Lars Mytting: Die Birken wissen’s noch

  • Lars Mytting: Die Birken wissen’s noch
    Insel Verlag 2016. 516 Seiten
    ISBN-13: 978-3458176732. 24,95€
    Originaltitel: Svøm med den som drukner
    Übersetzer: Hinrich Schmidt-Henkel


    Verlagstext
    Auf einem entlegenen Bergbauernhof im norwegischen Gudbrandstal wächst Edvard mit seinem wortkargen Großvater Sverre auf. An seine Mutter hat er nur eine vage Erinnerung – an einen Duft, ein Gefühl von Wärme, einen blauen Rock. Denn die Eltern sind ums Leben gekommen, als Edvard drei Jahre alt war. Um ihren Tod wird ein Geheimnis gemacht, und auch um den Ort, an dem sie starben. Zu diesem Geheimnis gehört auch das Schicksal Einars, des Bruders des Großvaters. Edvard weiß nur, dass er ein Meistertischler war und als junger Mann zur Ausbildung nach Paris ging. Dass er seine Werkstatt mitsamt dem Wald von Flammenbirken zurückließ. Dass für den Großvater ein Sarg geliefert wurde, lange vor dessen Tod – ein Stück Kunsttischlerei, wie es noch nie jemand gesehen hat –, und dass Einar womöglich gar nicht tot ist, wie es der Großvater behauptete. Als dieser gestorben ist, macht Edvard sich auf die Suche nach dem Geheimnis seiner Familie. Es wird eine lange Reise, an deren Ende er mehr als nur ein Geheimnis kennt. - Die Geschichte einer verzweifelten Suche nach der Mutter, dem Vater, den eigenen Wurzeln – und einer Reise, die Edvard durch fremde Länder führt und dessen Familiengeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasst: das Jahrhundert der großen Tragödien.


    Der Autor
    Lars Mytting, geboren 1968, stammt aus Fåvang im Guldbrandsdalen in Norwegen. Zuletzt erschien „Der Mann und das Holz. Vom Fällen, Hacken und Feuermachen, eine kleine Kulturgeschichte des Holzes“. „Die Birken wissen´s noch“ ist sein dritter Roman. Mytting ist selbst begeisterter Holzfäller und Kaminofenliebhaber und hat erst kürzlich seine ramponierte Motorsäge Partner 500 Professional in Pension geschickt und sich eine Husqvarna 353G angeschafft.


    Inhalt
    Solange sich Edvard erinnern kann, hat er mit seinem Großvater Sverre auf dem Hof bei Saksum im norwegischen Gudbrandstal gelebt. Als Edvards Eltern vor vielen Jahren verunglückten, nahm Sverre Hirifjell seinen Enkel an die Hand, adoptierte ihn offiziell und erzog ihn als Nachfolger für den Hof. Großvater Sverre hat im Dorf keinen leichten Stand, seit er im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger auf der Seite der Deutschen gekämpft hat. Auch Edvard bekam die Abneigung der Nachbarn zu spüren.


    Der 23-Jährige ist ein etwas zu ernsthafter und pflichtbewusster Mann, als Sverre stirbt. Edvard lebt - getrennt von Sverre - im Altenteil, das für den Altbauern gedacht ist, nachdem der den Hof an seinen Nachfolger übergeben hat. Einzige bescheidene Vergnügen sind neben den Pflichten des Landwirts das Angeln und das Fotografieren mit einer Leica, zu der er sich jedes Jahr weiteres Zubehör kauft. Edvard kennt das Glücksgefühl, direkt hinter dem Hof bergan zu marschieren und vom Berg aus hinab auf das Land und den Hof zu blicken, dessen Namen er trägt. Er kennt aber auch die leise Unruhe, weil Großvater Sverre den Hof möglichst nicht verlässt, um ein Geheimnis zu bewahren, das er vor seinem Enkel verbirgt. Edvard fehlt ein Stück aus den Erinnerungen an seine Kindheit. Als seine Eltern verunglückten, tauchte der unverletzte kleine Edvard erst nach mehreren Tagen wieder auf. Nach Sverres überraschendem Tod ist für Edvard nun der Weg frei, die Familiengeheimnisse zu erforschen.


