Literaturclub auf 3Sat

  • Quelle: SRF.ch

    Literaturclub im Februar | 01.02.2022, SRF 1


    Michel Houellebecq: «Vernichten». DuMont, 2022

    Kurz vor den französischen Präsidentschaftswahlen 2027 taucht im Netz ein Video auf, das die Hinrichtung des möglichen Kandidaten Bruno Juge zu zeigen scheint. Paul Raison ist Absolvent einer Elitehochschule und arbeitet als Spitzenbeamter im Wirtschaftsministerium. Als Mitarbeiter und Vertrautem Juges fällt ihm die Aufgabe zu, die Urheber des Videos ausfindig zu machen. Im Laufe seiner Nachforschungen kommt es zu einer Serie mysteriöser terroristischer Anschläge, zwischen denen kein Zusammenhang zu erkennen ist. Aber nicht nur die Arbeit, auch das Privatleben von Paul Raison ist alles andere als einfach. Er und seine Frau Prudence leben zwar noch zusammen, aber sie teilen nichts mehr miteinander. Selbst die Fächer im Kühlschrank sind getrennt. Während Juge um seine Kandidatur kämpft, kann Paul entscheidende Hinweise für die Aufklärung der Anschläge liefern. Doch letztlich verliert Juge gegen einen volksnahen ehemaligen Fernsehmoderator, und die Erkenntnisse aus Pauls Recherche sind nicht minder niederschmetternd für die Politik des Landes. Als Paul von seiner Arbeit freigestellt wird, kommt es zu einer Annäherung zwischen ihm und seiner Frau und die beiden finden wieder zueinander. Ein unerwartetes, wenn auch fragiles Glück …


    ASIN/ISBN: B09LBBWT36


    Yazmina Reza: «Serge». Hanser, 2022

    Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existentielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.


    ASIN/ISBN: 3446272925


    Hiromi Ito: «Dornauszieher». Matthes & Seitz, 2021

    Da ist der kränkelnde, dreißig Jahre ältere Ehemann, ein jüdischer Künstler, da sind die drei Töchter mit Essstörungen und Pubertätssorgen, die kranken Eltern, und das Ganze im ständigen Hin und Her zwischen Kalifornien und Japan, wo die Autorin eine berühmte Dichterin ist. Der Alltag einer Frau, die alle Mühe hat, ihre Rollen als einzige Tochter, als Ehefrau und Mutter, als Schriftstellerin und als Intellektuelle auszubalancieren. Ein Leben voller Energie und Nachdenklichkeit, ein Leben zwischen den Kulturen, Generationen, dem vertrauten Gestern und dem lebendigen Heute. Eindringliche Stimmungen und kompakte Naturschilderungen wechseln sich ab mit absurden Situationen. Davon berichtet Hiromi Ito in ihrem ganz eigenen, stark vom mündlichen Erzählen geprägten Ton, mit Anklängen an Märchen, buddhistische Legenden, Literatur aus Ost und West, bis hin zu moderner Lyrik, Rap und Werbeslogans. Kein Wunder, dass Japans bekannteste Frauenaktivistin, die Soziologin Chizuko Ueno, in ihrem Nachwort zum Roman schrieb: »In der Sackgasse? Da hilft nur eins – Hiromi Ito!«


    ASIN/ISBN: 3751800344


    Annie Ernaux: «Das Ereignis». Suhrkamp, 2021

    Oktober 1963: Die 23-jährige Annie entdeckt, dass sie schwanger ist. Die Studentin aus bescheidenen Verhältnissen weiß: Wenn sie ein uneheliches Kind zur Welt bringt, wird sie alles verlieren. Das hart erkämpfte Universitätsstudium, die Hoffnung, dem engen, prekären Milieu der Eltern zu entkommen. Sie ist entschlossen, die Schwangerschaft zu beenden, aber im Frankreich der 1960er Jahre ist Abtreiben illegal, und so beginnt für die junge Frau ein Spießrutenlauf, der sie von der Praxis eines überheblichen Arztes, ins Hinterzimmer einer zweifelhaften Engelmacherin führt und schließlich in der Notaufnahme endet. Voller Scham versucht Annie, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und begegnet dabei überall erschreckender Gleichgültigkeit.

    Wie ist es, wenn man als Frau abtreiben will und es nicht darf? Mit schonungsloser Offenheit erzählt Annie Ernaux von ihrem eigenen Schwangerschaftsabbruch. Und von den Demütigungen, Verletzungen und Stigmatisierungen, die sie dabei erleiden musste – und die bis heute nachhallen.


    ASIN/ISBN: 3518225251

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    Familienangelegenheiten: Neue Bücher von Michel Houellebecq, Yasmina Reza, Hiromi Ito und Annie Ernaux


    Nicola Steiner, Martin Ebel, Laura de Weck und – als Gast – die chinesisch-schweizerische Schriftstellerin und Autorin Wei Zhang diskutieren über «Vernichten» von Michel Houellebecq, «Serge» von Yasmina Reza, «Dornauszieher» von Hiromi Ito sowie über «Das Ereignis» von Annie Ernaux.

  • Die Folge war wieder einmal sehr interessant, z.B. sind die Kritiker bei Houlllebecq durchaus verschiedener Meinung, gehen aber gut miteinander um. Das schätze ich.


    Die Kritiker sind Laura de Weck, Martin Ebel, Nicola Steiner und als Gast die wirklich großartig Wei Zhang.



    Mit dem Buch von Yasmina Reza hatte ich meine Schwierigkeiten,was sich im Urteil der Kritiker widerspiegelt. Gut gemeint, nicht passend gemacht.



    Von der Besprechung von Hiromo Itos starken Buch Dornauszieher war ich begeistert.



