abend ist Sandra wieder da", denkt Ulrike. „Es macht keinen Sinn, ihr den letzten Tag in Dresden zu verderben."
    Sie setzt sich auf die Treppe und wartet. In der Diele wird es langsam dunkel.
    Schließlich kommt Ulrike sich lächerlich vor, wie sie da im Haus ihrer Tochter darauf wartet, dass die Katze noch einmal zurück kehrt. Sie steht auf, macht das Licht an und hört den Anrufbeantworter ab.
    Sandras Stimme klingt ein wenig verzerrt aus dem Lautsprecher. „Hallo Mama, ich wollte mich nur kurz bei dir melden, um zu hören, wie es euch beiden geht. Wir sehen uns dann Montag. Tschüß."
    Als Ulrike sich umdreht, sitzt die weiße Katze an der Treppe und schaut zu ihr auf. Sie maunzt. Ulrike weicht erschrocken einen halben Schritt zurück. „Sandra kommt erst morgen", flüstert sie.
    Die Katze blinzelt, reckt sich und huscht auf leisen Pfoten durch die Katzentür davon.



    Montag fährt Ulrike nicht zu Sandras Haus. Sie hat weder den Kratzbaum, noch die Katzentoilette in den Keller geräumt. Und sie hat das Katzenfutter nicht ins Tierheim gebracht.
    Am Abend holt sie Sandra vom Bahnhof ab. Sie gehen gemeinsam zum Parkplatz und ihre Tochter erzählt munter von ihrer Zeit in Dresden.
    „Wie bist du mit der Rabenschwarzen zurecht gekommen?", fragt Sandra, als ihr die bedrückte Einsilbigkeit ihrer Mutter auffällt.
    Ulrike findet die Worte nicht.
    „Ganz gut", wehrt sie ab.
    Erst als mit dem Auto im Carport vor Sandras Haus stehen, bricht es aus Ulrike heraus.
    „Die Katze ist tot."
    Sandra starrt ihre Mutter fassungslos an. „Was?"
    Ulrike spielt mit dem Autoschlüssel. „Sie wurde krank. Ich hab' sie zum Tierarzt gefahren."
    „Wieso hast du mich nicht angerufen?", fragt Sandra tonlos.
    Ulrike weiß keine Antwort. Stumm sieht sie zu, wie ihre Tochter weinend aus dem Auto steigt, ihr Gepäck nimmt und zum Haus geht. Sandra schließt die Haustür auf und geht hinein. Sie sieht nicht zu ihrer Mutter zurück.
    Ulrike lehnt mit geschlossenen Augen im Autositz. Sie versucht, nicht an Hans' Tod oder Sandras zwölften Geburtstag zu denken. Es gelingt ihr nicht.
    Schließlich wischt sie sich müde über die Stirn, startet den Motor und fährt vorsichtig aus dem Carport. Im Rückspiegel sieht sie etwas Weißes durch die Blumenbeete huschen und in der Katzenklappe an Sandras Tür verschwinden.
    Da weiß Ulrike, dass alles gut ist. „Auf Wiedersehen, Rabenschwarze" flüstert sie.

  • Ich hab selbst Katzen und mag nie wieder ohne sein. Sie sind für mich schon eine Art Therapeute und können alleine durch ihre Anwesenheit heilende Energie schicken...

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

  • Berührende Geschichte in schöne Worte gekleidet, Tilia. Schöner Gedanke, dass die Schneeweiße Sandra über den Verlust der Rabenschwarzen hinweg helfen könnte :-]

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Wirklich sehr schön :bluemchen


    Habe selber Katzen und liebe sie so sehr, deswegen hat mich deine Geschichte so berührt. Vielleicht schreibst du ja irgendwann noch eine? :-)

    Ich wünsch Dir den Wind im Rücken, der Dich antreibt und die Sonne im Gesicht, die Dich wärmt.