    Beunruhigt ist Edvard, dass er so wenige Erinnerungen an seine Mutter hat, mit der er als Kind Französisch gesprochen hat. Spannend wird seine Spurensuche, als Edvard Widersprüche entdeckt in Sverres Erzählungen über Großonkel Einar, der angeblich 1944 im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Einar sollte als ältester Sohn den Hof erben, ging dann jedoch für seine Ausbildung als Kunsttischler nach Frankreich. Den Birkenwald, auf den sich der deutsche Buchtitel bezieht, hat Einar angelegt, um gezielt Flammenbirkenholz zum Kunsttischlern wachsen zu lassen. Edvard entdeckt, dass Einar für die Résistance in Frankreich aktiv war und noch lange nach dem Krieg als Tischler auf einem winzigen Inselchen der - ehemals norwegischen, heute schottischen - Shetland-Inseln lebte. Einar hinterlässt für den Jungen etwas unvorstellbar Kostbares, das er so raffiniert versiegelt und verriegelt, dass man als Leser daran zweifelt, ob Edvard den Weg zu Einars Vermächtnis überhaupt entschlüsseln kann. Dazu muss der junge norwegische Bauer tief ins Handwerk seines Onkels eintauchen und in Ereignisse auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.


    Fazit
    Edvards Spurensuche nach der eigenen Kindheit, sowie dem Schicksal seiner Mutter und seines Großonkels bettet Lars Mytting in eine raffinierte Schnitzeljagd durch mehrere Länder und nach Ereignissen fast des gesamten 20. Jahrhunderts ein. Mit Lars, Einar und Edvard schafft er wunderbare Figuren, deren Schicksale wohl kaum jemand unberührt lassen werden. In den Details zur Landwirtschaft, zum Tischlern und zu den historischen Ereignissen zeigt Mytting sich als akribischer Rechercheur. Zum Glück bin ich kein Kunsttischler und muss nicht beurteilen, ob die geschilderten Abläufe Hand und Fuß haben. Wenn Edvard fotografiert und entwickelt, haben die Dinge jedenfalls Hand und Fuß – und allein darin unterscheidet sich Lars Mytting von einer Reihe seiner Autorenkollegen. Stilistisch und mit seinem raffinierten Plot ist der Roman ein ganz großer Wurf. Dass Lars Mytting mit diesem Buch berühmt wird, wie das Dagbladet hofft, wünsche ich ihm aufrichtig.


    °°°°
    Zitate
    In jener Nacht kam der Tod zurück zum Hirifjell-Hof. Es war klar, wen er holen würde, viel Auswahl gab es nicht. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, und wenn ich später an jenem Sommer dachte, wurde mir klar, dass der Tod nicht immer ein blinder und grausamer Schlächter ist. Es kommt vor, dass er die Schlüssel ordentlich wieder hinlegt, bevor er geht. Dennoch ist er ein Gast, der alles umstürzt.“ (S. 19)


    Ich rollte den Film auf die Filmentwicklungsspirale, tat ihn in den Entwicklungstank, öffnete die Luke und kroch hinaus. Dann stellte ich den Tank auf die Küchenbank. Und dachte: Jetzt wird es ernst. Du hast nur eine Chance. Im Kessel machte ich Wasser warm. Hielt das in der Apotheke gekaufte Thermometer hinein. Zu warm. Noch etwas kaltes Wasser. Da. Zwanzig Grad. Rasch mischte ich den Entwickler an und füllte ihn in den Tank. Stieß den ein paarmal auf die Bank, damit es keine Luftblasen gab, setzte mich hin und wartete. Jetzt gab es keinen Weg zurück. Elf Minuten ohne jede andere Tätigkeit. Elf Minuten, nicht zehn, nicht zwölf. Jeweils nach drei Minuten drehte ich den Tank um und gab ihm einen kleinen Schlag. Jetzt. Zeit zum Abgießen. Die Flüssigkeit hatte sich dunkel verfärbt. Ein gutes Zeichen. …“ (S. 372)


    10 von 10 Punkten, gern auch 11

  • Die Birken wissen´s noch - Lars Mytting


    Rückseite:
    Abenteuerroman, Familienchronik, Liebesgeschichte -
    und ein grosses Loblied auf das Holz.