    Auch die Diskussion über das Buch von Annie Ernaux war sehr interessant, aber ob ich es lesen möchte, weiß ich nicht.

  • Dann werde ich es mir mal anschauen. Wei Zhang war vor Jahren mal in Leipzig suf der Buchmesse, als sie ihr eigenes Buch vorstellte.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")

  • Die nächste Sendung:

    8.3.2022, 22:25 - 23:45 Uhr auf SRF


    Zitat

    Nicola Steiner, Elke Heidenreich, Philipp Tingler und – als Gast – die Schweizer Literaturkritikerin Sieglinde Geisel diskutieren über «Die Nächte der Pest» von Orhan Pamuk, «Tell» von Joachim B. Schmidt, «Meine Schwester» von Bettina Flitner sowie über «Nachts wach» von Berthe Arlo. (Quelle: SRF)


    Orhan Pamuk - Die Nächte der Pest


    Kann eine alles erschütternde Katastrophe die Menschen einen? Der neue große Roman des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk
    Als im Jahre 1901 auf Minger die Pest ausbricht, beschuldigen sich Muslime und Christen gegenseitig. Ob nun die Pilger aus Mekka den Erreger eingeschleppt haben oder die Händler aus Alexandrien, auf der Insel herrschen chaotische Zustände. Als schließlich der Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf Minger auf sich allein gestellt. Orhan Pamuks neues Buch ist einzigartiger Abgesang auf das von Nationalismus und Aberglaube gefährdete Osmanische Reich sowie ein großer historischer Roman, in dem sich Phantasie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West raffiniert verbinden.


    ASIN/ISBN: 3446270841


    Joachim B. Schmidt - Tell


    Joachim B. Schmidt greift nach den Schweizer Kronjuwelen und macht aus der ›Tell‹-Saga einen Pageturner, einen Thriller, ein Ereignis: Beinahe 100 schnelle Sequenzen und 20 verschiedene Protagonisten jagen wie auf einer Lunte dem explosiven Showdown entgegen. Keine Nach-, keine Neuerzählung, sondern ein Blockbuster in Buchform: ›The Revenant‹ in den Alpen, ›Braveheart‹ in Altdorf.


    ASIN/ISBN: 3257072007


    Bettina Flitner - Meine Schwester


    Kann ein Buch einen Lebensschmerz überwinden? Ja.

    Als die Fotografin Bettina Flitner vor einigen Jahren vom Suizid ihrer geliebten Schwester erfuhr, waren die ersten Reaktionen Schock, Lähmung und Verzweiflung. Doch dann entschied sie sich zum Erzählen. Das Ergebnis ist ein tief bewegender, meisterhafter Text, ein Buch der Befreiung.

    Mit einem an der Fotografie geschulten, unbestechlichen Blick, voller Hingabe, Witz und Traurigkeit erzählt Bettina Flitner die Geschichte einer innigen Geschwisterbeziehung: eine Kindheit der 70er Jahre, die Jahre auf der Waldorfschule, die Erinnerung an die charismatischen Großeltern, darunter ein berühmter Reformpädagoge, der Vater ein Kulturmanager und Exponent des links-liberalen Bildungsbürgertums der alten BRD, ein Jahr in New York, die Ferien auf Capri, die ersten Liebesabenteuer in der Pubertät. Und dann die Risse: die Überforderung der Kinder durch das Leben der Eltern im Zeichen sexueller Libertinage, die Flucht der Mutter in die Depression, die unerfüllbaren Berufserwartungen der Eltern an die Töchter. Bettina Flitners Buch ist ein bewundernswert mutiger Schritt, sich den Gespenstern der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen, sich von diesen zu befreien und so den Tod geliebter Menschen verarbeiten zu können. Ein Buch über ein Thema, das für viele Menschen immer noch von Tabus und Schweigen besetzt ist.


    ASIN/ISBN: 3462002376


    Berthe Arlo - Nachts wach


    „Eine Lektüre, die man nicht mehr vergisst.“ Sieglinde Geisel

    Berthe Arlo erzählt in tagebuchartigen Erzählungen von der Realität des Sterbens, von der Überforderung der Pflegenden – und auch von der Unverschämtheit mancher Heimbewohner. Sie lässt kein Tabu aus: Einerseits ist es die ungeschönte, geradezu brutal geschilderte Realität, andererseits ein oft poetischer Text, manches hat einen surrealen Touch, und man denkt unwillkürlich an Dostojewskis Aussage, dass nichts fantastischer sei als die Wirklichkeit. Man möchte das nicht lesen, und doch kann man nicht mehr aufhören: Könnte es meinen Eltern auch einmal so gehen, oder mir selbst? Der Text ist dreißig Jahre alt, denn damals arbeitete die heute über 80-jährige Autorin als Nachtpflegerin in einem Pflegeheim. Erstaunlicherweise hat sich an den Verhältnissen nicht viel geändert. Dies verleiht dem Text eine fast unheimliche Aktualität und es steigert den Respekt vor Pflegenden immens.


    ASIN/ISBN: 3948631204

  • Ich habe schon viele Bücher von Orhan Pamuk gelesen. Ihn auch einmal bei einer Lesung im Berliner Renaissance-Theater erlebt, sass ihm dabei fast zu Füssen (toller Platz in der 2. oder 3. Reihe).

    Schade nur fand ich, dass alle Kommunikation über einen Dolmetscher lief. Pamuk sprach nur Türkisch. Dabei weiss ich, dass er mehrere westeuropäische Sprachen spricht...

    "Die Nächte der Pest" liegen hier bereits bei mir. Die ersten Seiten habe ich gelesen und freue mich auf mehr, aber werde wahrscheinlich erst Ende des Monats dazu kommen den Roman ruhig zu lesen.