    »Eine tragische und überraschende Geschichte über die Liebe zum Holz, über Familiengeheimnisse und die Suche nach der eigenen Identität. Über Trauer, Verlust und Liebe ... Wenn ›Der Mann und das Holz‹ Lars Mytting nicht längst berühmt gemacht hat – dieser Roman wird dafür sorgen.«
    Dagbladet


    Über den Autor:
    Lars Mytting ist ein norwegischer Lektor, Journalist und Autor.


    Über den Übersetzer:
    Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.


    Mein Eindruck:
    Dieses großartige Buch habe ich gerade durch und stehe noch ganz unter dem Eindruck des gelesenen. Zum Glück gibt es schon eine Rezension, daher brauche ich die relativ komplexe und teilweise komplizierte Geschichte nicht noch einmal im Detail zusammenfassen.


    Dabei ist die Handlung eigentlich nicht so viel anders als bei anderen generationsübergreifenden Familienromanen inklusive einem großen Geheimnis, das weit in der Vergangenheit fußt. Was macht diesen Roman dann so besonders und herausragend? Es liegt natürlich in erster Linie an dem Ton, den der norwegische Autor Lars Mytting besitzt. Ruhig, geerdet, warm wie Holz, emphatisch mit den Figuren, dabei realistisch.
    Wald, Bäume und was aus dem Holz entsteht wird einbezogen, das bildet einen wichtigen Untergrund für den Roman.
    Außerdem hat Lars Mytting mit dem Icherzähler eine interessante Figur geschaffen. Wie Buchdoktor schon anmerkte, ist er ernsthaft und pflichtbewusst. Er ist ein zurückhaltender Typ, der, in den Bergen Grönlands als Kartoffelbauer und Schafzüchter aufgewachsen, eigentlich in sich ruht. Aber der Umstand seiner Herkunft und dem unklaren Tod seiner Eltern, als er erst drei Jahre alt war, lassen ihm keine Ruhe und so tritt er nach dem Tod seines Großvaters Sverre eine Reise an, die in eine lange Spurensuche um das alte Geheimnis mündet.


    Lars Mytting schreibt detailreich, aber nie beliebig. Man kann seinen Figuren gut folgen, er meidet die im Genre des Familienromans beliebten Klischees und schreibt daher nachhaltiger. Es ist ein Buch, das mich als Leser beschäftigt hat und das gedanklich nachwirkt.

  • Von Lars Mytting habe ich bis jetzt noch nichts gelesen. Die Birken wissen´s noch ist sein dritter Roman. Der Autor hat ein Faible zu Holz. Witzig fand ich die Autorenbeschreibung mit dem Satz „Vor Kurzem hat seine ramponierte Motorsäge Partner 500 Professional in Pension geschickt und stattdessen eine Husqvarna 353G erstanden „ das sagt doch alles.
    Der Einband ist schön gestaltet, fühlt sich gut an und der Birkenstamm passt zum Roman.


    Dieser Roman ist eine Familiengeschichte über drei Generationen mit Geheimnissen.
    Edvard wächst auf einem Bergbauernhof in Norwegen bei seinen Großeltern auf. Seit er drei Jahre alt ist lebt er bein ihnen, da sind seine Eltern gestorben. Der Großvater Sverre ist ein wortkarger Mann. Edvard hat viele Fragen, aber die werden nicht beantwortet.


    Als der Großvater stirbt entdeckt Edvard einige Anhaltspunkte und der alte Pfarrer erzählt ihm einiges. Sverre und sein Bruder Einar hatten sich entzweit. Einar war ein begnadeter Kunsttischler.
    Edvard findet Briefe Einars an seine Mutter, da stellen sich wieder Fragen ein.
    Er versucht mehr über Einar und seine Eltern zu erfahren und sucht auf den Shetland Inseln und in Frankreich nach Hinweisen.
    Das ist eine tragische Geschichte. Langsam erinnert er sich an kleine Einzelheiten, viel ist es nicht, er war damals doch zu jung, aber er geht allem nach und entdeckt vieles. Seine Suche ist ein großes Abenteuer und es gibt viele Geheimnisse zu entdecken.
    Die Geschehnisse vom ersten bis zum zweiten Weltkrieg ziehen durch den Roman und sind schicksalshaft mit der Familie verbunden.
    Ein wirklich interessanter fesselnder Roman. Lars Mytting schreibt ruhig und spannend und einfühlsam. Man taucht in die Geschichte ein und empfindet alles fast mit, sogar das Wetter auf den Shetlandinseln, konnte ich fühlen.


    Ich kann den Roman empfehlen, eine gute Lektüre.

  • Ein Meisterwerk!


    Lars Mytting? Das Gudbrandstal in Norwegen? Nie gehört! Ich kann nur raten: Unbedingt lesen. Denn was der Autor hier schafft befördert Lars Mytting in meinen ganz persönlichen Buch Olymp. Und wie so oft in der Literaturgeschichte muss der Protagonist raus aus der Provinz, weg von Birken und Kartoffelacker, um sich den eigenen Dämonen und der Geschichte seiner Familie zu stellen.


    Edvard ist erschüttert vom Tode des Großvaters. Er ist verwundert über den Sarg, in dem der Tote zu seiner letzten Ruhe gebettet werden soll. Denn dieser wirkt wie ein Gruß aus ferner Zeit, eine künstlerisch aufwendige Arbeit, die eigentlich nur Einar zugeschrieben werden kann. Dem angeblichen toten Bruder des Verstorbenen. Und schon steht der Leser in einer der spannendsten Familiengeschichte, die ich seit langem gelesen habe. Auf den ersten siebzig, achtzig Seiten baut der Autor sehr geschickt und wie ich finde, sehr skandinavisch, also etwas spröde, sein Personal auf, diese Menschen sind nicht einfach nur verschwiegen, sie sind eigen, wahre Originale, so beschreibt Mytting die Einwohner. Dafür sind diese Menschen beseelt, ohne Frage, die ganze Story ist beseelt. Sehr emotional und gleichzeitig verdammt nüchtern, immer dicht an der Realität.


    Der Roman ist nur so gespickt mit winzig kleinen Details, deren Auflösung im Lauf der Geschichte eine ungeheure Wirkung entfalten. Ich frage mich immer noch, ob sich viele der Ereignisse auch so in der Vergangenheit zugetragen haben können.


    Es geht zurück in die Grausamkeiten des ersten und Zweiten Weltkriegs. Und dieses fürchterliche Erlebnis in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bedeutet nicht nur für Edvard eine Zäsur. Es geht auf die Shetland Inseln, England, nach Frankreich und Deutschland spielt keine zu unterschätzende Rolle, allerdings nur als Reich der Bösen. Die Geschichte ist gut durchdacht. Sehr gut erzählt und von einer Unberechenbarkeit die mich sprachlos gemacht hat. Ein ungeheuer facettenreicher Roman, voller abenteuerlicher Ausflüge und Rochaden. Eine Erkenntnisgeschichte, denn vom anfänglich so spröden Edvard platzen die Schalen der Erinnerung ab, bis nichts mehr als er selbst übrig ist und nichts als die Wahrheit übrig bleibt.


    Ich bin begeistert!

  • Dieses Buch hat mir rundherum sehr gut gefallen:


    Der Titel weckt sofort Gedanken an ein fragendes Stimmchen, "Was wissen sie denn wohl, diese Birken?", das Cover ist wirklich hochwertig gestaltet und sieht nicht nur gut aus sondern liegt während des Lesens auch äußerst angenehm in den Händen, und der Inhalt stand beiden positiven Empfindungen in keiner Weise nach.
    Wir erfahren nicht nur sehr viel über Bäume, Holz, Anbau und Verarbeitung, sondern auch über die Menschen, die nicht nur durch das Holz alle auf eine gewisse Weise miteinander verbunden sind.
    Wir reisen mit dem sympathischen Protagonisten von seiner abgelegenen Gegend in Norwegen nach Großbritannien und Frankreich und erfahren auch, auf welche Weise Deutschland in die Handlung verwoben ist.
    Wir erleben in verschiedenen Handlungssträngen die Auswirkungen der Geschichte Europas im vergangenen Jahrhundert auf die jeweils im Mittelpunkt stehenden Personen, es handelt sich hier um den Protagonisten und seine Vorfahren und die Menschen, mit denen sie - in erster Linie durch das Holz - verbunden waren.


    10 Punkte!